Lebendige Erde 5/2002:

Biodynamisch

Die Evolution der Haustiere

Manfred Klett

In der frühesten Erdenzeit existierte der Mensch als rein seelisch-geistiges Wesen. Auf dem Wege seines Erdenabstiegs schied er vorzeitig alles aus, was die Entwicklung seiner irdisch-leiblichen Organisation hemmte. Das spiegelt sich im Werden des Tierreichs. In aufeinander folgenden Evolutionsschritten traten drei Vierergruppen von Tierstämmen auf. Was beim Menschen sich zur ausgewogenen Einheit in der Dreiheit entwickelt hat, das findet sich im Tierreich auseinander gelegt und in schier unendlicher Spezifikation verselbstständigt. Der Mensch ist das Kompendium des Tierreichs. Das Zeitalter der Tierwerdung umspannt die Lemuris und endet in der Atlantis, in geologischer Terminologie von Paläö- und Mesozoikum bis Tertiär. In der Mitte des Tertiärs klingen die großen Schritte der Tierevolution allmählich aus. Mit diesem Ausklang kommt es in der Entwicklung des Menschen zur Ich-Begabung. Schließlich betritt auch er in einem physischen Leib die Erde.

Höhlenzeichnung, Lascaux

Während der Eiszeiten, zum Ende der Atlantischen Periode, beginnt der Mensch aus seinen Impulsen heraus die Erde umzugestalten. Noch ganz seinem geistigen Ursprung zugewandt, begründet er zu einzelnen Tierarten ein unmittelbares, sakral begründetes Verhältnis und beginnt daraus, deren Führung zu übernehmen. Es ist der Entstehungsmoment der Haustiere. Durch menschliches Eingreifen entstanden charakteristische Veränderungen im Knochenbau, im Stoffwechsel und dem seelischen Verhalten einzelner Tierarten. Der Erlebnisraum des Tieres wurde statt der bloss natürlichen die soziale Umwelt des Menschen. Der Weg in das Ausleben der Kreatürlichkeit in der Wildnatur wurde abgelenkt; in der Haustierwerdung öffnete sich die Tierseele gegenüber dem Menschen. Diese Bewahrung im Stadium einer noch bildsamen Jugendlichkeit half zu einer Plastizität in der Artentfaltung, zu einer Formenfülle und Farbausprägung der Haustierrassen.

Im Mesolithikum (13.-9. Jhrtsd. v. Chr.), erscheint in einer Vielzahl von Funden der Hund als ältestes der Haustiere, erstaunlicherweise schon in allen Spielarten von gross und klein, lang- und kurzbeinig usw. Der damalige Mensch muss durch sein Verhältnis zu den Naturwesen und Sternenwelten noch über Fähigkeiten verfügt haben, durch die er direkt auf die Formkräfte der Tierbildung einzuwirken vermochte.

Darauf folgt im 8. vorchristlichen Jahrtausend die so genannte Neolithische Revolution. Mit einem Schlag erscheinen in ihren Haustierformen Schaf, Ziege, Rind und Schwein und alle wiederum in grosser Spielbreite. Der geographische Schwerpunkt liegt im sogenannten "Fruchtbaren Halbmond", dem Bogen, der vom Nil über Palästina, Mesopotamien, Persien bis an den Indus reicht.. Diesen grundlegenden Umschwung von der atlantischen zur nachatlantischen Zeit beschreiben die Mythen der Völker, z.B. das Gilgamesch-Epos. Im Alten Testament ist es Noah, der die Pflanzen- und Tierwelt über die grosse Flut in die Nachatlantis hinüberrettet. Selber zuerst Geschöpf, tritt er jetzt die Führung der Schöpfung an.

Nach den archäologischen Knochenfunden zu urteilen, vollzog sich in dieser Zeit der "Urindischen Kulturepoche" der grösste Schritt in der Haustierwerdung. Aus seinem "Himmelsbewusstsein" heraus vermochte der damalige Mensch im instinktiven Einklang mit den Gruppenseelen der Tierarten Seele und Leib der Tierarten umzuformen und in seinen Dienst zu stellen. In dieser Zeit war er als Hirte Mittelpunkt der Herde, mit der er nomadisierend durch die Lande zog.

