Lebendige Erde 2/2004:

Biodynamisch

Geschmacksinn und Qualität

Über das Er-Leben von Lebensmitteln

von Ilse Oelschläger


Die Qualität des Lebens ist eng mit der Qualität der Ernährung verbunden. Dies war für Menschen älterer Zeiten selbstverständlich. Wir entdecken diese Wahrheit erneut, weil das wissenschaftliche Denken und die Industrialisierung diese Anschauung in den Hintergrund gedrängt hat und die dadurch entstandenen Konsequenzen heute klar in Erscheinung treten.
Qualität kann weder gemessen noch gewogen werden. Man kann sie nur über die menschlichen Sinne erfassen. Diese werden allerdings in unserem Zeitalter vernachlässigt, so dass sie abgestumpft sind. Der Vorwurf, sie seien subjektiv, ist voll berechtigt, denn sie können erst objektiv werden, wenn man sie selbst dazu erzogen hat.

Von einer solchen Erziehung der Sinne spricht auch ein Kunstwerk aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, dem Beginn unseres Zeitalters der Bewusstseinsseele. Die Wandteppichserie Die Dame mit dem Einhorn, heute im mittelalterlichen Museum Cluny in Paris, bringt die fünf menschlichen Sinne zur Darstellung 1. Davon sind für unser Thema die Szenen des Geruchs- und des Geschmacksinn, mit denen die das Thema illustrierende Geschichte beginnt, besonders interessant. In der ersten, dem Geruchsinn zugeschriebene Szene ist die „Dame” noch ein recht schüchternes Kind, das im „Geschmacksinn” zu einer anmutigen Jungfrau herangewachsen ist.

Um die Beziehungen zwischen dem fortschreitenden Alter der Dame und den beiden Sinnen zu erkennen, muss man sich zuerst Klarheit über das Wesen und die Funktionen beider Sinne verschaffen. Hierzu ist der Vortrag vom 28.3.1921 (GA 321 ... ), den Rudolf Steiner für Ärzte gehalten hat, hilfreich. Wenn man sich darin vertieft, wird man sich der Bedeutung des Geschmacksinns für die menschliche Entwicklung bewusst und versteht, warum er am Anfang des Lebens dem Geruchsinn folgt. In seinem Vortrag bespricht Rudolf Steiner, wie eine Pflanze zu ihrem artgemäßen Geschmack gelangt. Im Geruchs- wie im Geschmacksinn kommt das unverwechselbare Wesen ihrer Gattung, sowie die Bedingungen, unter denen sie gewachsen ist, zum Ausdruck. Mit ihrem Duft lässt die Pflanze, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, dieses ihr Wesen aus sich ausströmen. Ganz entgegengesetzt dazu bildet sie den Geschmack dadurch aus, dass sie ihr Eigenwesen so stark in ihre Substanz eindrückt, dass diese völlig davon durchdrungen ist. Sie vermaterialisiert es sozusagen. Deshalb muss die Pflanzensubstanz aufgelöst werden, wenn man den Geschmack wahrnehmen will.
Dazu benötigen die sich ernährenden Wesen natürlich mehr Kräfte als zum Wahrnehmen eines Duftes. Solche Kräfte bringen sie jedoch bei der Geburt nur anfänglich mit sich und würden auch die wenigen wieder verlieren, wenn sie sich nicht immer wieder durch Lebensmittel neue Kräfte erschaffen würden. Die volle Bedeutung dieser Tatsache für den Menschen und für das Leben auf Erden allgemein wird besonders deutlich, wenn man die Konsequenzen betrachtet, die zum Beispiel aus den unterschiedlichen Qualitäten der Lebensmittel entstehen.
 

Der Geschmack einer Pflanze kann bekanntlich kräftig oder auch schwach sein. Die Unterschiede entstehen in erster Linie durch die Bedingungen, unter denen die Pflanze (dasselbe gilt auch für das Tier) sich entwickeln konnte. Waren diese ihr günstig, so kann sie ihre Eigenschaften voll entfalten. Dies bewirkt ihre Qualität, welche die Solidität der unsichtbaren Bande zum Ausdruck bringt, die ein Lebewesen in seiner artgemäßen Form zusammenhalten. Solche Bande besitzt alles, was man sinnlich erfassen kann: die Formen, die Farben, der Geschmack, der Geruch, die Haltbarkeit, usw. Durch das Verdauen pflanzlicher oder tierischer Substanzen zerstört man diese unsichtbaren Bande 2.

