Lebendige Erde 4/2003:

Editorial

Können wir uns gesund essen?

Natürlich nicht, ruft der moderne, wissende Mensch: vielleicht gesund ernähren, Risiken vermeiden, Diät halten bei chronischen Krankheiten ja, aber..., und außerdem, wir sind doch gesund! Jetzt noch, mag man da sagen, denn deutlich ist auch, dass die richtige Ernährung der ein oder anderen chronischen Krankheit vorbeugen kann, gesund erhält im Sinne der Salutogenese, dass Kranke besonderer Kost bedürfen, wie auch Sportler und Manager oder geistig Arbeitende. Gerade die ernähren sich bewusst, gewählt und z.T. ausgetüftelt auf ihren Bedarf abgestimmt. Also, da lässt sich etwas bewegen, körperlich wie seelisch-mental.

Das alles betrifft zunächst unsere Auswahl an Lebensmitteln und die Kostform. Aber wirkt auch die Herkunft, die Art und Weise der Erzeugung? Wirken Öko-Lebensmittel anders als konventionelle und biologisch-dynamisch erzeugte besonders? Mit letzteren wird am ehesten dieser Anspruch verknüpft - doch was ist dran? In Demeter Kreisen wird gerne ein Zitat Ehrenfried Pfeiffers weitergereicht: "... Das ist eine Ernährungsfrage" soll Steiner auf dessen Frage geantwortet haben, warum nicht mehr Menschen sich geistigen Impulsen wie der Anthroposophie zuwenden. Selbstverständlich müssten alle nur mehr biologisch-dynamische Lebensmittel essen, dann... na ja , ob die Welt davon wirklich besser würde? Hier, im Sozialen, wo es noch auf anders ankommt, spüren wir die Grenzen dessen, was Ernährung errreichen kann. Andererseits ist Essen eine eminent soziale Tätigkeit, lebt vom Miteinander, hat Konseqenzen für Mitmenschen und Mitwelt, impliziert Verantwortung - man denke an Vegetarier. Im Essen verleibt man sich die Essenz der Arbeit vieler anderer Menschen unmittelbar ein - und deren Qualitätsbewusstsein: das geht vom Servierer rückwärts zum Koch, zum Lebensmittelverarbeiter, zum Händler zum Landwirt usw.

Das Essen kann also auch Wahrheiten aussprechen - wir müssen sie nur wahr-nehmen bzw. spüren: Wurde da von Anfang an mit Liebe und Verantwortung gewirtschaftet, schon bei der Züchtung, beim Anbau bzw. der Haltung, bei Lagerung und Transport usw. oder war diese Kette der besonderen Hinwendung unterbrochen. Am deutlichsten merken wir das wiederum bei Koch und Köchin. Aber auch anderswo: In dem Möhren-Apfeldrink, den ich mir neulich unterwegs gönnte, war nur Schund drin. Frisch gepresst zwar, aber aus grünen, wässrigen Äpfeln und dünn schmeckenden Möhren mit erdig-holzigem Aroma. Nicht zu Ende gedacht und substanziell ohne Liebe gemacht, dieser Trunk stärkte nicht, sondern zog Kräfte ab.

Leider sagen die Preise keine Wahrheit mehr - der Drink war nicht billig -, aber das Kleingedruckte auf dem Etikett können wir lesen und das Schmecken können wir entdecken und üben. Darüber können wir unausgewogene, unbekömmliche oder auch unehrliche Lebensmittel, die sich z.B. mit künstlichen Aromen über ihre Leere retten, erkennen und schrittweise ausmustern. Denn, ob man über das Essen mäkelt - weil keine Wahrheit darinnenliegt - oder sich daran erfreut, diese Stimmung wirkt sich auch aus, individuell, wie auf eine Gemeinschaft. Freilich gehören dazu viele Faktoren. Übrigens auch Vertrauen.

Vielleicht sprechen auch deshalb so viele Menschen auf exotisch-würzige oder süße Genüsse an, weil unseren alltäglichen Lebensmitteln längst eines abgeht: dass sie wirklich satt machen - auch unsere Sinne. Was der Möhre an Süßem und Nussigem fehlt, wird dann mit Anderem ergänzt. Da sind wir übrigens wieder am Anfang - auch bei einem Grund für den Kurs, den Steiner für Landwirte gab: Der kam nämlich unter anderem deshalb zustande, weil aufmerksame Landwirte bemerkt hatten, dass die Lebensmittel nicht mehr so nahrhaft waren, wie sie sie in Erinnerung hatten und um Hilfe baten. Das war 1924, vor der Zeit der Intensivlandwirtschaft! Ob organische Wirtschaftsweise oder biologisch-dynamische Präparate allein dafür ausreichen, Lebensmittel in diesem Sinne weiter zu entwickeln? Da war sicher mehr gemeint...

Doch zunächst soll es in diesem Heft darum gehen, zusammenzutragen, was Lebensmittel, auch biologisch-dynamische, bewirken können. Ein Übersichtsartikel zu Unterschieden, die aus der Wirtschaftsweise resultieren, vor allem aber ein Bericht von der Ernährungsstudie Forschungsrings stellen fest, dass sich da etwas tut. Aber lesen Sie selbst...

Ihr
Michael Olbrich-Majer