Portrait

Als Landwirt neu gefragt

Der Reyerhof geht mit Solidarischer Landwirtschaft einen weiteren Schritt zur Verbindung von Städtern und Bauern

Von Michael Olbrich-Majer

 

Samstagvormittag, wir sammeln uns auf dem kleinen Hof, zwischen Bioladen, Bistro, Wohnhaus und Kuhstall: ein gutes Dutzend Männer und Frauen zwischen jung und mittelalt, leger gekleidet wie für einen kurzen Wanderausflug, zum Teil mit der U-Bahn nach Möhringen gekommen. Kurze Ansprache im Kreis, dann heißt es aufsteigen auf den Hänger, den Bauer Christoph Simpfendörfer sicher durch den Stuttgarter Bezirk, durch enge Straßen und an teuren Autos vorbei zum Kartoffelacker steuert.

Teilhabe an der Landwirtschaft als Erlebnis

Dort hat Boris, Simpfendörfers Pflegesohn und Mitarbeiter des Reyerhofs, gerade begonnen, eine Reihe Kartoffeln zu roden. Wir verteilen die Kisten und los geht´s: Anouschka heißt die Sorte, die wir auflesen, solange das Wetter noch mitspielt. Ein paar Tropfen von oben hat es schon gegeben. So beginnt der Arbeitsvormittag der Initiative für Solidarische Landwirtschaft Stuttgart, die seit gut einem Jahr mit dem Reyerhof kooperiert und einmal im Monat Hofeinsatz hat. Gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft, wie dieses Modell auch heißt, basiert darauf, dass Menschen für ein Jahr zu Mitunternehmern werden, einen Monatsbeitrag zum Unterhalt des Hofes beisteuern und dafür ein bestimmtes Paket an Hofprodukten bekommen, deren Verteilung gemeinschaftlich organisiert wird.

 

Kerstin Steinbuch hat vorausschauend ihre Gartenhandschuhe mitgebracht und freut sich über diese Form der regionalen Landwirtschaft: „ Man erfährt, was Saison hat, es gibt mehr Vielfalt. Und man erfährt so immer etwas über die Zusammenhänge.“ „Toll“ findet das Konzept der junge Umwelttechniker Manuel Hoffmann, weil man oft zu wenig versteht von so wichtigen Dingen, wie den Grundlagen der Ernährung. Für Rainer Detzler ist das Wühlen und Zusammenlesen an der frischen Luft ein Freizeiterlebnis, „willkommene Abwechslung zum Büro im Glaskasten“. Außerdem findet er hier auch Anregungen für seine Aufgabe als Personalverantwortlicher. Studentin Alexandra ist zum erstem Mal mit dabei und wird wieder kommen. „Den Boden unter den Stiefeln spüren, am Widerstand des Ampfers merken, was für eine Kraft dieses „Un“-kraut mir entgegenstellt, den Duft einer herbstlichen Streuobstwiese atmen, eine Möhrenernte verladen und einlagern – das können tief befriedigende Tätigkeiten sein“ – so schwärmt die Website der SoLaWiS. Und es ist tatsächlich diese Mischung aus Wind und Wetter, Gemeinschaftsunternehmung und Erleben sinnvollen Tätigseins, die aus dem Vormittag mehr als nur einen Arbeitseinsatz macht.

 

Natürlich gehört ein gute Viertelstunde Feldunterricht durch den Landwirt dazu. Simpfendörfer berichtet, um welche Sorte es sich handelt, woran man erkennt, dass eine Kartoffel “reif“ ist, geht auf den Bodenzustand ein und erklärt, warum hier nicht der Vollernter zum Einsatz kommt. Dann geht es weiter zu den blühenden späten Kartoffelsorten: hier soll Senf ausgerissen werden, nach kurzer Vorstellung des Kartoffelkäfers bzw. seiner Larven. Um kurz vor eins ist Schluss, wer will, kann noch in den Hofladen, manchmal gibt es auch ein gemeinsames Mittagsmahl.

