Hintergrund

Kurz & knapp

  • Anthroposophische Tiermedizin geht von einem bestimmten Verständnis der Natur und der Lebewesen aus, das hier geschildert wird.

  • Ihre Therapie setzt an Ungleichgewichten der vier Wesensglieder bzw. der drei Funktionsebenen der Tiere an.

  • Die Wahl der eingesetzten Mittel beruht auf einer Verwandtschaft zum Krankheitsprozess.

Prinzipien der Anthroposophischen Tierheilkunde

von Jörg Spranger

 

Anthroposophische Tiermedizin ist eine regulative Therapieform, die durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Tieres und seiner Umwelt krankheits­vor­beugend arbeitet und gezielt Selbstheilungskräfte anregt. Sie erweitert die naturwissenschaftliche Medizin um nicht-materielle Aspekte des Lebendigen, Seelischen und Geistigen.

 

Den Tieren gegenüber tragen wir eine besondere Verantwortung. Aus anthro­posophischer Sicht sind unserer heutigen Erde frühere Entwicklungsstufen vorangegangen, in denen jeweils bestimmte Vorläufer der Menschheit angelegt wurden. Die Resultate dieser durchlebten Erdentwicklung sind noch heute vorhanden: Das heutige Mineralreich entstammt der ältesten Vorstufe, unser heutiges Pflanzenreich der folgenden, die Tiere sind die letzten Vorläufer unserer eigenen Entwicklung. Die eigentliche Menschheitsentwicklung findet erst hier innerhalb der aktuellen Erdenphase statt. Die vor uns entstandenen Naturreiche haben uns die Belastung bestimmter Einseitigkeiten abgenommen. Dies ermöglichte es uns überhaupt, Menschen zu werden. Die daraus resultierende Dankbarkeit der Tierwelt gegenüber ist eine der wesentlichen Grundlagen für das Mensch-Tier-Verständnis der anthroposophischen Tiermedizin.

Die Natur: in vier Reiche gegliedert

Die oben genannten Naturreiche sind in der anthroposophischen (Tier-)Medizin von essenzieller Bedeutung, denn sie finden sich wieder in einem Grundprinzip des Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung, der Viergliederung. Das einfachste der Naturreiche ist das Mineralreich. Es ist unbelebt und existiert nur materiell, physisch und chemisch. Das nächsthöhere Naturreich ist das Pflanzenreich. Es ist natürlich mit einem stofflichen Leib versehen, zusätzlich jedoch in Besitz der Lebenskraft, welche die Materie durchdringt und belebt. Diesen Begriff verwendet übrigens auch Hahnemann, der Begründer der Homöopathie. Hier gelten nicht nur die rein physischen Gesetze: bei den Pflanzen bilden sich Zellen, Organe, eine Physiologie, Stoffwechseltätigkeit, es gibt Leben und Tod.

 

Im nächsthöheren Naturreich, dem Tierreich, finden wir wiederum den (mineralischen) physischen Leib und den (pflanzlichen) Lebens- oder Ätherleib. Darüber hinaus zeichnet sich das Tierreich aus durch die Durchdringung der belebten Materie mit einem seelischen Leib, der die Qualität des Empfindens, die Gefühlswelt mit sich bringt. Durch die Beseelung entwickeln sich Sinnesorgane, die nicht nur physiologische, sondern auch innere, seelische Reaktionen auf die Gegebenheiten der Umwelt zulassen.

 

Zu diesem physischen, belebten und empfindsamen Wesen kommt beim Menschen zusätzlich das Ich, das Selbstbewusstsein, Entscheidungsfähigkeit, Erkennen von Richtig und Falsch, kurz: der Geist hinzu. Bei den Warmblütern ist offensichtlich auch eine Ich-Organisation angelegt, die je nach Tierart mehr oder weniger zur Individualisierung neigt, aber nicht die Ausprägung erlangt wie beim Menschen. Bei Haus- und Hobbytieren tritt an die Stelle dieses unvollständig ausgeprägten Wesensgliedes oftmals das Ich des Tierhalters, das bei der Diagnose des Wesensgliedergefüges und auch bei den therapeutischen Maßnahmen zu berücksichtigen ist.

