Editorial

Potenziale der Landwirtschaft

Eigentlich gäbe es kaum ein Gebiet, das nicht zur Landwirtschaft gehöre – so Rudolf Steiner zum Auftakt seines Kurses für Landwirte. Sie sei nach allen Seiten mit dem größten Umkreis des menschlichen Lebens verwachsen.

Wir haben uns heute an ein hochspezialisiertes Agrargewerbe gewöhnt, getrieben von der industriellen Ökonomie und einer Wissenschaft, die es als interdisziplinär begreift, wenn der Bodenwissenschaftler mit dem Pflanzenzüchter spricht. Das hat gewisse Effizienz­vorteile, verödet aber auf der sozialen Ebene die ruralen Regionen.

Früher konnte bei der Landwirtschaft noch jeder mittun, helfende Hände – da war jede im Dorf willkommen. Landwirtschaft war Gemeinschaftssache. Heute ist sie eine private Unternehmung, Umsatz und Rendite – oft außerlandwirtschaftlich vorgedacht – bestimmen ihre Gestalt. Wie passen da noch pflegende Aufgaben dazu? Natur, ok, darum kümmern wir uns, wenn´s Subventionen gibt, oder wenn man einfach nicht anders kann, wie die meisten Ökobauern. Menschen integrieren, Inklusion im landwirtschaftlichen Betrieb leben, ist da eine weitaus größere Herausforderung und nur für einen Teil der Betriebe überhaupt denk- und machbar. Das reicht von der Beschäftigung ungelernter, wenig begabter bis hin zu einem gezielten betrieblichen Angebot für Menschen mit Assistenzbedarf. Meist sind es Einrichtungen für diese Menschen, die Landwirtschaft und nachgelagerte Bereiche, sowohl als Therapiefeld wie als ökonomisches Standbein betreiben.

Denn Landwirtschaft bietet da Potenziale, wenn sie nicht zu spezialisiert und technisiert organisiert ist: vielfältige Tätigkeiten, unterschiedliche, nach Leistungsfähigkeit einteilbare Gewerke zum einen und Aufgaben, deren Sinn sich unmittelbar anschaulich erschließen kann, wenn Tiere Futter, die Küche Gemüse oder der Ofen Holz brauchen. Die Wahrnehmung von Lebendigem bewegt die Seele und das Kümmern um das anvertraute Leben, ob Pflanze oder Tier, stärkt die eigenen Kräfte, neben dem generell positiven Einfluss des Naturerlebens. Von daher sind Landwirtschaft und Gartenbau prädestiniert für pädagogische und therapeutische Angebote, bieten auch die Möglichkeit für Menschen mit Assistenzbedarf, in gewissem Umfang selbstständig zu arbeiten.

Dazu muss die Arbeit anders als nach allein rendite- oder marktökonomischen Kriterien eingerichtet werden. Dadurch, dass die Arbeit langsamer mit mehr Arbeitskräften verrichtet wird, sind andere Dinge möglich als in einem durchrationalisierten Betrieb, egal ob der nun ökologisch ist oder nicht. Hier tut sich eine Qualität sozialer Landwirtschaft für die Landwirtschaft selbst auf, die oft auch der Natur zugute kommt. Beispiel Heckenpflege. Oder erinnern wir uns an Allerleihrauh, den Vorgänger der Bingenheimer Saatgut AG – wo mit der Arbeit der Betreuten das Sortieren und Abpacken von Saatgut möglich wurde. Oder an den erfolgreichen Anbieter von Reinigungsmitteln Sonett, der eng mit dem Lehenhof zusammenarbeitet. Der andere Blick auf den Sinn von Arbeit ermöglicht Freiräume, es kann anders über Landwirtschaft und Ökonomie nachgedacht werden.

Durch die Vielfalt, die solch Soziale Landwirtschaft anlegt, bildet sich eher ein weiteres soziales Netz als um einen rein produzierenden Hof, letztlich belebt diese Art Landwirtschaft auch die ländliche Region. Doch auch Soziale Landwirtschaft spezialisiert sich hierzulande, gibt entweder dem Therapeutischen oder dem Produzieren den Vorrang. Im letzten Jahrzehnt hat sich viel getan im Bereich der Sozialen Landwirtschaft: es gibt neue Ausbildungen für begleitende Fachkräfte (s. S. 49), ein aktives Netzwerk und sogar europaweiten Austausch, eine Koordination und Vermittlungsstellen für Betriebe und Menschen mit Assistenzbedarf. Und, die sozialen Potenziale der Landwirtschaft sind im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen, z.B. in Form der Sozialen Landwirtschaft sowie des sozioökonomischen Hintergrundes von Ernährungsthemen.

 

Ihr