Portrait

Sinnvoll leben statt nur Produzieren

Der Bauckhof Stütensen hat Therapie und Landwirtschaft eng verbunden

von Michael Olbrich-Majer

 

Mit Geschick führt Daniel die schwere Kettensäge durch den dicken liegenden Stamm. Ein paar Meter weiter wuchtet Sven zusammen mit Landwirt Jakob Schererz Meterstücke auf den Holzspalter, den ein Schlepper antreibt. Die drei machen Holz für die Lebens­- und Arbeitsgemeinschaft Stütensen auf dem Holzplatz des Demeter-Betriebes. Ganz Profis, mit Kettensägenschein und Traktorführerschein, sind Daniel­ und Sven doch Menschen mit Assistenzbedarf, die in der sozialtherapeutischen Gemeinschaft ihren Platz haben und sich hier sehr selbstständig einbringen können. Denn das Konzept sieht nicht nur Wohnen und Teilhabe vor, sondern auch sinngebende Beschäftigung im Rahmen einer weitgehenden Selbstversorgung. So speist das Holz das Wärmeverbundnetz der Einrichtung, heizt 3000 Quadratmeter Wohnfläche sowie Wirtschaftsgebäude, angefeuert durch zwei kräftige Holzvergaseröfen, und von Patrick, der heute das Holz nachlegt.

Ein sozialökologisches Experiment beginnt

Stütensen liegt eine Viertelstunde östlich von Uelzen, abseits der Hauptstraße: stille Dörfchen mit würdigen Backsteinhöfen unter Eichen, inmitten von Wäldern, Kartoffel- und Rübenäckern, prägen die flache Landschaft. Auf alten Fotos sieht es nach Improvisation, nach Land- und Lagerfeuerromantik aus, was 1969 hier begann. Auf dem sanierungsbedürftigen geerbten Hof auf kargem Sand wollte die Familie Bauck einen Raum für Sozialtherapie schaffen und überführte ihn in eine gemeinnützige Rechtsform. Was dann mit dem in Landwirtschaft und Pädagogik erfahrenen Rudolf Isler und ca. zwanzig Menschen Wurzeln schlug, führte ab 1978 Reiner von Kamen fort als frischgebackener Landwirtschaftsgeselle, vom Bauckhof in Amelinghausen kommend. Pädagogisch-therapeutische Kenntnisse musste er aber noch erwerben, was durch die Unterstützung der anderen Höfe möglich wurde. Heute, nach fast fünfzig Jahren, leben und arbeiten in dem einst nur aus sieben Höfen bestehenden Dorf fast hundert Menschen allein in der Sozialtherapeutischen Gemeinschaft. Aus dem einen Hof sind inzwischen sechzehn Gebäude geworden, darunter viele Neubauten für unterschiedliche Wohnformen, Gemeinschaftsbereiche wie Saal oder Küche aber auch für Kühe und Schweine etc. Die Lebensgemeinschaft ist einer der zwei noch existierenden landwirtschaftlichen Betriebe im Ort.

Arbeiten im Grünen Bereich

Der Stalldienst beginnt um Viertel vor sechs, danach ist Zeit fürs Frühstück im jeweiligen Wohnhaus, um Viertel nach Acht trifft sich die ganze Gemeinschaft zu einer kurzen Morgenfeier: Kerze, Jahreszeitentisch, ein Lied, ein Morgenspruch, Kurzbericht aus einer der Werkstätten, Termine und Geburtstage, Organisatorisches. Anschließend geht es in die Werkstätten, Mittagspause von zwölf bis zwei, dann ist wieder bis fünf Arbeitszeit, auch im Stall. Die rhythmische Struktur der Tage und Jahreszeiten ist ein tragendes Element der Therapie. Auch gemeinsame Freizeitgestaltung gibt es, jeden Abend gibt es ein Angebot, ob zum Schwimmen oder ins Kino gehen, Reiten oder Theater spielen.

 

Trotz aller Pädagogik steht die Landwirtschaft im Vordergrund, schafft sie doch über den Anspruch zur Selbstversorgung Sinn und über ihre Arbeitsbereiche Struktur. So ist es einfach, zu motivieren – oft ein Problem solcher Einrichtungen mit seelisch Erkrankten. Die Einbindung muss aber anhand der Fähigkeiten erfolgen – ein Kriterium für die Gestaltung der Arbeitsbereiche. Manche sind fast selbstständige Mitarbeiter, für andere sollte ihre Aufgabe eher überschaubar sein oder körperlich nicht anstrengend. Entsprechend ist auch die Geräte- und Maschinenausstattung angepasst. Neben den gemeinsamen kulturellen Aktivitäten bildet die Landwirtschaft das Gefühl fürs Ganze heraus. Dazu ist sie ganzheitlich gestaltet – das biodynamische Konzept des Organismus passt hier genau und bietet die erforderliche Vielfalt an Betätigung. Und, sie muss immer laufen, Tiere haben nun mal Hunger, das angebaute Gemüse landet in der Küche, das versteht jeder. Im Übrigen sorgen die Tiere auch für eine lebendigere Atmosphäre und haben gleichzeitig etwas entspannendes, berichtet Jörg Timme-Rüffler. Die Betreuung der Tiere hat dadurch ein therapeutisches Potenzial, weckt Emotionen und Verbindung.

