Lebendige Erde 6/2003:

Editorial

Mythos Wald

Es ist Ruhe eingekehrt im deutschen Wald. Lang vergessen die Aufregung Anfang der achtziger Jahre, als das sogenannte Waldsterben sich mit dramatischen Bildern ins Bewusstsein fraß. Noch steht er, der deutsche Mythos. Krankende Wälder – nur eine Phobie bezogen auf die Symbolheimat der Germanen? Mitnichten. Trotz Entschwefelung und Katalysatoren ist ein Fünftel der Bäume so krank, dass sie Blätter lassen. Böden lassen sich eben nur sehr langsam regenerieren.

Dabei sind gerade die Wälder und deren Böden in besonderem Maße für den Naturzusammenhang und den Menschen von Nutzen: Schutz vor Lawinen und Erdrutschen, Biotop, Hüter der Quellen, Frischluftproduzent im regionalen Klima ebenso wie als Regenwald Lunge für unseren Planeten. Multifunktional kann der Wald sein, als Lieferant von Holz und Wild wie als Ort der Erholung und der kulturellen Projektion.

Letztere hat sich längst gewandelt, der Wald ist von der gefährlich-unheimlichen Wildnis, in der Bären und Wölfe, Hexen und Räuber hausten, zur Kulisse für Siedlung und Sentimentalität geworden, die darüber hinwegtäuscht, dass es sich bei den Forsten meistens um Holzäcker handelt. Ab dem Mittelalter wurde der Wald zurückgedrängt, es wurde geköhlert, das Vieh zur Eichelmast in den Wald geschickt, das letzte Stücklein Holz aus dem Wald geschleppt. Das hat sich mit der Industrialisierung und dem Beginn der planmäßigen Forstbewirtschaftung geändert. Heute gibt es in Deutschland soviel Wald, wie schon viele Jahrhunderte zuvor nicht mehr. Einerseits. Doch überwiegen Monokulturen (in Zahlen der letzten Bundeswaldinventur 1990 : 59% der Fläche), ist das natürliche Verhältnis von Laubwald zu Nadelwald auf den Kopf gestellt (30:70 statt umgekehrt), gibt es kaum ausgewachsene Bäume (nur 9% werden mehr als 120 Jahre alt, ) haben 25% der Bäume Stammschäden. Deutschland ist Weltmeister im Waldwegebau (54 lfm/ha). Natürlicher Nachwuchs wird von den überhöhten Wildbeständen verbissen. Die Nachkommen der Erfinder des Nachhaltigkeitsbegriffes müssten dringend nachbessern. Denn es gibt nachhaltigere Methoden als den verbreiteten Alterklassenwald und die mit ihm verbundene Kahlschlagswirtschaft.

Und es gibt lebendigere Wälder – man vergleiche Schwarzwald und Vogesen.

Ökologische Alternativen entstanden schon Ende des 19. Jahrhunderts mit einigen Altmeistern der Forstwirtschaft, setzten sich aber nicht durch. Auch hier hat sich die Aufregung um die Abweichler, die dem Waldsterben folgte, gelegt. Eine naturgemäße Waldwirtschaft wird nicht mehr bekämpft, Dauerwald und Plenterwirtschaft findet man auch in manchem staatlichen Forstbezirk. Wirtschaftlich ist diese Art des Waldbaus, die auf dicke Stämme und gemischte Bestände setzt, auch, ästhetischer allemal. Doch stehen die Revierförster heutzutage oft so unter Rationalisierungsdruck, dass abzuwarten bleibt, wie weit die Waldwende trägt. Den rapide schwindenen Wäldern der Tropen und Subtropen allerdings ist weit schwieriger zu helfen.

Kann man noch mehr Ökologisches im Wald machen, als die Grundsätze der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft zu beachten und sich zusätzlich zertifizieren zu lassen? Das fragten sich Förster und mit Wald befasste Menschen aus dem biologisch-dynamischen Umfeld. Anwendung von Präparaten auch unter heilendem Aspekt, Aufzucht von Jungpflanzen, Aussaatjahre, Fällregeln, dazu liegen erste Erfahrungen vor, auch in der Bewirtschaftung von Wäldern aus dem persönlichen Verhältnis heraus. Aber welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Wald und Umgebung, wie sähe eine biologisch-dynamische Arbeit im Wald als Konzept aus – dazu ist neben dem regelmäßigen Austausch vor allem noch Forschung nötig.

Verständnis für den Organismus Wald statt Klischees und Mythen – das ist dem Wald und engagierten Förstern und Bauern zu wünschen. Schulklassen im Wald und öffentliche Führungen sind ein erster Schritt dazu.

Ihr
Michael Olbrich-Majer