ernährung

Lebendige Erde 6/2005:

Ernährung

Anthroposophische Ernährung
Ernährungsform oder Wissenschaft?

Von Petra Kühne

Immer wieder gibt es Ernährungsformen, die gerade "in" sind. Zur Zeit ist es die South-Beach-Kost, eine Ernährung mit wenig Kohlenhydraten, der low-carb-Ernährung ähnlich. Vor einiger Zeit war es die Markert-Diät oder Vollwerternährung. Wie sieht es mit der anthroposophisch orientierten Ernährung aus? Aussagen wie "Kochen nach Renzenbrink" oder "Steiner-Ernährung" sind zum Glück selten geworden. Aber gibt es eine anthroposophische Ernährung? Anthroposophie ist die von Rudolf Steiner geschaffene Geisteswissenschaft, die sich in verschiedensten Fach- und Lebensbereichen auswirkt. So umfasst sie auch das Gebiet der Ernährung, der Lebensmittel und deren Wirkung auf den Menschen. Jede Ernährungslehre basiert auf einer geistigen Grundlage. Bei der konventionellen Ernährungswissenschaft ist es die Naturwissenschaft, die mit den Erkenntnissen Descartes begann. Die anthroposophische Ernährungslehre oder Ernährungswissenschaft beruht auf der Anthroposophie. Die Folge dieses geistigen Bezugs ist eine andere Darstellung und Bewertung von Natur, Lebensmitteln sowie des Menschen und seinen Ernährungsbedürfnissen.
 
Ernährungswissenschaft oder Ernährungsform?

Es hat sich aktuell eingebürgert, nicht mehr von Ernährungslehre zu sprechen, sondern von Ernährungsform oder Ernährungskonzept. Ersteres betont mehr die allgemeine Ernährungspraxis, das Konzept mehr eine abgegrenzte, spezielle Form der Ernährung. So ist ein aktuelles Ernährungskonzept gerade "Low carb - high protein", eine kohlenhydratreduzierte, eiweißreiche Kostform. Solche Konzepte unterscheiden sich darin, ob es günstiger ist, mehr Kohlenhydrate, Fette oder Eiweiße in der Nahrung zu haben oder nicht. Ihre gemeinsame Basis sind die Nährstoffe.

Nur wenige Ernährungsformen basieren auf anderen Grundlagen als der Naturwissenschaft. Dabei handelt es sich meist um sogenannte "vorwissenschaftliche", d.h. vor der Neuzeit entstandene Ernährungslehren. Sie lehnen sich oft an Religionen an wie die Fünf-Elemente-Ernährung (Buddhismus) oder Ayurveda (Hinduismus), die in moderner Weise mit der Naturwissenschaft erweitert werden. Im deutschen Kulturraum ist solche alte Ernährungslehre die Hildegard-Ernährung (nach Hildegard von Bingen, 1150 n.Chr.), die natürlich nicht auf Nährstoffen beruht, weil sie noch nicht bekannt waren, sondern von Wirkungen auf den Menschen ausgeht, die mit Kräften oder Empfindungen (z. B. warm, kalt) beschrieben werden.
 

Erweiterte Naturwissenschaft

Die anthroposophische Ernährungsanschauung ist dagegen in der Zeit der Naturwissenschaft entstanden, erweitert diese jedoch, wächst sozusagen über die Naturwissenschaft hinaus. Dies äußert sich z.B. darin, dass ätherische Kräfte in ihrer Wirksamkeit neben den Nährstoffen einbezogen werden. Materie wird nicht nur als Materie gesehen, sondern in ihr wird die geistige Wirksamkeit erfasst. Daher ist anthroposophische Ernährungswissenschaft also gerade kein Ernährungskonzept oder eine Ernährungsform, sondern sie betrachtet Ernährung von einem anderen, erweiterten Standpunkt aus.
 

Ernährungspraxis: Verantwortung ist gefragt

Eine Ernährungsform beinhaltet recht genaue Angaben zum richtigen Essen. So werden Lebensmittel empfohlen oder abgelehnt. Bei der Blutgruppendiät soll man bestimmte Produkte je nach Blutgruppe bevorzugen oder meiden. Bei der Low-carb-Kost minimiert man die Kohlenhydrate und isst mehr Eiweiß oder bei der Trennkost vermeidet man Brot und Käse oder Wurst gemeinsam zu essen, da Kohlenhydrate und Proteine nicht in einer Mahlzeit verzehrt werden.

