Hintergrund

Der Mensch ist die Art und Weise, wie sich die Erde denkt

Das Anthropozän verlangt von uns mehr als nur Nachhaltigkeit

Fragen an Dr. Andreas Weber

 

Herr Weber, mit ihrem Buch Enliven­ment plädieren sie für eine neue Kultur im Umgang mit dem Leben­digen: eine neue Denkepoche soll die der Aufklärung ablösen. Warum?

 

Das, was Sie eine neue Denkepoche nennen, soll die Aufklärung nicht ablösen, sondern integrieren und erweitern. Viele Errungenschaften der Aufklärung sind ja weiter lebens­wichtig – die Menschenrechte oder die Demokratie. Aber die Aufklärung hat vor allem die Ratio befreit. Somit sind Effizienz und Emotions­losigkeit ebenfalls ihr Erbe, auch der „homo oeconomicus“, der keine wirklichen Gefühle hat und nur nach Mehrwertsteigerung giert. Aber das sind wir nicht! Wir fühlen. Wir haben einen Körper, eine Geschichte, einen Ort. Wir brauchen also innerhalb der Aufklärung eine Eman­zipation des fühlenden Körpers, unserer Fähigkeit, uns zu verbinden und dadurch wirklich autonom zu werden. Dieser Gegensatz Natur-Kultur, den die Aufklärung zementiert hat, ist heute nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das ist auch eine Folge dessen, das wir inzwischen ins „Anthropozän“ eingetreten sind. Was Menschen auf der Erde tun, hat unmittelbaren Einfluss auf die anderen Lebewesen, auf die Stoffkreisläufe. Es ist so, als hätten wir eine planetarische Psychosomatik entdeckt: „Oh, wir sind ja gar nicht nur Kultur, wir haben auch einen Körper!“ Diesen Körper gilt es wieder lebendiger werden zu lassen – und das heißt auch, uns mehr zu erlauben, dass wir emotional präsent sind und nicht nur im Kopf.

 

Sie kritisieren das Konzept der Nachhaltigkeit. Warum taugt es nicht?

 

Nachhaltigkeit ist ein Effizienzkonzept. Es stammt aus demselben Denken wie der Neoliberalismus, nur dass es nicht Konzerne bereichern, sondern Rücklagen für die Biosphäre schaffen soll. Schon als der Begriff eingeführt wurde, wirkte er verheerend, das haben wir nur vergessen. Nachhaltigkeit wurde in der Forstwirtschaft erfunden und bedeutete im Neunzehnten Jahrhundert die Umgestaltung der deutschen Wälder, den Ersatz von Eichen und Buchen durch schnellwachsende Fichten und Kiefern. Das war nicht nur der Tod vieler Ökosysteme, sondern auch das Ende der Waldweide. Die arme Landbevölkerung musste in die Städte abwandern und sich als Lohnsklaven verdingen. Nachhaltigkeit gehört als Effizienzbegriff dem an, was ich die „Ideologie des Toten“ nenne: dem Denken, dass diese Welt in ihrem Innersten aus unbeseelten Partikeln besteht, die sich durch dauernden Wettbewerb optimieren. Darin gleichen sich ja die Vorstellungen, die sich Ökologie und Ökonomie von der Welt machen: Alles steht in einem Optimierungswettkampf und das Beste wird selektiert. So ein Denken bringt uns dann die „Grüne Ökonomie“, bei der wir mit den „Dienstleistungen“ der Natur Geld verdienen wollen. Aber all das übersieht, dass diese Welt nicht tot ist, sondern lebendig. Wenn wir nicht verstehen, dass diese Lebendigkeit, die immer auch eine Empfindung, eine Erfahrung ist, das Zentrum der Biosphäre bildet, übersehen wir den wichtigsten Aspekt. Kein Wunder, dass wir sie dann zerstören.

 

Die Biologie gilt als die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Ist die Forschung da nicht bereits auf dem richtigen Pfad?

 

Die Biologie gilt deshalb als Leitwissenschaft, weil viele Biologen glauben, dass sie so sehr ins Leben eingreifen können, dass daraus die nächste industrielle Revolution entsteht. Weil das Leben kontrolliert werden soll, um es zu einem Wirtschaftsfaktor zu machen. Und mit dieser Nutzung sollen dann die großen Probleme gelöst werden, die Ernährung und die Gesundheit. Aber die Modelle, denen die meisten Biologen folgen, sind die der Maschine und des Computers. Für sie existiert keine Dimension der Bedeutung, der Erfahrung, der Unvorhersehbarkeit. Aber diese gehören ebenfalls zum Leben. Sie lassen sich jedoch schlecht beherrschen. Die Superunkräuter, die durch die grüne Gentechnik entstehen, sind da ein gutes Beispiel.

 

Alles Leben fühlt, alles Leben ist verbunden, das fordert viel Rücksicht gegenüber der Natur bzw. anderen Arten: Macht das den Menschen wieder unfrei?

