Lebendige Erde 2/2003:

Biodynamisch

Zum Wesen der Ziege

von Michael Walkenhorst
und Jörg Spranger

Ziege und Schaf gehören neben dem Hund zu den ältesten Weggefährten des Menschen. Abgesehen von vegetarischen Kulturen und Religionen unterliegt die Tötung und der Verzehr von kleinen Wiederkäuern weltweit keinem Tabu. Heute werden knapp 600 Millionen Hausziegen weltweit gehalten, mit steigender Tendenz. Wie die meisten Haustiere spielt auch die Ziege in der menschlichen Mythologie eine wichtige Rolle. Sowohl göttliche (Fruchtbarkeit) als auch teuflische Mächte fanden ihre Verkörperung in der Ziege, letztere insbesondere im Bock.

Pfauenziege -. dem Typ nach dem Steinbock ähnelnd

Tierwesen: ein Gesamtbild
Das Wesen eines Tieres lässt sich beschreiben als ein Zusammenspiel von Anatomie, Stoffwechsel, Erbgut und Embryologie, Verhalten und Seelenleben. Letzteres wird, weil nur schwer zu erfassen, oft außer Acht gelassen. In der detailgenauen Gesamtschau dieser Bereiche und im zusätzlichen Vergleich mit anderen Haus- und Wildtieren ergibt sich ein Bild einer Tierart, -rasse oder eines Bestandes, das ebenso detaillierte Rückschlüsse auf die jeweiligen spezifischen Bedürfnisse zulässt. Die Wildform der Haustiere ist besonders zu beachten, wenn es darum geht, Lebensraum und Lebensumstände zu erfassen, unter denen die später zum Haustier gewordene Art entstanden ist.

Das Wesen wilder Verwandter
Ziegen sind Gebirgsbewohner und müssen geschickte Kletterer und Springer sein. Ständige höchste Aufmerksamkeit ist gefordert, um nicht abzustürzen, bzw. um schnell zu fliehen. Tiere des Hochgebirges müssen aus einer extremen Vielfalt überwiegend kargen Futters das nahrhafteste auslesen. Extreme Anpassungsfähigkeit wird verlangt: Lange kalte Winter - die Nahrungsgrundlage kommt fast auf den Nullpunkt-, ein kurzer, nahrhafter Frühling, oft trockene, zum Teil sehr heisse Sommer, in denen das Trinkwasser knapp wird und das Grün verdörrt, und ein kurzer rauer Herbst bestimmen den Jahreszyklus. Jede andere Wurfzeit als der Frühling wäre sinnlos. Licht sowie trockene und sauerstoffarme Frischluft gibt es im Hochgebirge im Überfluss.
So ist die Ziege als Folge dieser Auseinandersetzung mit dem Lebensraum ein extrem anpassungsfähiger, sinneswacher und eigensinniger Individualist. Bis auf polnahe Regionen sind Ziegen inzwischen überall auf der Welt zu finden, auch in Wüstenregionen. Nach dem Kamel kommen sie am längsten ohne Wasser aus.
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Ziegen gehören zur Ordnung der Paarhufer, Unterordnung Wiederkäuer und dort zur Familie der Hornträger. Hier bilden sie in der Unterfamilie der Ziegenartigen (Caprinae) neben den Schafen die eigene Gattung Capra (Ziegen). Von dieser werden drei Gruppen beschrieben - umstritten ist, ob es eigene Arten oder nur Unterarten sind: die Schraubenhornziegen (Markohren), die Steinböcke (Ture) und die Bezoarziegen. Wenn auch alle Ziegengruppen untereinander und mit der Hausziege fruchtbar kreuzungsfähig sind, geht man heute davon aus, dass der eigentliche Vorfahre der Hausziege die Bezoarziege ist.