Der Landwirt mittendrin

Der Reyerhof liegt mitten in der Kleinstadt, die ein Teil der großen ist, einen Ballwurf vom Kirchplatz entfernt. Eingebaut im Wohngebiet herrscht für die Landwirte hier Platzmangel, und Besucher gehören zum Hof wie die Blumen vor dem Hofladen. Simpfendörfers haben diese Lage in einen Vorteil umgemünzt. Sie bieten Einkauf und Erlebnis plus Essen. Ein gut sortierter, schmucker Hofladen auf ca. 80 qm lockt nicht nur Möhringer zum Einkauf. Dorothea Simpfendörfer legt auf Frische und hochwertige Ware Wert; billiges Bio gibt es im Nachbarort Vaihingen bei denn‘s. Ebenfalls im alten, umgebauten Kälberstall bietet das Bistro leichte Gerichte wie Galettes, Salate oder Suppe an. Mit Barbara Vierling wurde es in diesem Frühjahr wiedereröffnet, nachdem bis letztes Jahr Detlef Harrach hier eher gehobene Küche bot. Cappuccino und Kuchen gibt es auch und 16 Sorten Demeter-Eis, hergestellt mit viel Freude vom Betriebsleiter persönlich und in besonderen Geschmacksnoten wie z. B. Mädesüß oder eigenen Erdbeeren. Besonders stolz ist Christoph Simpfendörfer auf die aktuelle Kreation Pina Colada mit der ersten Demeter-zertifizierten Ananas aus Ghana. Einkauf, Kaffee trinken, Schwätzchen, all das geschieht vor der Kulisse des kleinen Kuhstalls, in dem sich zehn Tiere nach dem frischen Grünfutter strecken und Kinder wie Kunden die Kühe betrachten. Hof ohne Tiere? Nicht denkbar.

Dabei sah es alles andere als einfach aus, als Christoph Simpfendörfer und Dorothea Reyer-Simpfendörfer Mitte der 1980er den Hof übernahmen. Zuvor halb Kinderheim, halb Landwirtschaft, mussten sie dazu den Anteil von Dorotheas Bruder Martin kaufen: Perspektive mit Hofstelle innerorts und siebzehn Hektar? Der Landwirt unerfahren frisch von der Fachhochschule , die Landwirtin eigentlich Erzieherin. Trotz guter Böden mussten sie sich etwas einfallen lassen, über Flächenwachstum wie sonst auf dem Land war wenig möglich, ein Milchkontingent musste gekauft werden. Nach der innerfamiliären Einigung über den Kaufpreis wurde der Reyerhof in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, mit Simpfendörfer als Komplementär. 50 Familien legten im Schnitt 2500 Euro ein. Dazu kamen Privatdarlehen von Kunden und Rent-A-Cow: die Kühe gehören Kunden. Das Land ist komplett gepachtet, von 120 verschiedenen Eigentümern.

 

Ein großer Brocken war 1999 der erforderliche Umbau des unpraktischen alten Kuhstalls. Aussiedeln kam nicht in Frage, für einen gemeinsamen großen Stall mit benachbarten Demeter Landwirten war kein Platz. So wurde ein Laufstall für zehn Kühe auf Gülle, der Melkstand in den Untergrund gebaut – wegen der räumlichen Enge mit Zugbrücke; Milchkammer und Milchverarbeitung gleich nebenan. Die Kälber wachsen im Kontakt zu ihren Müttern auf – und über dem Stall befindet sich ein Lager für Heu und Stroh. Maschinen und Gerät stehen in einer Feldscheune am Ortsrand. Dort stehen auch Folientunnel, 600 qm geschützter Anbau gehören zum Betrieb. Hier mulcht Simpfendörfer mit Heulage – also vor dem Silieren gut angewelktem Kleegras, um den Boden feuchter und lebendiger zu halten. Begeistert zeigt er die gute Durchwurzelung und Regenwürmer darunter. Beim Getreide setzt er erfolgreich auf biodynamisch gezüchtete Sorten und beim Kohl arbeitet er mit dem Züchter Dietrich Bauer vom Dottenfelderhof zusammen, um gute Sorten für Kraut auszulesen.