 

Sind wir denn heute frei? Es ist eine alte Illusion, dass wir glauben, dadurch, dass wir alles haben könnten, wären wir frei. Wir sind doch eher an unsere Süchte und Begierden gekettet. Frei ist, wer seine spezifische Eigenheit so entfaltet, dass er dadurch das Ganze, in dem er existiert, vergrößert, oder von diesem Ganzen begehrt wird. Jeder Mensch ist ja schon dadurch, dass er ein Körper ist, unfrei: Stillen wir nicht dessen Bedürfnisse, werden wir krank. Weil wir Körper sind, also Teil der Welt, sind unsere Bedürfnisse an die der Welt gekoppelt. Die totale Befreiung ist ein typisch aufklärerisches Denk­relikt, das den Körper vergisst, und mit dem Körper die ganze Biosphäre. Freiheit, so würde Friedrich Schiller sagen, ist aber immer die Einsicht in die Notwendigkeit, heißt, mit dem, was wir haben, so umzugehen, dass es lebendig wird.

 

Was könnte das Konzept des Enlivenment für die Landwirtschaft bedeuten?

 

Jedes Ökosystem folgt dem Grundsatz der größtmöglichen Lebendigkeit. Darum entstehen mit der Zeit immer mehr Arten. Lebendigkeit heißt, dass so viele Erfahrungsweisen wie möglich ausprobiert werden, so viele Verbindungen wie nur denkbar. In unserer eigenen Erfahrung schlägt sich das als Schönheit nieder, als das, was uns selbst lebendig werden lässt. Eine lebendige Landschaft ist eine Landschaft, die wir fühlen können, in der wir uns fühlen dürfen, in der Nutzen und Glück nicht länger getrennt sind. Lebendigkeit zulassen heißt darum auch, dass wir anderen Wesen keine Kontrolle aufzwingen. In dieser Idee ist jedoch enthalten, dass wir uns nicht der Illusion hingeben, dass wir den Tod abschaffen können. Leben heißt, dass wir uns immer von anderem Leben ernähren müssen. Es heißt, dass wir selbst essbar sind. Konkret müssten wir also unseren Umgang mit Nutztieren und –pflanzen eher wie ein Ökosystem organisieren. Die Permakultur schlägt genau diesen Weg ein: Ackerbau nicht als kontrollierte Pflege, sondern als gemeinsamer Weg.

 

Auch Ökobauern stehen in den Zwängen der (Bio-) Ökonomie und diskutieren gerade, wie es mit Bio weitergehen soll. Wie passt Ihr Ansatz in diese Branche?

 

Landwirte sollen ja auch ernten. Sie sollen das aber nicht als ein Abschöpfen von Ressourcen verstehen, sondern als eine Phase in einem Austausch zwischen Menschen und Erde bzw. dem jeweiligen Ökosystem. Früher wussten sie das. Nur, in einer Wirtschaftsform, die davon lebt, dass sie das Lebendige verbraucht und in den Besitz einiger weniger verwandelt, ist das schlecht einzurichten. Wir brauchen also ein ganz neues Denken, wie der Austausch zu organisieren ist. Allmende ist das Stichwort hier. Eine Wirtschaft, die nicht ausbreitet, sondern verbindet. In der die Menschen nicht vom Land leben, sondern als das Land. Jedes Ökosystem ist ja schon eine natürliche Allmende: Hier gehört nichts einem einzelnen, alle Körper sind ineinander verwandelbar, und gerade dadurch fällt für jeden etwas ab. Auch jede Familie ist ein Commons – und kein Wirtschaftsunternehmen. Sie funktioniert, weil sich die einzelnen Mitglieder in den anderen wieder erkennen, sich gegenseitig helfen, zugunsten der anderen verzichten. Der Neoliberalismus zehrt beides auf, die Natur und die sorgende Struktur der Familie, und kann doch nicht ohne die beiden überleben. Erst wenn wir also Wirtschaften insgesamt wieder als Allmende verstehen, werden wir aus dem Dilemma herauskommen. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wäre übrigens der erste Schritt darauf zu.

 

Ein Kernbegriff der Biodynamischen Landwirtschaft ist „Verlebendigung der Erde“. Sehen Sie da eine Verbindung zu Ihrem Ansatz des Enlivenments?

 

Ja. Ich sehe da eine starke Verbindung. Biodynamik meint ja, mit allen vorhandenen Kräften in einen produktiven Austausch zu treten, nicht nur mit den Kausalketten der Biochemie. Jedes Lebewesen sucht ja genau danach: durch seine individuelle Eigenart die Verlebendigung der Erde zu realisieren. Dazu gehört das körperliche Gedeihen, und dazu gehört die Erfahrung der Zugehörigkeit, je nach den arteigenen Bedürfnissen. Wir erkennen alles, was lebendig ist, als unsere Heimat. Es ist heute wichtiger denn je, dieses Bedürfnis nach Verlebendigung aus der esoterischen Ecke zu holen. Es ist unser aller Lebensbedürfnis. Wenn wir es ignorieren, gehen wir langfristig zugrunde.

 

Fragen: Michael Olbrich-Majer

 

Dr. Andreas Weber,

Autor und Biologe, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis Mensch-Natur.

http://www.autor-andreas-weber.de

 

Andreas Weber: Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuche einer Poetik für das Anthropozän.

Matthes & Seitz, Berlin 2016