 

Jörg Timme-Rüffler kümmert sich um Tiere, Stall, Grünland, Jakob Schererz um Ackerbau und Kompostierung, Ekkehard Jost um Wald, Geländepflege und Kartoffeln. Reiner von Kamen kommt als Geschäftsführer und Betriebsleiter nur noch nach seinem Bürotag zur Waldarbeit – quasi als Entspannung. In der täglichen gemeinsamen Morgenbesprechung nach der Morgenfeier werden Arbeit und Arbeitende aufgeteilt, abends und morgens auch mal in verschiedene Gruppen. Demnächst drei Gärtner ziehen und pflegen das Gemüse, das zur Hälfte der Selbstversorgung und dem Bioladen für Mitarbeiter dient. Im Winter, wenn es draußen weniger zu tun gibt, sorgt die Apfelwerkstatt für Aufgaben. Insgesamt 30 Arbeitsplätze für Menschen mit Assistenzbedarf bietet der grüne Bereich der Gemeinschaft.

 

Zurück zum Wald: Wahrscheinlich wäre ein Harvester und der Einsatz von Holzhackschnitzeln effektiver. Doch die Waldpflege hätte dann wohl enge Grenzen, Neupflanzen oder Waldrandgestaltung kaum leistbar. Neben dem Aspekt, dass dann einfache Arbeiten wegfallen. Die Werkstätten rechnen sich in dieser an die Therapieziele angepassten Form nur durch die Fördersätze der Arbeitsbegleitung, doch ist der nutzbare „Eigenanteil“ nicht zu vernachlässigen – sei es der Beitrag zur Selbstversorgung oder auch der von Verkaufsware. Eine Handvoll Außenarbeitsplätze gib es ebenfalls, fast seit Anfang an: begleitet von Johann Müller werden die glutenfreien Mehle und anderes für den Demeter-Naturkosthersteller Bauck GmbH im drei Kilometer entfernten Rosche abgepackt.

Entwicklung für jeden möglich machen

„Wir wollen Menschen so befähigen, dass sie glücklich in der Arbeit sind“, dieser Satz fällt im Gespräch über die Gestaltung der Arbeitseinheiten. Diese sollen übersichtlich und leistbar sein, Eigenständigkeit und Selbstwertgefühl stärken. Stütensen pflegt hier den sogenannten „handlungspädagogischen“ Ansatz: Erziehung und Therapie durchs echte Leben. Das zeigt im landwirtschaftlich-gärtnerischen Arbeitsfeld immer konkrete Ergebnisse. Und die „Hinwendung des Menschen zu schwächeren Wesen, zu Tieren, Pflanzen, Erde, lässt die Behinderung in den Hintergrund treten“, formulieren es die Stütenser. Zwar ist das Ziel der erste Arbeitsmarkt, doch muss man wohl auch realistisch bleiben.

 

Wer als Betreuer hier arbeitet, muss den Spagat aushalten zwischen Arbeitserledigung und -qualität und dem Einstellen auf die Bedarfe der Mitarbeiter. Notfalls eben vor- oder nacharbeiten. Anleiten heißt, neben anderem auch, die Notwendigkeit einleuchtend machen. Und geistesgegenwärtig die richtige, pädagogische Antwort finden. Dass Konflikte aus dem Wohn- oder Freizeitbereich nicht in der Arbeitsgruppe ausgetragen werden, dabei hilft eine Vertrauensstelle, die in der Gemeinschaft dafür geschaffen wurde. Doch oft reicht die Kernbetreuungszeit gerade in der Landwirtschaft nicht: zum Beispiel, wenn das Heu rein muss. Oder der Abend zum Pflügen genutzt werden muss. Dann gilt es, über das Gespräch in der Gruppe Mitarbeitende zu gewinnen. Das klappt auch an den Wochenenden oder an Feiertagen, an denen ja mindestens die Tiere zu versorgen sind.

