Lebendige Erde 5/2000:

Editorial

Wozu essen wir eigentlich?

Uns nur mit Energie, Baustoffen und Enzymen zu versorgen, das wäre einfacher zu haben, schließlich gibt es Astronautenkost, Pillen, Vitamine etc., konzentriert und zeitsparend. Doch selbst Reinhold Messner knabberte am Everest mit seinen Gefährten Tiroler Spezialitäten - es geht also beim Essen um mehr und anderes. Für viele Menschen aber ist körperliche Gesundheit die alleinige Funktion des Essens, sie greifen zu funktionalen Lebensmittel. Trotz des Überangebotes scheint etwas zu fehlen an der täglichen Nahrung, sonst würden der gesunde Turbobakterienjoghurt, der Wellness versprechende Sojamulticerealien-brotballast oder der anregende Supervitaminökomilchfrühstücksmix keinen Absatz finden. Muss man wirklich etwas ergänzen, um rundum satt zu werden, zum Wohl- bzw. Fit-fühlen? Oder müssen gar alle Lebensmittel angereichert- werden, wie Babynahrung? Über das "zu wenig" sollte man nicht das "zu viel" vergessen!

Ob wir nun verlernt haben, uns richtig zu ernähren, nicht auf unsere Sinne achten oder ob unserer Lebensweise etwas fehlt, was dann die Nahrung im weitesten Sinne, mit Designer Food oder mit Hochsicherheitsbiokost ausgleichen soll: Das Misstrauen gegen anonyme, immergleiche, konstant schmeckende Nahrung, Lebensmittel, die un-lebendig wirken, ist verbreitet.

Sind Ökolebensmittel da besser, verbinden sie selbstverständlich Genuss, Gesundheit und Vertrauen? Oft ahmt das Angebot nur den allgemeinen Markt nach, ob Öko-nutella oder Fertigknödel, wenn auch mit erlesenen Rohstoffen. Ganz sicher ist mehr gefragt als EU-Öko konforme Produkte, will man als Ökohersteller innovativ und zukunftsfähig sein. "Entwickelnde Verarbeitung" heißt der Versuch, den das Leitbild für die Herstellung von Demeter-Lebensmitteln formuliert, mehr tastend als wissend. Gibt es eine Dimension über das rein Stoffliche hinaus? Was sind aktuelle Bedürfnisse der Verbraucher- und Altersgruppen? Wie müssen Lebensmittel verarbeitet, wie neu gefunden werden, um satt zu machen und anzuregen, Kraft zu geben und Nerven zu stärken, oder einfach um Freude und Neugier mit dem Essen zu verbinden? Kurzum: Wie kann man Lebensmittel voll-wertiger machen?

Der Demeter Anbau tut das seine zur Qualität, doch kommt es auch auf die Eigenschaften, die dem "Rohstoff" als solchem innewohnen an: Welche Reifung, welche Verarbeitungsschritte sind angemessen, für wen eignet sich das Erzeugnis?. Experimentierfreude ist gefragt, die sich auf solide handwerkliche Erfahrungen stützt - einige Beispiele lesen sie hier - denn noch wissen wir wenig für eine Ernährung der Zukunft, meist nur, was wir nicht wollen. Auch die so genannte "kosmische Ernährung", die Umkreis und Seele mit einbezieht, ist bisher nur ein anthroposophischer Arbeitsbegriff. Damit das Thema breite Beachtung findet, ist diese Ausgabe in eine Zusammenarbeit mit der Redaktion des Ernährungsrundbrief entstanden.

Es braucht nicht immer Erfindungen, manchmal ist auch das Einfache gefragt, wenn es mit Hingabe erzeugt und echt ist: Ein feines Butterbrot, ein frischer Apfel, ein blumig-herber Tee sind dann eine sinnliche Meditation. Auf der Expo präsentieren die Herrmannsdorfer Werkstätten Zwiebel, Wurst, Tomate als Kunstobjekte: Ernährung als Kultus zu verstehen, nicht als funktionalen Nachfüllvorgang, entspricht demnächst vielleicht wieder mehr dem kultivierten Menschen des 21. Jahrhunderts.

Ihr
Michael Olbrich-Majer