Lebendige Erde 3/2003:

Editorial

Nachholbedarf

Schon wieder Kühe auf dem Titelbild - wird "Lebendige Erde" zu "Lebendige Herde", wie die Witzenhäuser Agrarstudenten aus Jux ihre Zeitschrift nannten?
Warum nicht? Auch jenseits vom biologisch-dynamischen Kult um die Kuh gilt: Der wesentliche Einkommensanteil für die Biobauern kommt von der Milch (um so schlimmer wenn die Preise sinken, weil sie angeblich vom konventionellen Markt abhängen). Tiere sind notwendig im Ökolandbau, wenn er nachhaltig sein soll: ihr Dung erhält als einziger die Bodenfruchtbarkeit, das zeigen alle Langzeitversuche. Die Biobauern sind also auf diese Tierhaltung angewiesen - können sie aber den Tieren gerecht werden?

Bei der Haltung ist das Meiste klar, bei der Fütterung auch, doch bei der Züchtung sind erst wenig eigene Ansätze des Ökolandbaus sichtbar. Der Schwerpunkt in der Entwicklung der Ökologischen Landwirtschaft lag anfangs vor allem im Pflanzenbau. Die Fragen der Tierhaltung blieben meist den Praktikern überlassen, nur wenige Autoren oder Forscher nahmen sich ihrer an und gaben frühzeitig Anregungen. Auch in der biologisch-dynamischen Bewegung, wo das tierische Element so wichtig ist, gibt es zur Züchtung nur vereinzelt Vorarbeiten. Heute stehen auch auf vielen Ökobetrieben konventionelle Hochleistungskühe, die für ganz andere Bedingungen gezüchtet wurden, mit Folgen für Tiergesundheit und Qualität. Wie im Land- und Gartenbau gilt daher: Der Ökolandbau braucht eine eigene Züchtung!

Mit welchen Bildern geht man als Züchter auf das Tier zu? Um 500 nach Christus waren die Kühe am Widerrist 1,10 m hoch und wogen 200 kg, bei 3 Litern Milch am Tag; heute sind sie dreimal so schwer und geben zehnmal soviel Milch. In den letzen 150 Jahren wurde das Tier nach ökonomischen Kriterien geformt, äußerlich wie innerlich den Zielen des Menschen unterworfen, der wie nie zuvor der Natur entfremdet ist. Die daraus folgende Einseitigkeit unserer Kühe zeigt sich meist in einer Schwäche der Konstitution. Züchten heißt Auswahl treffen: sowohl bei der Auslese, welches Tier bleibt auf dem Hof, als auch bei der Anpaarung. Welche Bilder können Landwirte beim Züchten leiten, sind dem Tier gemäß, werden auch den Bedürfnissen des Menschen gerecht?

In diesem Heft wird danach gesucht. Das Konzept Lebensleistung vereint bereits vorbildlich Nutzung und Tiergerechtheit. Gibt es darüber hinaus besondere biologisch-dynamische Aspekte? Züchtet der ganze "Hoforganismus", bedingen sich Standort, Böden, Futter und Tiere gegenseitig? Wie kam es z.B. zu den zahlreichen regionalen Schlägen der Rassen?

Etwas besonders ist es, die Harmonie einer lange gezüchteten Kuhherde zu spüren: diese Gelassenheit im Stall, die mehr ist als nur Dampf von Wiederkäuern, aufmerksam, aber nicht unruhig. Darin drückt sich die Mensch-Tier-Beziehung aus, aber deutlich auch das Wesen der Gemeinschaft der Einzeltiere, deren körperliches und seelisches Potenzial und den Einklang mit dem Standort umfassend. Bei Demeter Landwirten kommt es also nicht nur auf schöne Hörner an.

Nicht einfach ist es, von der künstlichen Besamung wegzukommen. Bullen, die wie in Bayern mit einem Ökologischen Gesamtzuchtwert eingestuft sind, werden meist per Spermainfusion zu Vätern. Die meisten Ökobauern beziehen Samen konventioneller Bullen. Nur wenige Bauern trauen sich heute noch zu, einen Bullen zu halten: Zu gefährlich, so ist die Meinung - nicht ganz unbegründet. Ich habe beides erlebt, den wilden Stier, der den Lehrling umtrampelt und den zahmen, der sich von der Tochter des Hofes nach dem Ausreißen einfangen und zurückführen läßt. Liegt die Zahmheit des Bullen nicht in unseren Händen - wie wir mit ihm umgehen? Lesen sie dazu unbedingt im Forum. Ohne eigene Stiere geht es auf Dauer nicht. Denn die Ökobauern werden sich um Tiere kümmern müssen, die zu ihnen passen.

Ihr
Michael Olbrich-Majer