Gerade diese Angaben vermeidet die anthroposophische Ernährungswissenschaft. Ihre Ernährungspraxis ist beispielsweise nicht vorgegeben vegetarisch oder gemischtköstlerisch, denn diese Spezifizierung ist in die Entscheidung des einzelnen oder bei einer Gemeinschaftsverpflegung in die einer Institution gestellt. Zwar wird die lakto-vegetarische Kost als vorteilhaft angesehen, aber nicht konzeptionell vorgegeben. Dies beinhaltet aber nun keine Kost nach dem Prinzip "Ich esse, was mir schmeckt", sondern erfordert auch eine Verantwortung des einzelnen für seine Ernährung. Auf dieser Ebene müssen die Entscheidungen getroffen werden. Bei einer Gemeinschaftsverpflegung entscheidet der Betrieb, die Schule oder Institution über das Verpflegungskonzept.

Damit gibt es große Unterschiede zu anderen Ernährungsformen wie der Trennkost, der Blutgruppen-Diät oder der Vollwerternährung. Dies ist oft ein Problem, weil von der anthroposophischen Ernährungswissenschaft auch verbindliche Aussagen für die Ernährungspraxis erwartet werden, die jedoch nur als Angebot gemacht werden. Verschiedene Hinweise sind auch situationsabhängig oder individuell verschieden z.B. wie viel Rohkost jemand verträgt oder wie man mit Tiefkühlkost umgeht. Ziel ist es, Entscheidungshilfen zu geben, nicht Entscheidungen vorwegzunehmen. Geistesleben ist kein Rechtsleben.

Rudolf Steiner führte dazu in einem Vortrag aus:" Nicht wahr, die Leute kommen und sagen: Ist es besser keinen Alkohol zu trinken oder ist es besser Alkohol zu trinken! Ist es besser Vegetarier zu sein oder Fleisch zu essen! Ich sage überhaupt niemals einem Menschen, ob er den Alkoholgenuss unterlassen soll oder ob den Alkohol trinken soll, ob er Pflanzen essen oder Fleisch essen soll, sondern ich sage zu dem Menschen: der Alkohol wirkt so und so. Ich stelle ihm einfach dar, wie er wirkt, dann mag er sich entschließen zu trinken oder nicht. Und so mache ich es schließlich auch beim Pflanzen- und Fleischessen. Ich sage: so wirkt das Fleisch, so wirken die Pflanzen. Und die Folge davon ist, dass der Mensch sich selber entschließen kann. Das ist das, was man vor allen Dingen in der Wissenschaft haben muss: Respekt vor der menschlichen Freiheit."¹

Es gibt allerdings für die anthroposophisch orientierte Ernährung bestimmte Empfehlungen, die sich aus dem anthroposophischen Natur- und Menschenverständnis ableiten.
 

Biologisch-dynamische Landwirtschaft

Dies beginnt mit der Landwirtschaft, wo Erde, Pflanze und Tier nicht durch Zusatz von "Nährstoffen" wie dem Mineraldünger verbessert werden sollen, sondern durch eine verstärkte Einbeziehung von Lebenskräften, den ätherischen Kräften. Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise unterscheidet sich von anderen ökologischen Richtungen, dass sie über die substanzorientierte Naturwissenschaft hinausgeht und Lebenskräfte durch spezielle Präparate, aber auch Lebensvielfalt auf einem Hof, einer Landschaft anregen will. Dies sagt der von Nikolai Fuchs geprägte Begriff Lebens-Landwirtschaft aus: durch Maßnahmen der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise werden Lebenskräfte in die Naturreiche gebracht. Das wirkt sich auf die Lebensmittelqualität unter anderem im Bereich der ätherischen Kräfte aus. So lautet die Empfehlung der anthroposophisch orientierten Ernährungsanschauung, Lebensmittel aus biologisch-dynamischem Anbau zu bevorzugen, d.h. Lebensmittel, die dadurch lebenskräftig und lebensvielfältig herangewachsen sind.
 

Auswahl der Lebensmittel

Eine der wenigen Grundregeln jenseits von wechselnden Ernährungskonzepten: die Ernährungspyramide formuliert allgemeine Mischkost für Kinder
Eine der wenigen Grundregeln jenseits von wechselnden Ernährungskonzepten: die Ernährungspyramide formuliert allgemeine Mischkost für Kinder
Für Verbraucher stehen heute eine Vielzahl von Lebensmitteln in Supermärkten und auch in Bio-Läden bereit. Wie soll eine Auswahl für eine gesundheitsförderliche Ernährung getroffen werden - für sich selbst, für die Familie, die Kinder oder Senioren? In der konventionellen Ernährungswissenschaft sind Nährstoffmengen definiert für Eiweiß, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralstoffe etc. Sie sind nach Alter, Geschlecht, körperlicher Tätigkeit bzw. besonderen Lebenslagen wie Schwangerschaft oder Stillzeit gegliedert. Man legt sie für den Bedarf an Nahrung zugrunde. Gemäß dieser Vorgaben wird ein "Lebensmittelkreis" oder eine "Lebensmittelpyramide" aufgestellt, in denen die empfehlenswerten Lebensmittel zusammengestellt sind.

