Erntedank und Erntefrust

Von Normen und verregneten Jahren

In diesem Jahr brauchten wir im Garten nicht gießen, dank regelmäßigem, reichlichem Regen wuchs alles wie von alleine. Aber unsere braunfaulen Tomaten und schorfigen Äpfeln ließen ahnen, dass Landwirte 2010 besonders besorgt auf ihre Felder schauten. Zwar wuchs genug Gras und Futter – doch wie ernten, wenn die Böden nass sind? Zwar stand das Getreide prächtig, aber wann sollte es erntereif trocknen, wenn es jeden zweiten Tag regnete? Landwirtschaft als naturgestütztes Unternehmen ist im wesentlichen Risikominderung. So anbauen, dass trotz witterungsbedingter Unsicherheit irgendetwas immer gedeiht.

 

In diesem Jahr waren nur mit Glück und hohem Aufwand die Einheitsprodukte in stets gleicher Qualität zu ernten, die der Markt verlangt. Längst zahlen Verbraucher bereitwillig mehr für im Dutzend identisches Gemüse, wollen Großküchen die immer aufs Gramm gleiche Hähnchenbrust, und der Wein soll jedes Jahr gleich schmecken: Norm - statt Vielfalt, die Lockerung der Handelsklassen hat das nicht verändert. Welch ein Gegensatz dazu ist auf einem französischen Bauernmarkt zu erleben – Vielfalt jenseits von Standardisierung. Lebensmittel anbauen ist prinzipiell nicht mit dem Herstellen von Schrauben zu vergleichen, da sind DIN-Normen sinnvoll, aber für Lebendiges?

In dieser Zwickmühle stecken auch Ökobauern – wer kauft schon ein Schwein mit zuviel Fett oder Mini-Hähnchen, die aus Mitgefühl aufgezogen werden? Damit es gleichmäßig aussieht, werden Hybrid-Möhren vom Handel bevorzugt; Demeter-Gärtner, die diese Einweg-Sorten nicht anbauen wollen, müssen langwierige, bisher mäßig erfolgreiche Überzeugungsarbeit leisten.

 

Demeter-Getreidekosthersteller haben noch ein anderes Problem: Die EU schreibt z.B. für Babykost Mindestvitamingehalte vor, die mit natürlichem Inhalt prinzipiell nicht zu erreichen sind. Also verzichtet Demeter auf künstlichen Vitaminzusatz wie auf Babykost, und versucht in Brüssel eine politische Änderung zu bewirken.

 

Müllerskunst ist in diesem Jahr bei Brotgetreide gefragt. Um gut zu backen, sind Mindestmengen bestimmter Inhaltstoffe notwenig. Die aber werden durch Dauerfeuchte während der Kornreife angegriffen. So muss man in Jahren wie diesen Mehle mit besseren Eigenschaften zumischen – häufig aus Importgetreide, was auch für Biomehle gilt. Doch zeigt ein vom biodynamischen Forschungsring neu entwickelter Backtest, dass für Getreide biodynamischer Züchter etwas andere Kriterien gelten. Deren eiweißstarke Sorten bieten in einem solchen Jahr Vorteile. So legen sich regional bereits Bauern und Müller bzw. Bäcker gemeinsam auf diese Sorten fest – weniger Risiko.

 

Bereits 2008 war die Demeter-Getreideernte zu knapp für die wachsende Nachfrage, eine Ausnahmegenehmigung für die Zumischung von bis zu 30% Bio-Getreide z. B. bei Müsli war nötig. Auch Bio-Kartoffeln dürfte es 2010 weniger geben, den konventionellen Landwirten fehlen fast 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für Demeter-Bauern, die, anders als die Bio-Kollegen, auf dem Feld keine Kupfermittel gegen Blattpilze anwenden, war es 2010 besonders schwer, die durch die Feuchte begünstigten Pilzattacken abzuwehren.

 

Zwar ist erst ein Teil der Ernten verkauft, aber Lebensmittel sind bereits teurer geworden. Gut für die Bauern, sollte man meinen, schließlich haben die im Vorjahr durchschnittlich 20-25 % weniger verdient, wegen schlechter Preise! Existenziell aber wirkt sich das für Menschen in armen Ländern aus – trotz konstanter Welternte stiegen die Preise, was Nahrung teurer macht: die Zahl der Hungernden droht, wieder über eine Milliarde zu steigen.

 

Eine Landwirtschaft jenseits der Norm streben Menschen an, die sich für sogenannte Freihöfe (CSA) engagieren. Eine größere Gruppe finanziert die Arbeit der Bauern ein Jahr vor und bekommt dafür Lebensmittel frisch vom Hof – nachhaltige Einkaufspolitik.

 

Michael Olbrich-Majer in Info3 Nr.11 ,November 2010, http://www.info3.de