Lebendige Erde 5/2000:

Ernährung

Lebensmittel komponieren oder kombinieren?

Vom Nutzen funktioneller Lebensmittel

Petra Kühne,
Arbeitskreis für Ernährungsforschung,
Niddaaue 14,
61118 Bad Vilbel

Es gibt eine Vielzahl von Lebensmitteln, die genau analysiert und in ihrer Wirkung auf den Menschen beschrieben sind. Trotzdem gibt es immer wieder andere Auswirkung als erwartet. Der Grund hierfür liegt häufig darin, dass Untersuchungen besser durchzuführen sind, wenn die Realität vereinfacht, reduziert wird. Man testet ein Lebensmittel und lässt außer Acht, dass der Mensch sich nicht von Monoprodukten, sondern von Gerichten und Lebens.mittelmischungen ernährt. Dies ergibt aber zahlreiche Wechselwirkungen, welche die Einzelwirkung verstärken oder abschwä.chen können. So weiß man, dass die Resorptionsgeschwindigkeit der Nährstoffe von den Begleit.stoffen beeinflusst wird: In der Diabetesdiät ist es für den Blut.zuckeranstieg (glykämischer Index) entscheidend, ob ein trockenes Brot oder ein Butterbrot ge.ges.sen wird, da das Fett die Zuckerauf.nah.me verlangsamt und somit zu niedrigeren Blut.zuckerspitzen führt.

Die biologische Wertigkeit von Proteinen verändert sich durch Kombination verschiedener Eiweiße. Dies führte weg von der Anschauung, dass tierische Eiweiße (als Monoprodukte) den pflanzlichen überlegen sind. Eiweißarten, die ja immer in einer Mahlzeit gemischt sind, können sich gegenseitig aufwerten durch Optimierung der Aminosäuren wie z.B. im Müsli das Eiweiß von Getreide, Milch und Früchten. Die Zufuhr einzelner Aminosäuren kann aber auch zu einem Ungleichgewicht im Darm führen (Imbalance), was die Verfügbarkeit des gesamten Eiweißes negativ beeinflusst. Folge ist, dass man mehr oder weniger Eiweiß essen muss, um auf seinen Bedarf zu kommen.

Der Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitten kommt damit ein großer Einfluss zu, der die Ernährungsqualität sowohl in der sensorischen Komponente (Geschmack, Aussehen) als auch der ernährungsphysiologischen verändern kann. Es kann also sehr bedeutend sein, wie man Lebensmittel zusammenstellt. Umso kritischer sollte darauf geblickt werden, wie sorglos heute Produkte "angereichert" werden mit Nährstoffen, die man gerade für wichtig hält. Hier zwei Beispiele, bei denen die Vor- und Nachteile des Zusatzes bekannt sind:

  • Kleieanreicherung im Brot (verbessert Stuhlgang, vermindert Mineralstoffaufnahme)
  • Calciumanreicherung in Keksen etc. (erhöht Calciumaufnahme, behindert Magnesiumaufnahme).
Es stellt sich daher die Frage, welches Qualitätsverständnis und welche Erkenntnisgrundlagen hinter diesen Empfehlungen stehen? Es lassen sich zwei polare Ansätze unterscheiden:
 
"Natürliches" Lebensmittel
Der Begriff bezieht sich auf ein aus einer Einheit gewachsenes Lebensmittel wie eine Pflanze oder ein Tier. Dieses Lebensmittel zeichnet sich durch einen Zusammenhang seiner Komponenten aus, es ist ein Organismus, der durch Lebenstätigkeit entstanden ist. Zwar besteht er aus analysierbaren Einzelsub.stan.zen, die aber durch ein übergeordnetes Prinzip (Wachstumskräfte) gebildet und strukturiert wurden. Diese natürlichen Lebensmittel stellen die Grundlage jeder Ernährung dar. Der Mensch kann sie durch seine Kulturtechniken z.B. Garen, Braten, Backen verändern, auch mehrere Lebensmittel zusammenfügen wie bei einem Menü.