Der Körper: drei Wesensglieder

Ein weiterer Grundbaustein der anthroposophischen Human- und Tiermedizin ist die so genannte Dreigliederung der höchstentwickelten Spezies. Hier wird die Vielzahl möglicher Eigenarten, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Organ- und Körperbildungen bei Mensch und Tier drei übergeordneten Organ- und Funktionsbereichen zugeordnet. Es sind dies erstens der Kopf-Nerven-Sinnesbereich, zweitens das rhythmische Herz-Kreislauf-Lungen-Atmungssystem sowie drittens der Gliedmaßen-, Fortpflanzungs-, Verdauungs- und Stoffwechselbereich. Wir finden diese Dreigliederung im Tierreich ebenso wie im menschlichen Organismus als Nerven-Sinnespol, rhythmischen Pol und Stoffwechsel-Gliedmaßenpol. Jedoch tragen die Tierarten diese Pole, die bei uns im Gleichgewicht miteinander stehen, meist mit sehr starker Überbetonung eines der drei Systeme in sich.

 

Nager und Vögel sind Vertreter des Nerven-Sinnespols. Diese Tiere sind unglaublich nervös, extrem wach. Natürlich haben diese Tiere auch ein rhythmisches System sowie Stoffwechsel und Gliedmaßen, für ihr Wesen aber von nachrangiger Bedeutung. Nager sind in der Regel nicht ausdauernd (schwacher rhythmischer Pol), Vögel verrichten ihre Verdauung schnell und oberflächlich (schwacher Verdauungspol).

 

Die Fleischfresser Hund und Katze sind eher Exponenten des rhythmischen Systems, das heißt, bei ihnen sind die Atmung und der Kreislauf betont. Die Leistung ist hier kräftig, gleichmäßig, ausdauernd, von harmonischem Verlauf. Die Ausprägung von Verdauung und Stoffwechsel ist mäßig, die der Sinnestätigkeit in der Regel gut, manchmal in sogar Einzeldisziplinen überragend.

 

Die klassischen Vertreter des Gliedmaßen- und Stoffwechselsystems sind alle unsere Nutztiere, die wir im Stall halten: Pferd, Rind, Schaf, Ziege, Schwein. Sie alle sind schon als Gliedmaßentiere erkennbar durch die Huf- oder Klauenbildung und als Verdauungs- und Stoffwechseltiere durch besondere Bildungen von Magen und Darm. Sie sind durch diese beiden Bereiche, Gliedmaßen und Stoffwechsel, am wesentlichsten bestimmt.

 

Nach dieser groben Zuordnung lassen sich die einzelnen Tierarten innerhalb der oben charakterisierten Haupt-Tiergruppen weiter differenzieren, beispielsweise anhand dessen, welche Funktionen des Gliedmaßensystems oder des Stoffwechselsystems wie weit perfektioniert, vereinseitigt und dominant sind. Für jede Spezies ergibt sich so eine arttypische Hierarchie von Merkmalen, die der Wesenhaftigkeit der Art entspricht. Jede Tierart hat demnach eine eigene artspezifische „Mitte“, die von der harmonischen körperlichen Ausgeglichenheit, wie wir sie beim Menschen finden, abweicht, aber dennoch für das betreffende Tier Gesundheit bedeutet. Die tiermedizinische Diagnostik und Therapie fußt auf dieser Analyse sowohl der funktionellen Dreigliederung als auch des Wesensgliedergefüges (Viergliederung) beim erkrankten Tier.

