Lebendige Erde 3/2003:

Berichte & Initiativen

Welche Zukunft schaffen wir der Tierwelt in der Landwirtschaft

Eingeläutet von zwei Dutzend sonor tönenden Kuhglocken trafen sich zu dieser Frage etwa 550 Teilnehmer der diesjährigen Landwirtschaftlichen Tagung am Goetheanum. Das Zusammenwirken der Naturreiche, Gegenwart und Zukunft der Tierhaltung, Verantwortung und Erkenntnis in der praktischen, seelischen und geistigen Arbeit am und mit dem Tier waren die Themen. Es ging, so Nikolai Fuchs in seiner Einführung, darum, "Begriffe zu bilden, die identisch sind mit unseren Intentionen". Mit welchen Fragen müssen wir auf die Tiere zugehen? Wie bringe ich mich in ein geistgerechtes Verhältnis zur Tierwelt? Was kann "Erlösung der Tiere" bedeuten?

Wiewohl es vielen Menschen nicht so scheinen mag, sind diese Themen zentral für ein zukunftsfähiges Menschen- und Weltbild. Am Tier entzünden sich die grundlegenden Fragen zu Pflanzlichkeit und Menschentum, nach der Möglichkeit der inkarnierten Seele und deren möglichem Erwachen. Das Tier ist die Mitte des Lebens in der sichtbaren Welt, Wohnort der unschuldigen Seele. "Die Seele aber, womit auch das Tier begabt ist", so Hegel, "wird erst durch das Denken zum Geist". Heute meint man, dass der Mensch ja auch "nur" ein Tier sei, wir können das mit Hegel bejahend transzendieren: ja, "der Mensch ist Tier. Aber indem er weiss, dass er Tier ist, ist er kein Tier mehr". Andererseits können wir, wie der spannende Beitrag von Jos Verhulst über "Die gemeinsame Evolution von Mensch und Tierreich" anschaulich machte, die Abstammungslehre umstülpen und entwicklungsgeschichtlich nachweisen: Auch das Tier ist zum Menschen angelegt! Der Mensch ist die eigentliche Urgestalt der Säuger, diese tragen durchweg die "Berufung zum Menschlichen" in sich. Eine solche Sicht verweist auf tiefgreifende Zusammenhänge und aus ihnen resultierende Verantwortung. Diese wurden ernst und schön von Knut Ellenberg in seinem Beitrag "Auf dem Weg, die Tiere zu erlösen" erschlossen. An existentiellen Erlebnissen im Umgang mit der eigenen Kuhherde zeigte, wie die Er-lösung der Tierwelt nur Wirklichkeit werden kann, wenn wir uns von den ihr Wesen entstellenden Vorstellungen lösen können, unsere Beobachtungs- und Emphathiefähigkeit schulen, uns befähigen zu fortschreitender "Wahrnehmung in der Gleichzeitigkeit". Der Beitrag schloss passend mit Rudolf Meyers Hinweis auf den paulinischen Erlösungsauftrag an den Menschen: "Die Natur will an der Erlösung teilhaben, sie blickt zum erlösten Menschen auf".