Funktionelles Lebensmittel
Bei dieser Betrachtung liegt der Erkenntnisansatz auf dem Gewordenen, das in seine Komponenten zerlegt wird. Aus dem Wissen der Einzelkomponenten (Nährstoffe, Wirkstoffe etc.) leitet man dann Funktionen ab wie die antioxidative Wirkung von Vitamin C. Einzelsubstanzen werden somit Wirkungsten.den.zen zugeschrieben. Folglich kann man sie auch einem Lebensmittel zusetzen, um diese Wirkung hervorzurufen oder zu verstärken. Dies ist das Prinzip der funktionellen Lebensmittel.

Aus dem Blick gerät dabei, dass man immer noch von den natürlichen Lebensmitteln ausgeht und dieser nur "anreichert" oder versetzt. Versucht man aber ein gänzlich synthetisches Lebensmittel herzustellen, so ernährt es nicht. ( Eiweiße, Kohlen.hydrate und Fette lassen sich nicht synthetisieren. Man benötigt immer ein Lebewesen zur Produktion.) Hier wendet sich der Blick wieder zu dem Bildeprinzip, dem Lebendigen, das der Mensch mit seinen Methoden nicht erzeugen kann.

Lebensmitteltypus
Natürliches Lebensmittel
gewachsene Qualität + zielgruppengerechte Verarbeitung und Zubereitung (z.B. Garen, Backen etc.)

Funktionelles Lebensmittel
1. Analyse eines Lebensmittels
2. Synthese aus Einzelsubstanzen
 

Auswirkungen des Stoff-Denkens
Die Fixierung auf die Einzelsubstanzen hat eine Reihe von Empfehlungen hervorgebracht, die die Ernährung und auch Diätetik bestimmen. Schaut man genauer hin, so findet man, dass etliche davon heute schon wieder vergessen oder bedeutungslos sind.Im letzten Jahrhundert wurde das Eiweiß überbewertet. Gerade in Hungergebieten meinte man, Eiweißunterversorgung auszumachen. Welternährungspro.gram.me mit eiweißangereicherten Produkten (z.B. Incaparina) wurden angelegt, um die Ernährungslage zu verbessern. Dann entdeckte man, dass nicht Eiweißmangel, sondern allgemeine Unterernährung das Problem war. Von da an wurde es still um die sogenannte Eiweißlücke in der Welternährung.

Ähnlich verhält es sich mit dem Cholesterin. Aufgeschreckt durch die noch immer sehr hohe Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurde das Cholesterin als negativer Nährstoff ausgemacht. Durch große Aufklärungskampagnen ist heute jedem Menschen in den Industrieländern klar, dass zuviel Cholesterin schlecht ist. Bei solchen Kampagnen wird jedoch immer sehr vereinfacht und eine Reihe von Problemen nicht beachtet: Unerwünscht ist zu hohes Blut-Cholesterin. Dies ist aber nicht identisch mit zu hoher Aufnahme von Nahrungscholesterin. Außerdem gibt es mehrere Arten von Cholesterin wie das "gute" HDL (high density Lipoprotein) und das "schlechte" LDL (low densitiy Lipoprotein). Nur das LDL soll gesenkt werden. Heute unterscheidet man zusätzlich gutes "reduziertes" Cholesterin und "schlechtes" oxidiertes Cholesterin. Schlussfolgerung: Cho.leste.rin.senkung der Nahrung allein ist unsinnig, man muss allgemein die Zufuhr an tierischem Fett senken. Außerdem gibt es eine genetische Komponente des hohen Blutcholesterins, die nicht durch Ernährung zu beeinflussen ist. Zahlreiche Diätempfeh.lun.gen waren somit zu rigide oder schlicht überflüssig wie auch spezielle Diät-Lebensmittel. (Petra Kühne: Cholesterin. "Ernährungsrundbrief" Nr. 87, 88 (1993), als Sonderdruck erhältlich)