Heim-, Hobby- und Nutztiere

Unsere Patienten, Nutz-, Heim- und Hobbytiere, muss man sich als jeweils selbständige Subspezies einer Tierart vorstellen, die zwar eng mit der jeweiligen Wildtierart verwandt sind, aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden dürfen. Grundlage der Domestikation war es, das Wesentliche einer Spezies, ihre in Urzeiten entstandenen artbestimmenden Hauptmerkmale, in der Haustierpopulation züchterisch weiter zu perfektionieren. Dies bedeutet eine noch weitere Vereinseitigung der Haustiere gegenüber ihren wilden Verwandten, allerdings eine prinzipiell artgemäße. Die Wiederkäuer wurden wegen ihrer Fähigkeit zur optimalen Strukturverdauung in die menschliche Kultur genommen, der Wolf wegen seines wachsamen Rudelverhaltens zum Hund usw. Diese überragenden Artmerkmale arbeiteten die Züchter in Richtung weiterer Perfektionierung heraus. Der Preis dafür war ein paralleler Verlust an weniger willkommenen Eigenschaften der Ausgangsart, eine fortschreitende Einengung auf wenige Spezialleistungen.

 

Durch die Hereinnahme der Haustiere in die Kulturentwicklung ist in gewisser Weise menschlicher Geist in diese Subpopulation der jeweiligen Spezies eingeflossen. Die Ich-Anlage der Haustiere besteht also aus zwei Komponenten: den inneren Bedingungen der Ursprungsart wie auch den inzwischen inkorporierten Intentionen des tierhaltenden Menschen. Insofern stehen Haustiere zwischen dem eigentlichen Tierreich und dem Menschen. Sie sind dadurch auch ein wenig heimatlos. Haustiere sind aus dem Gesamtzusammenhang des Tierreiches ein Stück in Richtung menschlicher Kultur herausgelöst worden. Das hat den Nachteil, dass sie ihre Anbindung an die Natur verloren haben und sich blind darauf verlassen müssen, dass menschliche Fürsorge diese Defizite kompensiert.

 

Tierhaltung impliziert also Pflichten: Auf physischer Ebene die Haltung, auf physiologischer Ebene die Fütterung, auf psychischer Ebene Zuwendung, Pflege und auf geistiger Ebene die Zucht. Wenn der Mensch sich daraus zurückzieht, wie wir uns das heute durch zunehmend automatisierte Haltungsformen erlauben, entsteht ein Vakuum. Die Haustiere können erlittene physische, physiologische und psychische Defizite nicht geistig kompensieren. Das ist eine der Hauptursachen für Erkrankungen von Haustieren.

Gesundheit

Gesundheit bedeutet, dass erstens die vier Wesensglieder harmonisch miteinander verbunden sind und sinnvoll zusammenarbeiten (Viergliederung), und zweitens die oben genannten drei funktionellen Bereiche ausgewogen mit- und ineinander wirken (Dreigliederung). Hier sind die physischen und psycho-sozialen Einflüsse der Tierhalterschaft von maßgebender Bedeutung für die Erhaltung dieses äußerst labilen Fließgleichgewichts (Homöostase). Selbstverständliche Voraussetzung ist die Gewährleistung einer physischen Umwelt, die genau den materiellen, physiologischen und psychischen Anforderungen der Rasse und Nutzungsrichtung entspricht, die im individuellen Bestand oder Haushalt gehalten wird. Das Tier bzw. der Tierbestand kann seine spezifische Mitte unbeeinträchtigt ausleben.

Krankheit

Dementsprechend bedeutet Krankheit, dass das oben genannte Gleichgewicht so gestört ist, dass der Organismus das nicht mehr kompensieren kann. Krankheiten von Haustieren sind stets Folgen von Fehlern der betreuenden Menschen, sieht man von Unfall, Unglück und Naturkatastrophen ab. Das Heim- und Hobbytier wird tendenziell vermenschlicht, seelisch überbeansprucht, körperlich überversorgt und entwickelt in der Folge ein der Humanmedizin ähnliches Erkrankungsmuster (Tumore, Allergien etc.). Nutztiere werden seelisch vernachlässigt und körperlich überfordert, wodurch sie aus ihrer spezifischen Mitte weiter in menschenferne Richtung erkranken (proliferative chronische Entzündungen von Uterus, Klauen usw.).