Wie dieser Erlösungsweg im Haustier ein den Menschen segnendes Entgegenkommen finden kann, erschloss sich in Werner Weckers hinreissendem Beitrag "Schulung durch Pferdearbeit". Anhand seiner erzieherischen Arbeit mit Pferden zeigte uns dieser Wahrnehmungs- und Erziehungskünstler die therapeutischen Möglichkeiten der Mensch-Tier- Beziehung, die Anregung der Selbsterziehung, die daraus erstehen kann, und die Trost- und Heilungskraft, die in solcher Beziehung schlummert. Das Pferd, wenn wir in liebender Weise mit ihm arbeiten, bietet sich an als Seelenspiegel und kompetenter Entdeckungshelfer ins Reich des Unbewussten.
Unser Kopfwissen - frei nach Hegel: "das unglückliche Bewusstsein" - hat den Menschen in die existentielle Dissonanz gestellt, in die er nun die Lebenswelt durch "die instrumentelle Einstellung gegenüber einer wissenschaftlich objektivierten Natur" (Habermas), mit hineinreisst. Die Verdinglichung der Lebenswelt im westlichen Denken zeigt sich im herrschenden Verhältnis zum Tierreich an der Idee des "Nutz"-tiers, das heute begrifflich und in der Praxis zur "Produktionseinheit" und zum "Labormodell" reduziert ist. Die Kehrseite erleben wir in der gesteigert sentimentalen Beziehung zum Hobby- und Schoßtier, das heute zunehmend, ganz wie das Herrchen, von Zivilisationskrankheiten heimgesucht wird. Der Beitrag von Michael Walkenhorst und Jörg Spranger über den "Einfluss der Mensch-Tier-Beziehung auf die Gesundheit der Milchkuh" stellte diese Zusammenhänge methodologisch konsequent und überzeugend dar. Ihr Vortrag veranschaulichte, wie seelisches Leiden der Tiere aus geistigen Fehlhaltungen der Menschen resultiert. Sie stellen dieser Feststellung eine ganzheitliche Haustierwesenskunde gegenüber, die Gesundheit, Krankheit und Heilung als Reifestufen erlebt und in einer Gesamtschau aus geistig Erkanntem und seelisch Erlebtem fußt.

 

Tadeu Caldas versetzte uns dann mit seinem Beitrag "Farm Individualities in the Earth's Organism" in die planetarische Perspektive. Anschaulich vermittelte er uns einige der grossen Fragen an die biologisch-dynamische Praxis, die den in den "Entwicklungsländern" tätigen Berater beschäftigen. Traditionelle, oft weiträumig landschaftsbildende Landwirtschaftsstrukturen (z.B. Hirtenvölker) und grossangelegte Plantagenwirtschaft verlangen ein kreatives Neu-erdenken der biologisch-dynamischen Prinzipien und Methoden. Er katapultierte uns aus unserer gewohnten eurozentrischen Nordlage vehement in unsere eigentliche Welt-Heimat, deren Vielfalt und Lebenskraft unter der Raserei des Kapitals stöhnt. Sein lebendiger Beitrag wurde bestens illustriert durch seine zu später Stunde präsentierten Dias und den Film "Begegnungen auf der Milchstrasse" von Jürg Neuenschwander. Dieser zeigt an der Begegnung afrikanischer und schweizer Viehzüchter einfühlsam und humorvoll, wie nah und doch fern sich Bauern der ersten und dritten Welt sein können.

Wie wir "In der richtigen Art Insekten und Vögel herumflattern lassen" fragte mit einem Zitat von Rudolf Steiner Johannes Brakel. Er erarbeitete geisteswissenschaftliche Aspekte der Ökologie und des Naturschutzes mit einem Schwerpunkt auf dem Beitrag der Insektenwelt. Diese ist die zahlenmässig überwältigendste, bis heute weitgehend noch unerforschte Manifestation der Tierwelt. Er schloss, zusammenfassend, mit einem Ausruf Buddhas an die Schmetterlinge: "Von euch habe ich mehr gelernt als von allen Meistern der Erde". Auch ein Insektenthema, jedoch ganz anders angegangen, war Enrico Zagnolis begeisterte Darbietung der "Eigestalt des Bienenvolkes im Jahreslauf". Pulsierend wie der Bien im Schwarm expandierte und kontraktierte der toskanische Bienenvater durch dieses Thema und vermittelte die Essenz des Bien: Be-geisterung und Wärme. Aurisch, das habe ich an Enrico Zagnoli selbst gesehen, haben auch wir Menschen Eigestalt!