Ein weiteres Beispiel ist der Koch.salzgehalt der Nahrung. Jahrelang mussten Menschen mit Bluthoch.druck (Hypertoniker) salzarm essen, weil das Natrium als Bestandteil des Kochsalzes den Blutdruck erhöhen sollte. Heute weiß man, dass es salzsensitive und salzre.sistente Typen gibt. Bei einem nutzt also eine Salzeinsparung, bei anderen nicht.
Abb. 1: Für jeden Zweck ein Stöffchen: speziell angereicherte Lebensmittel

Diabetiker vertragen Zucker und mit den Zuckern Saccharose oder Glukose hergestellte Lebensmittel schlecht, das sie nicht genügend Insulin haben, um diesen Nährstoff aus ihrem Blut zu entfernen. Daher wurde jeder Zucker strikt vermieden, lediglich andere süße Stoffe wie Zuckeraustauschstoffe (Fruchtzucker, Sorbit) und Süßstoffe waren erlaubt. Eine Reihe solcher Diabetiker-Süßwaren entstand. Heute sieht die Diät ganz anders aus. Es kommt darauf an, was man in welcher Kombination isst. Süßes mit Fett ist verträglicher. Die Verträglichkeitstests mit Diabetiker wurden aber immer mit reiner Zuckerlösung gemacht, was eben nicht der konkreten Essenssituation entspricht. Daher ist heute mäßiger Verzehr an Süßem erlaubt, Zuckeraustauschstoffe gelten als entbehrlich.

Zur Zeit wird eine hohe Calciumzufuhr als beste Vorbeugung gegen Osteoporose empfohlen, da Calcium der mengenmäßig wichtigste Mineralstoff im Knochen ist. So wird Calcium heute vielfach angereichert in Säften, Keksen, als Tablette angeboten. Wer den Stoff.wechselweg des Calciums vom Darm bis in den Knochen studiert, wird jedoch sehen, dass eine Vielzahl von Hormonen wie auch Vitamin D hier steuernd eingreifen. Ferner fördern oder hemmen eine Reihe von Nahrungsbestandteilen die Resorption von Calcium vom Darm ins Blut. Die Annahme, dass viel Nahrungs-Calcium zu viel Calcium im Knochen führt, ist also ein sehr einfaches Bild. Richtig ist sicherlich, dass zuwenig Calcium ungünstig wirkt. Dies bedeutet aber nicht, das nun besonders viel Calcium auch besser hilft. Es ist nicht einmal vollständig klar, ob es nicht unerwünschte Nebenwirkungen gibt.

Abb. 2: Sind isolierte Substanzen sinnvoller für die
Ernährung als natürlich gewachsene?

Diese Beispiele zeigen, dass ein lineares Denken dominiert. Genau dies vereinfacht aber die Zusammenhänge zu sehr. So wird eine Substanz nach der anderen in ihrer Wirkung erforscht und verdrängt die vorherige. Im Augenblick sind gerade die bioaktiven Substanzen an der Reihe.

Der andere Weg sieht von dem Stoff einmal ab und schaut auf die Stoffbildungsvorgänge im Organismus. Damit löst man sich von der Funktion einzelner Nährstoffe und kommt zu der Struktur. Sie gehört noch zu dem Gewordenen, bezieht aber bereits die Umgebung mit ein und bleibt nicht bei einem Nebeneinander von Einzelsubstanzen stehen. So entdeckt man zunehmend Wechselwirkungen und hat auch erfahren, dass isolierte Substanzen nicht die Wirkung aufwei.sen, die sie in der Pflanze hatten. Das Ganze ist also mehr als seine Teile. Diese Anschauung führt weg vom Baukasten-Denken bei Lebensmitteln und von einzelnen Nahrungsergänzungen.

Eine andere Ernährungsan.schau.ung ist somit in erster Linie von unserem Denkansatz abhängig. Die Aneinanderreihung von Fakten zum Gesamtbild führt zum Nährstoff-Denken, zur Kombination von Lebensmitteln. Das Denken vom Ganzen aus, von der "Idee" eines Lebensmittels, einer Pflanze führt zur Komposition, zur Beachtung des Ganzheitlichen.
 