Anatomie und Physiologie
Die Ziege zählt als Wiederkäuer zu den verdauungsbetonten Stoffwechsel-Gliedmassentieren. Innerhalb dieser Gruppe ist sie von allen Haustieren mit dem aufmerksamsten Nerven-Sinnes-System ausgestattet. In der Futterverwertung ist die Ziege ausgesprochen anpassungsfähig. In Notzeiten waren Ziegen häufig gezwungen, von Küchenabfällen und Zeitungspapier zu leben, Rind und Schaf hätten das wohl kaum überlebt. Andererseits ist die Ziege bei der Nahrungssuche sehr wählerisch. Kaum ein Hindernis (und schon gar kein Gartenzaun) ist unüberwindlich, wenn dahinter ein Leckerbissen wächst. Kräuter, Blätter, Knospen und Rinde werden bevorzugt. Die Ziegennahrung entspricht mit ihren Wärmesubstanzen wie ätherischen Ölen und Harzen sowie in ihrer großen Vielfalt blühender Pflanzen der Sinneswachheit dieses Tieres. Die Futterwahl der Ziege spiegelt sich auch in ihren Verdauungsorganen wieder.
Die kleinen Wiederkäuer sind gegenüber dem Rind hauben- und labmagenbetont. Die allen Vormägen vorangehende Haube dient der mechanischen Zerkleinerung der Nahrung. Der betonte Labmagen, der als Drüsenmagen den Vormägen folgt, zeigt eine Tendenz in Richtung Monogastrier. Durch die geringeren Ausmaße von Pansen und Blättermagen sind die kleinen Wiederkäuer weniger begabt für die mikrobielle Strukturverdauung. Ihre Nahrung sollte daher mechanisch besser zu zerkleinern und hinsichtlich der Kohlehydrate leichter verdaulich sein. Das trifft auf die härteren Blätter in größeren Höhenlagen zu.
Kleine Wiederkäuer übertreffen mit einer 25-fachen relativen Darmlänge sogar das Rind als den Vertreter der Verdauungs-Stoffwechseltiere. Diese erstaunliche Perfektionierung des Darmsystems deutet mit der stärkeren Betonung des (Drüsen-) Labmagens auf die größere Bedeutung der enzymatischen gegenüber der mikrobiellen Verdauung. Das Rind ist ganz einseitig Wiederkäuer, während Schaf und insbesondere Ziege auch andere Verdauungsleistungen perfektionieren. Die Ziege ist überdies der ausgeprägteste Luftweider unter den Hauswiederkäuern. Zwingt man sie, ausschließlich Gras vom Boden zu fressen, erweist sie sich hochgradig anfällig für Parasitosen.
Ein wesenstypisches Merkmal der Ziege sind ihre Hörner. Die aufwärtsstrebende zentrale Hornbildung könnte der lichten Höhe des natürlichen Lebensraums entsprechen. Neben der Höhenlage und damit den Lichteinflüssen wirkt möglicherweise auch die Sinnestätigkeit auf die Hornbildung. Diese ist bei der Ziege besonders ausgeprägt. Neben den Hörnern strebt bei der Ziege auch der Schwanz aufwärts und betont das Ich. In der für die Ziege so bedeutenden Stellung der Hörner ist möglicherweise begründet, dass die hornlosen Ziegenrassen im Gegensatz zu hornlosen Schaf- und Rinderrassen Fruchtbarkeitsprobleme entwickeln. Hornlosigkeit ist für Ziegen offensichtlich so art- und wesensfremd, dass sie natürlicherweise aussterben würde. Auch die von den wilden Vorfahren vorgegebene extreme Saisonalität in der Fortpflanzung hat sich bei der Hausziege, anders als beim Rind und bei zahlreichen Schafrassen bis heute gehalten.

Verhalten
Die Ziege ist ein Herdentier, aber darin mit ausgeprägter Eigenständigkeit. Kapriziös leitet sich von Capra ab und beschreibt eine mit launischem und unberechenbaren Verhalten verbundene Eleganz. Auch mit "Kapriolen schlagen" sind nicht nur übermütige Ziegenkitze gemeint. Anders als Schafe, die als Herde reagieren, reagiert jede Ziege individuell. Sie war seit Urzeiten darauf angewiesen, auf der Flucht oder bei der Futtersuche. Auch in ihrem Verhalten dem Menschen gegenüber ist die Ziege ein ausgeprägter Individualist. In einer Herde lässt sich nicht selten ein Charakterspektrum von der "Niederungskuh" bis zum "Steinbock" finden. Ihre Eigenwilligkeit macht die Ziegen gegenüber ihrem Betreuer nach den Katzen zum autarksten Haustier. Eine Ziege lässt sich nicht bezwingen, allenfalls mit Mühe überlisten. Die sinneswache Ziege erfordert vom Menschen höchste Aufmerksamkeit. Sie fordert damit Zuwendung ein, und zwar wann die Ziege es will. Aktiv verweigerte menschliche Nähe kann für sie existenzbedrohende Folgen haben, andererseits lässt sich der Heilungsprozess von Krankheiten kaum eines anderen Haustieres so sehr durch menschliche Zuwendung unterstützen.