 

Diese ins Therapeutische integrierte Landwirtschaft macht es auch möglich, dass die Hecken gut gepflegt sind, dass eine abwechslungsreiche Fütterung mit viel Resteverwertung im Stall funktioniert, dass Naturschutzmaßnahmen wie der Bau und das Anbringen von Nisthilfen durchgeführt werden oder der Kiefernforst zum naturnahen Dauerwald umgebaut wird.

Erzeugung für Selbstversorgung und Verkauf

Auf den Feldern gedeihen Roggen, Landsberger Gemenge, Kartoffeln und vor allem Futtergetreide. Die Fruchtfolge ist viergliedrig, also recht einfach. Das ist z. T. den Sandböden geschuldet, hat aber ackerbaulich den Vorteil, dass Anbau, Ernte und Vermarktung arbeitstechnisch gut zu bewältigen sind, damit genügend Zeit für Betreuung und Begleitung bleibt. Allerdings muss beregnet werden. In der Regel ist nur ein Schnitt auf den Weiden möglich, erst danach können die Tiere grasen. Gründüngung ist auf diesen Böden entscheidend, aber auch die wächst nur mit Beregnung richtig. Mit dem Bauckhof in Klein-Süstedt besteht eine Futter-Mist-Kooperation: der Betrieb in Stütensen liefert Futter, und zurück gibt es Hühnermist als Kompostzuschlag oder zur Unterstützung der Gründüngung. Getreideernte, Mist streuen, Stroh pressen und Silogroßballen wickeln macht der Lohnunternehmer. So wird Zeit gewonnen. Zeit für die gemeinsame Strohbergung durch die Gemeinschaft. Auch die biodynamischen Präparate lassen die Stütenser ausbringen.

 

Die Zahl der Milchkühe ist an den Verbrauch der Gemeinschaft angepasst, etwas Quark wird selbst gemacht. Bewusst verzichten die Landwirte auf eine umfangreichere Hofverarbeitung: Dann kämen durch den erforderlichen Mindestumfang wieder professionelle Produktion und Vermarktung ins Spiel, das lohne nicht, so Jörg Timme-Rüffler. Die meisten Schweine gehen an den Bauckhof Klein-Süstedt, die Masthähnchen in die Küche. Über siebzig Kulturen baut die Gärtnerei an, teils mit eigener Jungpflanzenanzucht und teils unter Glas oder Folie. Sie arbeitet eng mit der Küche zusammen. Gemüse gibt es auch im eigenen Hofladen, etwa die Hälfte der Ernte wird an den regionalen Naturkosteinzelhandel vermarktet.

 

Draußen am Kompostplatz widmet sich Landwirt Jakob­ Schererz mit der Präparatekiste in der Hand einer­ besonderen Aufgabe: aus Dinkelspelz von der nahen­ Bauck GmbH guten Kompost zu machen. Das locker fallende Material muss zunächst befeuchtet und verdichtet werden. Wenn er gelingt, ist das eine brauchbare Kohlenstoffzufuhr für die armen Böden. Auch die langen Komposthaufen aus hofeignem Material werden häufig mit dem Kompostwender umgesetzt, um den Rotteprozess anzuregen. So ist der Kompost nach ca. drei Monaten reif und wird bevorzugt zur Gründündung, aber auch zu den anderen Kulturen ausgebracht.

Weichenstellung: der Schritt zur Werkstatt für behinderte Menschen

Das Konzept der Stütenser, in dem Landwirtschaft und Therapie sich gegenseitig ergänzen, musste vor fünfzehn Jahren dringend neu justiert werden. Weder hielt die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte mit den stetig steigenden Qualitätsanforderungen des Großhandels mit, noch stimmten die Erlöse, da die Bio- und auch die Demeter-Preise deutlich gesunken waren. Eine Entscheidung stand an: Landwirtschaft professionalisieren und intensivieren, samt Abbau von Arbeitsplätzen oder verstärkt die Therapie ergreifen. Viele Einrichtungen geben in einer solchen Phase die Landwirtschaft auf, oder schrumpfen sie auf ein wenig Gartenbau. „Letztlich haben wir uns dafür entschieden, das auszubauen, was wir gut können, und das richtig gut zu machen“ erinnert sich Reiner von Kamen.

 

Die Blickrichtung änderte sich: Landwirtschaft wurde in die Sozialarbeit integriert, die Werkbereiche zum Zweckbetrieb des Vereines – was auch Kostentrans­parenz brachte und die gesamte Einrichtung wurde als Werkstatt für behinderte Menschen konzipiert. Der höhere­ Verwaltungsaufwand und die Trennung – hier wohnen, da Werkstattarbeit – hatte die Stütenser bislang davon abgehalten. Jetzt wurde die jeweilige Leitung der Wohnbereiche bzw. Werkstätten in verschiedene und so besser zu qualifizierende Hände gelegt. Gezielt wurden Menschen mit pädagogisch-handwerklicher Doppelqualifikation gesucht, langjährige Mitarbeiter fortgebildet und dafür gesorgt, dass Mitarbeitende hier ihren Lebensmittelpunkt finden können. Auch die rechtliche Trennung von der Betriebsgemeinschaft der Bauckhöfe war erforderlich, aber ein Teil der Gebäude gehört weiter der gemeinnützigen Landbauforschungsgesellschaft Sottorf GmbH.