Umgang mit Lebensmitteln
Der Mensch verdaut seine Nahrung, in dem er die Lebensmittel abbaut und an diesen Schritten lernt, seine eigene Körpersub.stanz herzustellen. Er braucht also das Ganze, um Teile daraus zu machen (Petra Kühne: Zeitgemäße Er.näh..rungskultur zwischen Natur und Labor. 52 S. Schriftenreihe "forum zeitfragen". Menon Verlag Heidelberg 2000). Warum gibt man ihm nicht gleich die Teile wie bei einem angereichertem Lebensmittel? Die Abbauschritte der organischen Struktur sind offenbar wichtig, um den Menschen zu eigener Gestaltung seines Körpers zu befähigen. "Natürliche" Lebensmittel ermöglichen dies, nicht aber isolierte Substanzen, die unverdaut den Darm passieren und dort resorbiert werden. Sie sind eigentlich Ballast, der Mensch lernt nicht von ihnen, wird eher überwältigt von ihnen.

Wer so Stoffwechsel-stark ist, dass er diese Anregungen durch das Lebendige nicht oder nur eingeschränkt braucht, kann diese Nahrung vielleicht gut verwerten. Es ist zu befürchten, dass diese Kost viele Menschen langfristig eher schlapp und antriebslos macht.

Diese Anschauung beinhalten vielfältige Aufgaben für Landwirtschaft, Verarbeitung und Küche. Wie schafft man Anbaubedingungen, die die Pflanze in dieser Hinsicht kräftigen? In der biologisch-dynamischen Wirt.schaftsweise versucht man seit 80 Jahren, dieses Prinzip umzusetzen. Und wie verarbeitet man, um dem Menschen und seinen sensorischen, gesundheitlichen und auch diätetischen Bedürfnissen entgegenzukommen? Hier setzt die eigentliche Kultur von Landbau, Verarbeitung und Küche ein – Lebensmittelkomposition statt Kombination.

Nicht Nährstoffe fehlen in der Nahrung, sondern Anregungs- und Gestaltungskräfte. Dies ist die zukünftige Aufgabe: Lebensmittel aus ihren Lebenszusammenhän.gen heraus für den Menschen zu züchten, anzubauen und zu verarbeiten. Dies ist weder ein Schritt zurück zu der Aussage "Lasst das Natürliche so natürlich wie möglich" noch ein gänzliches sich Entfernen von der Natur zum Techno-Food. Der Mensch muss die ihm gemäße Mitte finden, die eine Weiterentwicklung der Naturgrundlagen ist – hin zu einer zukunftsfähigen Ernährungskultur. Einfach ist dies nicht, erfordert der Weg doch Men.schenkenntnis und Menschenliebe, Ideen und Innovationsfreunde.
 

Food design
"Und was wünscht sich der Kunde, wenn er Durst verspürt? Markt.analysen fanden es heraus: am meisten gelüstete es die Deutschen bei innerlicher Trockenheit nach Kaffee, Orangensaft, Mineralwasser oder Milch. Warum nicht einen Cocktail aus allen Komponenten, um eine möglichst breite Käuferschicht für den Durstlöscher zu interessieren? Die Lebensmittelfirma nahm als Grundstock für ihr Produkt zunächst 10 % Milch. Statt Mineralwasser aber nahmen sie normales Wasser und peppten es mit Mineralien und Spurenelementen auf. Kaffee gaben sie in Form von purem Coffein dazu, Orangensaft als Konzentrat. Mit Traubenzucker, der sofort ins Blut geht, powerten sie ihre Kreation zum "Energietonikum". Um Kalorien abzuspecken, verwendeten sie zwei Süßstoffe: Acesulfam und Aspartam. Mit Zitronensäure steigerten sie die Haltbarkeit. Dazu packten sie eine komplette Tagesdosis Vitamin A, C und E hinein. Den Geschmack korrigieren sie mit einer Palette naturidentischer Aromastoffe. Das Er.gebnis wird inzwischen im Su..per.markt für 99 Pfennige gut verkauft."
aus: Annelies Furtmayr-Schuh: Postmoderne Ernährung. Trias-Thieme Verlag 1993, S. 101/102