Die Herausbildung eines seelischen "Zutrauens" zum Menschen, die Domestikation der Tiere, hatte anatomische und physiologische Veränderungen im Vergleich zu den wilden Artgenossen zur Folge: z.B. Verringerung der Körpergrösse, verkürzter Gesichtsschädel, eine grössere Fruchtbarkeit, das Haarkleid ist stärker gemustert und gefärbt, nicht mehr im Rhythmus des Jahres wechselnd. Die Haustiere haben ein erheblich verkleinertes und weniger durchgestaltetes Gehirn. Der Schritt zum Haustier besteht u.a. darin, dass die Sinnesleistung zugunsten der Stoffwechselleistung zurücktritt. Gleichsam im Sinne eines "Verzichts" vollbringt das Haustier dadurch Leistungen für den Menschen, für dessen Ernährung, Kleidung, Wohnung und für allerhand Hilfsdienste. Heute, im Zuge der Kommerzialisierung der Landwirtschaft, wird diese Überschussleistung nur noch als ausbeutbare Funktion genutzt. Das Haustier wird zum Nutztier.


Im Übergang zur urpersischen Kultur, zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrtausends, vollzog sich in Verbindung mit der Kultivierung der Erde durch den Ackerbau und die Züchtung der Kulturpflanzen die Sesshaftwerdung der Menschen. Das Ich ergreift die noch ganz in den Kosmos geweitete Seelenhaftigkeit des Empfindungsleibes. Das dem Menschen zugewandte Tier tritt in nähere Beziehung zum Ackerbau; es wird mit dem Menschen sesshaft. Als Haustiere treten im 5. und 4. Jahrtausend Pferd und Esel, Dromedar und Lama auf, ebenso Ente und Gans, die Biene und der Seidenspinner. Am Ende der urpersischen Kultur waren die Haustiere und Kulturpflanzen als die "künstlerische" Produktion zweier vorgeschichtlicher Kulturzeitalter so gut wie vollständig vorhanden.

Seit dem 3. Jahrtausend in der altägyptischen und der sumerisch-chaldäisch-babylonischen Kultur bildet das menschliche Ich an der individuellen Herausgestaltung der "Empfindungsseele". Das alte Himmelsbewusstsein lebt nur noch in Erinnerungen des heraufkommenden mythologischen Bewusstseins fort. Die sinnlich-physische Welt, das Tote, wird zum Prüfstein der Individualisierung der Empfindung. Gewaltige Leistungen werden in und mit der mineralischen Welt vollbracht. z, B. die riesigen Pyramidenbauten. Der Umgang mit Pflanzen und Tieren wird zum pflegenden Handwerk im Dienste der Götter. Der praktische Nutzen als Schlacht- oder Zugtier ist noch vollkommen religiös-kultisch eingebunden. Man sieht in den Tieren Wesen, die den Menschen mit den Göttern verbinden. Ja, in den Tieren selbst werden z.T. Gottheiten, die sich durch sie offenbaren, verehrt.

In der griechisch-römischen Kultur (747 v.Chr.-1413 n.Chr.) weicht das mythologische Bewusstsein einem Bilderbewusstsein in Gedanken. Die individuelle menschliche Intelligenz, die Verstandesseele, erwacht, die griechische Philosophie erblüht. Der Gedanke wird als ein Wesenhaftes erlebt, objektiv wie die Sinnesempfindung, als ein Aufdämmern des Freiheitserlebens. Wie als Bild dafür taucht in neuer Weise der Umgang mit dem Pferd auf. Während der Eiszeiten gejagt, in der altpersischen Zeit domestiziert, wurde es im alten Ägypten erst durch den Einfall der Hyksos-Könige um 1550 v.Chr. bekannt, die es vor den Streitwagen spannten. Auch im trojanischen Krieg zieht der frühe Grieche nicht als Reiter in den Kampf, sondern als Lenker des Streitwagens. Das Pferd, das seinen Kopf erhoben über die Horizontale des Rückgrates trägt, wurde zu allen Zeiten im Zusammenhang mit der sich entwickelnden menschlichen Intelligenz gesehen. Es ist ein bedeutsamer Schritt zu Beginn der griechischen Kultur, dass der Mensch selber das Pferd besteigt. Das Pferd trägt den Menschen in die Auseinandersetzung, die er mit seinesgleichen führt. Ross und Reiter wachsen zusammen.