Heilung

Heilung erfolgt in der Regel dreiphasig: Kurzfristig durch die optimale medikamentöse Therapie, mittelfristig durch Korrektur der krankheitsverursachenden Faktoren (Fütterung, Haltung, seelisch-geistige Fehlhaltungen der Tierhalterschaft), langfristig durch systematische Sanierung von Betriebs-, Anbau- und Zuchtkonzept. Sie setzt die Diagnose und Therapie des spezifisch gestörten Wesensgliedergefüges voraus (Viergliederung) wie auch die Harmonisierung überschießender oder insuffizienter Funktionsebenen (Dreigliederung). Typ- und Konstitutionsmittel helfen, das erkrankte Tier / den Tierbestand wieder in die verloren gegangene spezifische Mitte zurückzuführen.

Heilmitteltherapie am Beispiel Zinn

Ausgangspunkt für den Einsatz von Heimitteln ist die Erkenntnis, dass Mensch, Tier-, Pflanzen- und Mineralreich durch eine gemeinsame Entwicklung miteinander verbunden sind und dass Krankheitsprozesse des Menschen und der Tiere normalen Prozessen in der übrigen Natur verwandt sind. Die Idee dieses therapeutischen Prozesses sei hier am Beispiel des Verhaltens des Zinns in der Natur und der Krankheitserscheinung der degenerativen Gelenkserkrankungen kurz erläutert. Zinn weist von Natur aus im Vergleich zu anderen Metallen nur eine kleine Temperaturspanne (0 bis 161 °C) auf, in der es in einem stabilen festen Zustand vorliegt. Unterhalb dieser Temperatur zerfällt es in kleinste Einzelteile, oberhalb verflüssigt es sich. Degenerative Gelenkserkrankungen zeichnen sich durch einen Mangel an „stabilem festem Zustand“ aus, sei es durch eine Art Zerfall (Arthrose) oder durch einen hypersekretorischen „verflüssigenden“ Entzündungsprozess (Arthritis). Nicht selten treten beide Krankheitserscheinungen miteinander vergesellschaftet auf. Die Vorgänge, die im Zinn einen Naturprozess repräsentieren, tauchen also bei Mensch und Tier als Krankheitsprozess auf. Zinn wird hier als Heilmittel eingesetzt, um den Organismus auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Dies nicht wegen seiner chemisch-physikalischen Wirkungsweise, sondern wegen seiner prozessualen Verwandtschaft zur Krankheit.

Grundgedanke der Therapie

Das therapeutische Geschick besteht darin, den Krankheitsprozess des Menschen und des Tieres als entsprechenden Naturprozess zu erkennen und das entsprechende Heilmittel aus dieser Natur zu seiner Gesundung einzusetzen. Die anthroposophische Heilmitteltherapie verwendet diejenigen mineralischen, pflanzlichen oder tierischen Substanzen, deren natürliche Entstehungsprozesse dem diagnostizierten Ungleichgewicht der Wesensglieder oder Funktionssysteme im erkrankten Organismus entsprechen. Man nutzt besondere Beziehungen (Affinitäten) zwischen bestimmten Stoffen und den verschiedenen Wesensgliedern sowie die besondere Wirksamkeit (Topismen) spezifischer Heilmittel auf gewisse Gewebe, Organfunktionen und körperlich-seelische Konstitutionen. Von überragender Bedeutung sind in der anthroposophischen Tiermedizin die Organpräparate (potenziertes Gewebe gesunder Organe gesunder Spendertiere) und spezielle Mistelzubereitungen in der Therapie chronisch degenerativer Erkrankungen. Die Art der Zubereitung des Arzneistoffes, einschließlich der Möglichkeit zur Potenzierung (homöopathisches Prinzip) und der sinnvollen Kombination, ist Voraussetzung für dessen optimale Wirkung im kranken Organismus. Hinweise zur Ratio der anthroposophisch-tiermedizinischen Heilmittelfindung und -anwendung werden in einem gesonderten Beitrag dargestellt (s. S. 38).

Dr. Jörg Spranger ist Tierarzt und Herausgeber des:

Lehrbuch der anthroposophischen Tiermedizin, Sonntag Verlag in MVS, Stuttgart 2007.