Den Kreis der Vorträge schloss Manfred Klett mit einem Bogen von Noah bis zum heutigen Tiernotstand:"Der Mensch als Leiter und Begleiter der Tierwelt". Aus dem karmischen Umfeld des im Laufe der Erdenevolution am Tiere "unschuldig-schuldig gewordenen" Menschen und entwickelte er den esoterischen Hintergrund der Zusammenarbeit des Menschen mit der Gruppenseele der Tiere in der Tierhaltung. Diese leitet die Tiere über das Blut, der Mensch leitet die Tiere durch "Haltung". Die innere Haltung des Ich-begabten Menschen kann den Tieren höhere Möglichkeiten geben werden, entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Haustiere. Für den Menschen dagegen ist ein tiefes Motiv die Würdigung des Opfers der Tierwelt, das seinen Platz auf der Erde erst ermöglicht und vorbereitet hat, und die Tilgung der karmischen Schuld am Tier. Manfred Klett veranschaulichte an der Kuhhaltung die vier Leibesebenen, auf denen der Mensch das Tierschicksal bestimmt: physisch in der Stallhaltung, ätherisch in der Fütterung, seelisch in Pflege und Zuwendung, und geistig schliesslich in der Züchtung. "Was der Mensch aus seiner Ich-haftigkeit dem Tier zu Liebe tut - nur das gilt als wahrer Züchtungsimpuls" - im Gegensatz zum gegenwärtig gängigen Züchtungsfokus auf das Einzeltier, zeigt dieser Zukunftsweg als Züchtungsziel die Herausbildung eines blutlinientreuen, standortgerechten Herdenorganismus, die Schaffung individualisierter Herden und neuer landschaftsangepasster Landrassen. Alle anderen Züchtungsziele bekommen ihren Stellenwert letztlich vom Herdenorganismus, denn dieser und der Hoforganismus bedingen einander.

 

 

Erwartungsvoll erlebte ich die von Wilfried Hammacher neu eingerichtete Faust-inszenierung, einen Werkausschnitt von Teil II, 3.Akt. Der Regisseur hatte uns einen glänzenden Vortrag gegeben, doch kam dann eher Verwunderung über die Zeitfremdheit der Aufführung, das recht hölzerne Spiel und die Sprachgestaltung auf. Die "Zähme mich!"-Szene aus St. Exupery's Kleinem Prinzen zum eurhytmischen Ausklang an einem anderen Abend war hübsch, aber zahm. Ein begeistertes Lob dagegen für Marco Bindelli's "Musikalische Betrachtungen zur Seelenwelt in Mensch und Tier", die uns allmorgendlich einzustimmen suchten, die waren für mich alleine schon den Tagungsbesuch wert! "Die Gemeinschaft zwischen Mensch und Tier zeigt sich in der Stimme!" - so führte er den ganzen Saal zu früher Stunde von Stampfen zu Klatschen zu harmonischem Singen.

Für die vielen Teilnehmer aus fünf Kontinenten waren der wohl arbeitsreichste und wichtigste Teil der Tagung die zahlreichen Fach- und Übungsgruppen, für die diesmal auch viel Zeit zur Verfügung stand. Sie waren, vielen Berichten zufolge, auch dieses Jahr wieder hochkalibrig geführt und sehr ergiebig für die Vertiefung der Themen. Diese Gruppen sind ja stets das "Fleisch" auf dem Vortragsgerippe einer solchen Konferenz. Das Blut dagegen fliesst in den Kaffeepausen! In diesen konnten wir Einblicke in internationale Initiativen der biologisch-dynamischen Bewegung gewinnen, bestehende Kontakte pflegen und neue knüpfen.

Auf der Rückreise fielen mir einige Sätze Peter Sloterdijks1 ins Auge, ein Nachbild dieser Tagung: "Für die aktuelle Menschheit wird ihr reales gemeinsames Haus im Augenblick seiner Zerstörung zum erstenmal insgesamt und richtig sichtbar. ... Die alte Lehre von der Weltweisheit verwandelt sich in eine planetarische Fakultät der Weltwache - eine neue mobile Universität." Möge der Weltgeist weiterhin seine Adresse auch an der Hochschule in Dornach haben! Mein tiefer Dank an die Organisatoren und Beitragenden, es waren gelungene und wichtige Tage.

Tyll van de Voort, Oaklands Park, Newnham, United Kingdom