Mit dem Mysterium von Golgatha, der großen Zeitenwende, verinnerlicht sich im Erleben des Christusereignisses das Bilderbewusstsein in der Gemütsseele. Maler im Mittelalter zeigen das Geburtsgeschehen zu Bethlehem wie eine Vorausschau in die Zukunft: das Jesuskind, in einem Stall geboren - die physische Welt darstellend - auf Heu gebettet - das lebendig -ätherische offenbarend - und als Repräsentanten der Tierheit nehmen Ochs und Esel an dem Geschehen teil: die große Botschaft, dass dieses Geburtsereignis nicht nur für den Menschen allein geschehen ist, sondern "für alle Kreatur, die der Erlösung harrt" (Paulus).

Mit der Aufnahme des Christentums erwacht das Ich in der Wärme des eigenen Wesens. Das begründet ein neues Verhältnis zwischen dem Menschen und den ihm zugewandten Tieren. Etwa vom 8./9. Jahrhundert an werden diese nun im wörtlichen Sinne zu Haustieren. Der Mensch nimmt das Tier, vor allem das Rind in sein Haus auf, ein Schritt, der schon bei den Kelten und Germanen angelegt ist. Das geschieht jetzt in der dörflichen Gemeinschaft, in Nähe der Kirche, dem Zentrum des damaligen Soziallebens. Es ist das Geburtsmoment der neuen, christlich inspirierten, abendländischen Landwirtschaft. Aus ihr entstanden die landschaftsgebundenen Haustierrassen, die den Stempel dessen trugen, was der Mensch aus sich gemacht hat. Dies kommt in Legenden wie in derjenigen von Columban dem Jüngeren zum Ausdruck: Er konnte es nicht dulden, dass die christlich geläuterte Seele von einer Natur umgeben ist, in der die Wildheit des Tieres nicht gebannt ist. Ob darin ein Bild für die ganze zukünftige Entwicklung des Mensch-Tier-Verhältnisses zu sehen ist? Darf das wilde Tier allmählich aus seinem Banne an die Erde sich lösen, wenn wir es in uns überwunden haben?

Tier und Mensch: Wohin führen ihre Wege?
 

Wie geht die Entwicklung des Tierreiches unter der Verantwortung des Menschen wohl weiter? Seit dem 15. Jahrhundert ist in der Entwicklung der Menschheit erneut eine gravierende Veränderung im Gang, die Ausbildung der Bewusstseinsseele. Das Bilderbewusstsein wird durch das Gegenstandsbewusstsein abgelöst. Das Tier als beseeltes, kosmisches Wesen entschwindet dem Blick. Es wird zu einem beliebigen stofflichen Gebilde wie alles andere in der Welt, einschließlich des Menschen. Wir werden der daraus folgenden Gefahr nur begegnen können, wenn wir nicht allein emotional empfindend auf die Tierseele schauen, sondern sie in ihrem Wesen geistig erfassen. Dazu verhilft die anthroposophische Geisteswissenschaft. Wir lernen von ihr, wie wir aus der Kraft der Ichbegabung, das Entwicklungsprinzip in die Welt tragend, durch die Reihe der Tiere hindurch geschritten sind, dass wir sie nicht dort lassen können, wo sie angekommen sind. Die im biologisch-dynamischen Landbau angestrebte Geschlossenheit des landwirtschaftlichen Organismus und dessen Entwicklung zu einer Art Individualität bildet das Gefäss, in welchem nicht das Einzelwesen, die einzelne Pflanzen-, die einzelne Tierart, für sich, sondern die Ganzheit unter dem erkennenden Geist und der führenden Hand des Menschen sich weiterentwickeln wird.