 

Vielfalt der domestizierten Ziege
Nach dem Hund dürfte die Ziege das Haustier mit der weltweit unterschiedlichsten Rassen- und Nutzungsvielfalt sein. Ähnlich wie vom Schaf wird von der Ziege überwiegend Fleisch, Milch und Wolle genutzt. Einige Ziegenrassen sind jedoch den Milchschafen erheblich in der Milchleistung überlegen: Eine gute Milchziege kann das 20fache ihres Körpergewichtes an Milch geben. Die Wolle der Kaschmirziege ist mit einem Faserdurchmesser von 15mm erheblich feiner als die feinste Merinoschafwolle mit 25mm. Ziegen haben, anders als das Schaf, längst den Status des reinen Nutztieres verloren. Insbesondere die Afrikanischen Zwergziegen sind - wie Hund und Katze - zu Heimtieren geworden, einzig zur Freude, als Spielkamerad oder in Streichelzoos gehalten.

Schwarzwaldziege - dem Typ nach Kuhbetont  

Ziege im landwirtschaftlichen Organismus
Nur wenige Vorträge Steiners behandeln das Thema Tier. Zum einen geht er auf die Tiere als Repräsentanten menschlicher Wesensglieder ein (Adler, Kuh, Löwe). Hierfür ist die Ziege in ihrer ausgeprägten Individualität nicht sonderlich tauglich. Zum anderen geht Steiner im Landwirtschaftlichen Kurs zwar auf die Nutztiere ein, lässt jedoch die Ziege unerwähnt.
Im landwirtschaftlichen Betriebsorganismus ist für die Ziege an zahlreichen Stellen Platz. Es gibt sogar Regionen oder Betriebsgrößen, in denen nur die Ziege das wesentliche Nutztier sein kann. In heißen und trockenen Regionen, extremen Hochgebirgslagen oder für Kleinstbetriebe ist die Ziege erheblich besser geeignet als die Kuh. Auch passt die Ziege in reinen Grünlandregionen hervorragend in die tierische "Fruchtfolge". Sie schützt Weiden durch regen Verbiss von Sträuchern vor Verbuschung. Selbst mit stacheligen Brombeerranken nimmt sie es auf. Andererseits gibt es zwar zwischen Schaf und Ziege, nicht jedoch zwischen den kleinen Wiederkäuern und dem Rind gemeinsame Parasiten. Abwechselnde Beweidung durch Rinder und Ziegen beugt folglich Parasitosen beider vor.
Ein wesentlicher Nutzen der Tiere im Betriebsorganismus bestand für Steiner in der Bereitstellung eines guten Mistes. Er spricht hier explizit auch die standortspezifische Vielfalt der Komponenten an. Ziegendung gilt zwar als hitzig und weniger wertvoll als Kuhmist - andererseits ist hitziger Mist für schwere, kalte und lehmige Böden durchaus von Wert. Die Bedeutung der Ziege nicht nur als Mistlieferant für den landwirtschaftlichen Organismus ist längst nicht geklärt und weiter zu ergründen. Sie stellt jedoch längst für viele Betriebe ein unverzichtbares Organ dar.

Kl. Wdk. 25 x
Rind 20 x
Schwein

15 x

Pferd 10 x
Hund 5 x
Huhn 6 x
Ente 5 x
Raubvögel 3 x
 

 

Michael Walkenhorst und Jörg Pranger,
Fachgruppe Tiergesundheit
Institut für biologischen landbau (FiBL)
Ackerstraße
CH - 5070 Frick