Lebendige Erde 6/2004:

Editorial

Ideale leben und diskutieren

Der Ökolandbau kommt in die Jahre. Der Zahn der Zeit nagt heute heftig am ökonomischen Fundament: Höhlt er auch die Prinzipien aus? Landwirtschaft wird zum industriellen Gewerbe, dieser Trend hat auch den Ökolandbau erfasst. Wie stehen Pioniere wie die von Demeter heute da? Werden sie Geschichte oder können sie noch Vorbild sein?

Ich glaube, es gibt viele Antworten, sie sind auf jedem Hof neu und den Umständen entsprechend zu finden. Dabei ist ein eigentlich betriebswirtschaftlicher Begriff von Bedeutung, die "Verkehrslage". Gemeint ist hier aber die ideelle, außen wie im Innern: je nach Umfeld können durch die Landwirtschaft heute ganz verschiedene Bedürfnisse der Menschen für die sie "produziert", aufgegriffen werden. Sich dessen als Bauern bewusst zu werden, darüber zu sprechen und mit den "Kunden" zu Vereinbarungen zu kommen, ist existenziell, ob nun hochwertige Lebensmittel, Natur/Kultur-Pädagogik, Landschaftserlebnis oder anderes im Vordergrund stehen. Und im "Innenverhältnis": wie stehe ich zu, wie arbeite ich mit meinen Idealen - werden sie nur dann und wann aufgegossen oder strömen sie frische Kraft aus? Nehme ich mir Zeit, suche ich gegebenenfalls Unterstützung oder gebe sie gerne, gemein­schaftlich, mit anderen?

Nicht nur die Höfe, auch die Wirtschaftsweise kann einen verjüngenden Blick vertragen: nur im gemeinsamen Gespräch kommen wir weiter, ob bei der Demeter-Anerkennung, die aktuell neu gefasst wird, in der alltäglichen Praxis, in der gemeinsamen Marktgestaltung mit Demeter-Herstellern oder in der geistigen Suche. Wichtig dazu ist eine Gesprächsatmosphäre, in der der Einzelne in der Gemeinschaft getragen wird und umgekehrt die Gemeinschaft mitentwickelt. Das ganze, nennen wir es Bewegung oder Verband, lebt von Beteiligung, vom "Wir"- Gefühl. Daran muss man, wie in jedem Verhältnis, arbeiten, es entsteht nicht von selbst.

In 80 Jahren wurde eine Menge erreicht: das zunächst namenlose, geheim gehaltene, dann "biologisch-dynamisch" getaufte Baby ist jetzt eine ältere Dame: ein dickes Buch beschreibt ihre Biografie (lesenswert: Koepf/Plato). Ihr Ruf in der Biobranche gilt als solide und originell, steht für Ideen und ideelle Werte, die länger halten als eine Quartalsbilanz. Auch wenn die Zahlen zur Zeit eher ernüchternd sind, die Ideen gehen der Bewegung bisher nicht aus. Ob neue Züchtungen und Sortenmarketing auf Verbandsebene oder tiergerechte, naturschutzrelevante oder kundenbegeisterende Höfe und Landwirte - kein Wunder, dass immer wieder auch Demeter Betriebe Preisträger sind.

Dennoch, das nächste Spiel ist das schwerste, wie es im Fußball heißt. In einer Situation, in der der Ökolandbau in manchen Ländern wieder zurückgeht, erfordert gerade die Äußerlichkeit der Anforderungen neuen Tiefgang, der als Gegengewicht in die Zukunft weisen kann. Für die biologisch-dynamische Bewegung heißt das, sich auf ihre Potenziale besinnen und sie neu diskutieren: Was heißt heute Betriebsorganismus? Wie sieht ein persönliches Verhältnis zu den Lebensvorgängen, die man betreut, heute aus? Was meinte Steiner mit rationeller Landwirtschaft? Ist das mit dem Kosmos und den Präparaten auf meinem Betrieb relevant? Und vor allem: Wie machst Du's?

Die vierte Generation Biodynamiker kann eine Häutung vorbereiten, die auch die Übergabe an die nächste Generation in 20 Jahren im Blick hat. Das geht nur, wenn sie neben dem Markt vor allem das Gespräch sucht: mit Acker und Vieh, mit interessierten Kunden und mit dem Kollegen. Auch mit denen über Demeter hinaus, denn manch ein organischer Bauer verwendet die Präparate und letztlich ist biologisch-dynamisches Gedankengut mehr eine Erkenntnishilfe für die Praxis als ein fertiges Maßnahmenbündel - ein Bildungsgut.

Also reden wir drüber, frei nach Goethe, ("..es gibt nichts erquickenderes als das Gespräch..") oder in Anlehnung an eine Werbeparole: Geist ist geil! Lernen wir, die spirituelle, pädagogische und soziale Dimension der biologisch-dynamischen Idee neu zu entdecken!

Ihr
Michael Olbrich-Majer