Neue Impulse durch Inklusion

Insgesamt kamen so neuer Schwung und neue Entwicklungschancen in die Gemeinschaft: Werkstätten und Ausstattung konnten so finanziert werden, die Mitarbeiterdecke war ausreichend und heute gibt es zehn Werkstattleiter mit sozialer Zusatzausbildung zum Arbeitsbegleiter. Reiner von Kamen studierte spät nebenbei noch Betriebswirtschaft, holte sich rechtliche und ökonomische Beratung und delegierte Verwaltungsaufgaben an einen externen Dienstleister. Denn der Weg zur WfbM war zäh. Das fing schon damit an, herauszubekommen, welche Behörde denn für eine solche Zulassung zuständig war. Konzept, Raum- und Personalpläne mussten eingereicht werden und eine Kooperation mit der Lebenshilfe in Uelzen wurde geschlossen, da Stütensen für eine WfbM zu klein ist – Mindestgröße: 120 Menschen mit Assistenzbedarf. Für die Betreuten änderte sich vor allem, dass es Gehalt statt Taschengeld gibt und der Focus jetzt auf ihrer Entwicklung liegt: Das seit 2017 geltende Bundesteilhabegesetz verstärkt diesen Wandel von der am Defizit orientierten Sichtweise hin zum Fördern der Ressourcen, der Fähig­keiten und des Wollens.

 

Ein Förderverein, in dem vor allem die Eltern der zwischen 18 und 60 Jahre alten betreuten Bewohner engagiert sind, unterstützt die Gemeinschaft bei besonderen Aktionen, vor allem aber bei der Gestaltung von Festen, Freizeiten oder Bildungs- oder Kulturangeboten. In den kommenden Jahren will die Gemeinschaft die Brennholzaufbereitung ausbauen, Qualitätsholz verkaufen. Dazu soll ein Betriebsgebäude in der kleinen Dorfgemeinschaft errichtet werden, für die Verarbeitung von eigenem und zugekauftem Holz. Das schafft auch Arbeitsplätze. Und Reiner von Kamen ordnet bereits seine Nachfolge, die 2019 dann nicht in seine Fußstapfen treten muss. Landwirtschaft, Wohnbereichsleitung und sozialer Dienst sind in erfahrenen Händen, Assistenz für die Geschäftsführung geplant. Ein improvisierter Start wie einst wäre heute kaum möglich. Den ursprünglichen Zielen jedenfalls bleibt die Gemeinschaft mit ihrem Leitbild verbunden: aus gegenseitiger Achtung und Förderung einen Entwicklungsraum für Mensch und Natur entstehen lassen, der den individuellen Entwicklungswillen sein Ziel finden lässt.

Bauckhof Stütensen: Sozialtherapeutische Gemeinschaft

  • Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit anthroposophischem Konzept, Werkstatt für behinderte Menschen, Demeter-Betrieb

  • sechs Werkstätten: Landwirtschaft und Wald, Gärtnerei, Küche, Apfelwerkstatt, Lebensmittelabpackung, Töpferei; insgesamt 48 Arbeitsplätze, davon 30 im grünen Bereich,

  • differenzierte Heim-Wohnbereiche in fünf Häusern für 45 Menschen mit gemeinsamer Hauswirtschaft, daneben 5 Außenarbeitsplätze.

  • 100 ha LN, davon 80 ha Acker, 20 ha Grünland, 2 ha Gartenbau mit 800 qm geschütztem Anbau, 65 ha Wald; Sandböden

  • 35 Rinder, davon ca. 10 Milchkühe, 65 Mastschweine, 75 Masthähnchen, 6 Pferde, und 12 Bienenvölker.

  • Eigenes, holzbefeuertes Nahwärmenetz für 16 Gebäude; Pflanzenkläranlage;

  • Erzeugung zur Selbstversorgung, darüber hinaus an Bauckhöfe und Naturkosteinzelhandel

  • Knapp 100 Menschen leben hier

  • Bauckhof Stütensen, Sozialtherapeutische Gemeinschaft e.V., Stütensen 2, 29571 Rosche, Tel: 05803-9640, http://www.bauckhof.de