Landwirtschaft in der Stadt für die Stadt …

... dieses Motto steht auf dem Lieferwagen des Reyerhofs. In Möhringen gibt es noch acht Bauern mit 400 Hektaren zwischen Autobahnen, Flughafen, Bürotürmen, Ortskernen und Einkaufszentren, die meisten Felder kleiner als ein halber Hektar: hier galt Realteilung. War der Reyerhof früher Außenseiter, so wurde er in den 90ern zu „unserem Bio-Bauern“ und längst bieten die Landwirtskollegen Simpfendörfer ihre Pachtflächen an; die letzten halten zusammen. Die Betreiber des Reyerhof haben ihrer Landwirtschaft in der Stadt ein entsprechendes Leitbild gegeben: Neben dem Angebot der Lebensmittel soll ihre Arbeit nachvollziehbar und erlebbar werden. Raum schaffen für Begegnungen, Möglichkeit zum Engagement, Kultur in den Bereichen Landbau, Handel, Ernährung pflegen – das findet sich in konsequenter Umsetzung und Vielfalt. So pflegt der Reyerhof vielfältige Kontakte, nimmt seine Rolle auch als Veranstaltungsort für Kultur oder das Christgeburtsspiel an und ist gefragt: Simpfendörfer fährt mit Gemeindevertretern zum Felderrundgang, lässt sich für die Erntebetstunde gewinnen und arbeitet eng mit dem lokalen Slow Food Convivium zusammen. Schulklassen kommen Kühe gucken und Waldorfschüler machen hier Praktikum. Noch bevor der Arbeitseinsatz in den Kartoffeln zu Ende ist, muss Simpfendörfer weiter: in Esslingen wartet ein Podium auf ihn, es geht um Fleisch, Tiere, Landwirtschaft und Klima.

Solidarische Landwirtschaft – wie funktioniert das?

Markus Anders, einer der Mitgründer, berichtet vom Anfang der Initiative: Im Forum3, einem anthroposophischen Kulturzentrum in Stuttgart, stellten sie 2012 ihre Idee der Solidarischen Landwirtschaft einem größeren Publikum vor und fanden so zu einer Kerngruppe. Die fragte sich: Flächen pachten, einen Gärtner anstellen? Oder suchen wir Höfe, die dazu bereit wären? Sie schrieben die Öko-Landwirte in Stuttgart und Umgebung an, doch es gab immer gute Gründe, warum eine SoLaWi nicht zum Hofkonzept passte: zuwenig Gemüse, ein Hofladen, feste Lieferverträge und beginnende Mutlosigkeit der Gruppe. Nach Wochen meldete sich dann Christoph Simpfendörfer, Demeter -Landwirt auf den Fildern, den traditionellen Gemüseböden über Stuttgart: „Wir machen das jetzt mal, das muss man einfach ausprobieren.“ So startete die SoLaWi Stuttgart im April 2013 mit Möhren. Und strukturell anders als das Vorbild Buschberghof: der erzeugt ausschließlich für die Wirtschaftsgemeinschaft um den Betrieb, während bei Simpfendörfers das nur ein Anteil des Umsatzes ist. Auch vom reinen Ehrenamt hat sich die Initiative gelöst: Lena Steinbuch wird inzwischen für 20 Stunden im Monat dafür bezahlt, zu koordinieren und sich um Mitgliederverwaltung und Öffentlichkeitsarbeit zu kümmern, das macht es allen einfacher. Aktuell wird diskutiert, ob es eine Rechtsform wie einen Verein oder ähnliches braucht.

 

Warum möchten Menschen selbst jäten oder ernten, wo sie doch dasselbe Gemüse im Hofladen ganz einfach kaufen könnten? Im Kern geht es wohl um ein anderes Verhältnis zu Lebensmitteln und um Elemente eines anderen Lebensstils: Ethisch-ökologisch kaufen reicht nicht, mit in die Verantwortung gehen, Bescheid wissen – nicht als Kontrollbedürfnis, sondern als Erlebnis, das ist der Wunsch dahinter und Freude über Mitgestaltungsmöglichkeiten. Die sind nicht auf den Hof und die Lebensmittel beschränkt: klar, saisonale, regionale Biolebensmittel, kurze Transportwege, keine Verschwendung – es werden auch krumme Möhren gegessen, Sortenvielfalt – das ist die ökologische Seite. Die soziale zeigt sich im solidarischen Ansatz auch untereinander, im Selbstverwaltungsprinzip, in gemeinsamen Informationsveranstaltungen oder im offenen, aber wertschätzenden Kommunikationsstil. Es mutet wie ein gesellschaftlicher Experimentierraum an, für kooperative statt konkurrenzierende Sozialformen.

 

Konkret zahlt jedes Mitglied der Initiative 25 Euro im Monat für einen Anteil und erhält dafür immer donnerstags 1 Kilo Gemüse, ein halbes Kilo Kartoffeln, einen Salat – abzuholen an einem der neun Verteilpunkte in Stuttgart. Die sind meist bei einem Mitglied der SoLaWiS, in Garten, Garage oder Keller, der Reyerhof bringt es dorthin. Aufteilen, das machen die Abholer selbst mit Hilfe der Waage. 165 Anteile sind es aktuell, verteilt auf 140 Menschen. Dass was dran ist, an diesem Konzept, zeigt sich daran, dass es eine Warteliste für Interessenten gibt.

