Lebendige Erde 5/1999:

Biodynamisch

Harmonie der Pflanzengestalt (Auszug)

Dietrich Bauer

Harmonie in der Gestalt der Pflanze wird als Schönheit empfunden. Kann – oder muss vielleicht daher – Schönheit ein Zuchtziel sein?
  Harmonie heißt ja, dass in einer gewachsenen Gestalt die immer im Widerstreit stehenden Extreme zu einem vollen Ausgleich kommen. Das bedeutet aber nicht Entspannung und Egalisierung, sondern – unter Beibehaltung der Spannung – die volle Entfaltung aller unter den jeweiligen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten zu einem höheren Ganzen. Die Fähigkeiten der Pflanze werden also zu einem Optimum geführt, so dass möglichst viele Eigenschaften zur Erscheinung kommen können. Für eine harmonische Erscheinung scheiden damit sowohl "Verkümmerung" als auch das "Überwuchern" aus.
  Als ein Anschauungsbeispiel kann uns die Blattmetamorphose dienen, und zwar sowohl die Verwandlungsreihen vom Jugendblatt einer Pflanze bis zu deren Blüte, als auch die Teilverwandlung vom Jugendstadium zum Ruhestadium – zum Beispiel Knospe, Kopf – oder vom Ruhestadium zum Blütenstand.
  Da gibt es bestimmte Formen, die dem Entwicklungsstadium genau entsprechen, zum Beispiel Jugendform, Hüllblatt usw. Im weiteren Verlauf der Entwicklung gibt es aber auch die Übergangsformen von einem zum nächsten Stadium. Diese muss es geben. Kommen aber die Formen der einzelnen Stadien nicht rein zum Ausdruck, sondern wirken die Stadien immer ineinander, ergeben sich Formen, die den Widerstreit verschiedener Tendenzen zum Ausdruck bringen. Diese Formen erleben wir im geschulten Betrachten als unausgewogen, disharmonisch. Überwiegen diese Übergangsformen, das heißt, kommt es nicht zu einer reiner Ausprägung der Stadien an einer Pflanze, empfinden wir diese Pflanze als unharmonisch und – nach oben angedeuteter Analyse – mit Recht.
  Tiefer angeschaut, versteht man die Erscheinung einer Pflanze als "Zeitgestalt". Die Pflanze trägt "Organe" – zum Beispiel Blätter – an sich, die aus verschiedenen Wachstumsstadien stammen.
  Das Pflanzenwachstum lebt sich dar als ein rhythmischer Prozeß. Die "Stadien" kann man damit als "Ausschlag" des Rhythmus in eine bestimmte Richtung auffassen, der zunächst stark ist, um dann vom nächsten Stadium überwunden zu werden, damit sich dieses ausprägen kann. Gleichzeitig strebt das Wachstum einer Pflanze unaufhaltsam (im eigentlichen Sinn des Wortes) auf ihren Höhepunkt hin, der letztlich immer die Blüte ist, um damit ihr Ziel zu erreichen, das in der Samenbildung liegt. – Hier ist die größtmögliche Extremheit zu sehen: die vollkommenste Ausprägung in der Erscheinung – Blüte, die stärkste Zusammenziehung und das Nichterscheinen – Same.
  So sehen wir also in der "Harmonie der Gestalt" zugleich die harmonische Entwicklung, das heißt die Fähigkeit der Pflanze, unter den ihr gegebenen Bedingungen optimal zu wachsen.  Je lebendiger und anpassungsfähiger eine Pflanze ist, um so harmonischer wird ihr Wachstum sein. Selbstverständlich kann dieses unter extremen Bedingungen, die die Anpassungsfähigkeit einer Pflanze übersteigen, nicht der Fall sein.
Abb.: Blätter von Möhrensorten: feinlaubiger Typ