Qualitätslebensmittel, bei denen diese Bande fester sind, benötigen somit mehr Verdauungskräfte, als wenn die Bande schwächer und somit die Produkte von geringerer Qualität sind. Deshalb schwächen sie jedoch keineswegs die Eigenkräfte des sich ernährenden Wesens, sondern stärken diese, denn ein stärkerer Widerstand ruft Kräfte auf, die sonst unbenutzt im Leib ruhen. Durch einen größeren Widerstand entstehen so entsprechend stärkere Kräfte, die dann für das Leben zur Verfügung stehen. Diese Kräfte braucht man u.a. schon, um sich Nahrung zu beschaffen. Es genügt ja nicht, den Mund zu öffnen oder ihn offen zu halten, wie die Nase zum Beispiel. Damit ein Säugling solche Kräfte in seinem Organismus ausbilden kann, gibt man ihm zuerst die von ihm leicht zu verarbeitende Muttermilch und geht dann stufenweise zu einer schwerer verdaulichen Nahrung über. So werden die für die Verdauung notwendigen Kräfte durch diese selbst geschaffen. Gleichzeitig dienen sie dazu, ein Kind zur vollen Autonomie zu führen.

Was hat nun der Geschmack mit der Verdauungstätigkeit zu tun? Der Geschmack wird im Mund wahrgenommen. Gleichzeitig beginnt die Zerkleinerung und das Einspeicheln der Nahrung. Im Magen verstärkt sich die Verdauungstätigkeit, aber man nimmt nicht mehr den Geschmack selbst wahr. Dagegen spürt man deutlich das von einer guten Mahlzeit verursachte Wohlbefinden. In den Därmen geht die Verdauung kräftig weiter, wobei jegliche Geschmackswahrnehmung verloren geht. Man hat jedoch immer noch ein gewisses Gefühl allgemeiner Zufriedenheit, weshalb man sich in Erwartung einer guten Malzeit gern den Bauch streichelt.

So zeigt sich, dass, wenn die Aktivität stärker ist, die Geschmacksempfindung dahinschwindet, im Mund jedoch, wo die Verdauungstätigkeit erst anfängt, ein erwachsener Mensch sich des Geschmacks voll bewusst wird. Eine Bemerkung Rudolf Steiners in dem bereits erwähnten Vortrag hin weist darauf hin, dass „... das gute Verdauen auf einer Fähigkeit beruht, die gewissermaßen mit dem ganzen Verdauungstrakt zu schmecken versteht [und] dass das schlechte Verdauen gewissermaßen auf der Unfähigkeit beruht, mit dem ganzen Verdauungsapparat zu schmecken”. (S.166)

Zu Beginn des Lebens regt uns der Geruchsinn an, tätig zu werden. Dann dringen wir durch den Geschmacksinn und seine Metamorphose in Verdauungstätigkeit eine Stufe tiefer in die irdische Existenz und gewinnen gleichzeitig durch die von der Pflanze erzeugten schmackhaften Substanzen Kräfte, mit deren Hilfe wir uns in dieser Existenz behaupten können. Gewisse Redewendungen zeigen, dass ähnliche Vorgänge auch im seelischen Bereich stattfinden. Man sagt zum Beispiel, man „rieche”, dass in einer Sache etwas nicht stimmen könne oder dass es Unheil geben wird, man bekomme dagegen etwas „zu schmecken”, wie Prügel oder Elend oder ähnliche Unannehmlichkeiten, die man am eigenen Leib erfährt.

Wenn der Geruchsinn etwas noch Unbestimmtes erahnen lässt, führt der Geschmacksinn in die volle irdische Wirklichkeit ein. So wird in der Serie der Wandteppiche auch die „Dame” über den Geruchsinn und den Geschmacksinn in die sinnliche Welt geleitet. Dann aber hat sie die Möglichkeit, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Sie beschließt, eine höhere Entwicklung anzustreben, indem sie die drei weiteren Sinne des Hörens, des Sehens, des Tastens zu objektiven Wahrnehmungsorganen erzieht.
Dieses Kunstwerk gibt zu verstehen, dass es an jedem einzelnen Menschen liegt, seine Sinne zu schärfen und sie so zu verfeinern, dass er auch die „Fische” fangen kann, die durch die grobmaschigen Netze der herkömmlichen Wissenschaft entweichen. Zu diesen feineren „Fischen” zählt wohl auch all das, was man unter dem Begriff der Qualität versteht. Sie ist einem mechanistisch äußeren Betrachten nicht zugänglich, denn Qualitäten müssen innerlich erlebt werden. Es ist wie bei künstlerisch Erschaffenem – und die Natur ist wirklich die größte Künstlerin: Man kann es nur beurteilen kann, wenn man dessen Wert zu empfinden fähig ist. Dazu muss man sein eigenes Wesen subtiler gestalten und Qualitäten in sich selbst erzeugen, die es ermöglichen, auch die Qualitäten in der Außenwelt zu erkennen.

1 Ein Buch über diese Teppichserie ist in Vorbereitung und soll im Verlag die Pforte erscheinen.
2 Siehe auch Ilse Oelschläger: Denken und Düngen, Seite 133 ff., Verlag die Pforte, 2001

Ilse Oelschläger
3, Av. du Maréchal Joffre,
F-78400 Chatou

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