SoLaWi – was sagt der Landwirt?

Gemüseversorgung ist nicht der überwiegende Impuls bei der Solidarischen Landwirtschaft, so erlebt es Simpfendörfer; die Motive sind breit und unterscheiden sich von einer Verbrauchergemeinschaft: „Als Landwirt erfahre ich dadurch eine ganz andere Solidarität“. Die SoLaWi passe ideal zur Direktvermarktung, auch hierfür sei Gemüsevielfalt und Kontinuität durch kleine Sätze erforderlich. Und die Stagnation beim Absatz von Grundnahrungsmitteln – es werde immer weniger selbst gekocht – wird dadurch ausgeglichen: Die ca. 40.000 Euro jährlich, ca. 15 Prozent vom Gesamtumsatz, entsprechen ungefähr dem früheren Verkauf an den Großhandel. Der Landwirt ist froh für die Vertiefung der Beziehungen zum Umfeld: das passt zum Selbstverständnis des Reyerhofs und eröffnet auch Möglichkeiten der Intensivierung des Gemüsebaus.

 

Wenn ein Drittel der Lebensmittel der SoLaWiS-Teilnehmer vom Hof kommt, dann kann der Reyerhof ungefähr 400 Menschen ernähren, rechnet Christoph Simpfendörfer vor. Er hat aber auch die Frage, wie man eigentlich den gerechten Anteil kalkuliert – nach Eiweiß? Nach Kalorien? Denn wie verrechnet man Fleisch vs. Karotten, Käse vs. Mehl, wenn die Mitglieder unterschiedliche Bedürfnisse, aber den gleichen Beitrag haben? Ein Thema für eine Bachelorarbeit. Dass er Blumenkohl und Brokkoli teuerer als am Markt erzeugt, weckt die Frage nach Effizienz. Doch die SolaWi will er nicht mehr missen: weder ist der Aufwand zu hoch, noch sind die Ladenkunden scharenweise zur SoLaWiS gewandert; das sind unterschiedliche Menschen. Und es sei super, Disteln mit zwanzig Leuten auszustechen anstatt zu zweit! Arbeit gibt es genug, Baumschnitt, Weidezäune, Bienenfutter säen und mehr. Interessierten Kollegen rät er, sich nur darauf einzulassen, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzen will: sie wollen wissen, sie wollen beteiligt sein und jede SoLaWi ist anders – der Bauer muss flexibel sein.

Reyerhof: Hofübergabe steht an

Betriebsspiegel 1:

  • Solidarische Landwirtschaft Stuttgart

  • Gegründet 2013, Kooperation mit dem Reyerhof

  • Aktuell 134 Beteiligte

  • Glückliches Gemüse aus sinnmaximierender Bodenhaltung – ein Gegenentwurf zur Nahrungsmittelindustrie: solidarisch, ökologisch, regional.

  • http://www.solawis.de

Betriebsspiegel 2:

  • Betriebsspiegel Reyerhof

  • Biologisch-dynamisch seit 1955

  • Lage: Möhringen im Süden Stuttgarts, Lößlehm, 70 bis 90 Bodenpunkte

  • 390 bis 425 m über NN, im Mittel 8,4° C und 640 mm Jahresniederschlag

  • 40 ha, davon 21 ha Wiesen, Weiden, Streuobstwiesen, 8-jährige Fruchtfolge mit je zwei Gliedern Feldgemüse bzw. Luzerne-Kleegras und drei Gliedern Winterweizen

  • 10 Milchkühe, Fleckvieh, 6-8 Rinder zur Mast und Nachzucht , 4 bis 8 Kälber

  • 3,5 AK in der Landwirtschaft incl. Betriebsleiter

  • Milchverarbeitung zu Käse, Quark/Joghurt und Eis

  • Hofladen ca. 80 qm, Bistro, beide Montag bis Samstag geöffnet

  • Christoph Simpfendörfer und Dorothea Reyer-Simpfendörfer
    Unteraicher Str. 8, 70567 Stuttgart-Möhringen, Tel.: 0711 / 711890, http://www.reyerhof.de

Eine gute Übersicht über Wege und mögliche Maßnahmen urbaner Landwirtschaft auch auf kommunaler Ebene gibt die Diplomarbeit von Lena Steinbuch: Nahrungsmittelproduktion in der Stadt. Konzepte für Stuttgart.

www.uni-stuttgart.de/si/orl/ORL_lehre/dipl/dipl_steinbuch_stuttgart.pdf