Auf dem Gebiet der Lebensmittelempfehlungen gibt es wie anfangs genannt, verschiedenste Konzepte und keine eindeutigen Empfehlungen mehr. Die als "neutraler" geltenden Nährstoffe - die ja Bestandteile von Lebensmitteln sind - können dagegen unabhängig von kulturellen, regionalen oder individuellen Vorlieben - ermittelt werden. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede, nicht jede Ernährungsrichtung ist mit einer solchen statischen Ernährungsanschauung einverstanden. In der anthroposophisch orientierten Ernährung wird versucht, die Lebensmittel als Ganze , nicht die Nährstoffe in Bezug auf menschliche Bedürfnisse zu sehen.
 

Dreigliedrigkeit bei Pflanze und Mensch

Die drei Wesensglieder des Menschen stehen aus anthroposophischer Sicht mit den dreien der Pflanze in Beziehung: Dem Nerven-Sinnessystem entspricht z.B. das Wurzelsytem
Die drei Wesensglieder des Menschen stehen aus anthroposophischer Sicht mit den dreien der Pflanze in Beziehung: Dem Nerven-Sinnessystem entspricht z.B. das Wurzelsytem
Dies betrifft zum einen die grundlegende Strukturierung, die bereits Goethe bei den Pflanzen erkannte. Diese lassen sich in drei Bereiche gliedern: Wurzel - Stängel/Blatt - Blüte/Frucht-Same. Rudolf Steiner erkannte auch beim Menschen eine Dreigliedrigkeit als Gestaltungsprinzip. So unterschied er drei Funktionsbereiche: Nerven-Sinnes-System, Rhythmisches System und Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. Diese Funktionsbereiche des Menschen haben eine Verbindung zur sogenannten "umgekehrten" Pflanze, d.h. Wurzel zum Nerven-Sinnes-System, Blatt zum rhythmischen System und Blüte-Frucht zum Stoffwechsel-Gliedmaßen-System.

Danach wirken die pflanzlichen Lebensmittel gemäß ihrer Zugehörigkeit zu den drei Wesensgliedern: z.B. Wurzelgemüse wie Möhren, Schwarzwurzel, Yam oder Rote Bete vor allem auf das Nerven-Sinnes-System mit dem Kopf; Salate, Kohl oder Spinat auf das rhythmische System mit Lunge und Herz sowie Früchte wie die Obstarten oder Paprika auf das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System mit den inneren Organen und Muskeln. Will man sich nach dieser Zuordnung ernähren, so ist es sehr ausgeglichen, wenn man von allen drei Pflanzenbereichen täglich etwas zu sich nimmt. Will man nur einen Bereich stärken, z.B. bei nervlicher Belastung den Kopf, so wären Wurzelgemüse angebracht.
 

Auf Pflanzenfamilien achten

Eine weitere Empfehlungsgrundlage stellen die Pflanzen dar. Sie prägen über die Art hinaus ihre Eigenschaften aus. Die Doldenblütler wie Möhre, Pastinake, Dill oder Koriander entwickeln beispielsweise eine Leichtigkeit und Hinwendung zu luftigen, leichten Strukturen, was an ihren hohlen Stängeln den gefiederten Blätter etc. zu sehen ist. Diese familientypischen Eigenschaften üben über das Pflanzenteil ihre Wirkung bei der Ernährung aus. Jemand, der also ein leichtverdauliches Gemüse bevorzugt, ist mit ihnen gut beraten.
 

Tierische Produkte: Fleisch und Milch wirken unterschiedlich

Bei den tierischen Lebensmitteln kommen andere Beziehungen zum Tragen, die vom Wesen des Tieres bestimmt sind und sich in gewisser Modifikation beim tierischen Produkt zeigen. So stammen Rindfleisch und Kuhmilch beide vom Rind, haben somit auch einen Wesenbezug zu diesem Tier, wirken aber trotzdem sehr verschieden. Während das Fleisch Bestandteil des tierischen Organismus war, durchblutet und vom seelischen Lebens des Tieres erfüllt, ist die Milch ein Absonderungsprodukt, das kurz nach der Erzeugung den Tierkörper verlässt und auch nicht Bestandteil des Tierkörpers wie ein Gewebe war. Die Milch ist daher frei von den seelischen Niederschlägen, wohl aber geprägt bis in den Substanzgehalt vom Rind wie eine Ziegenmilch von der Ziege.²

Die Lebensmittelempfehlungen der anthroposophisch orientierten Ernährung sind daher Darstellungen von Wirkungszusammenhängen, aber keine individuellen Empfehlungen. Die Bedürfnisse der Menschen sind dafür zu verschieden. Außerdem sind die meisten Lebensmittel verarbeitet und gemischt, was andere Wirkungen entfaltet als ein rohes Gemüse oder ein Becher Milch. Das Ziel der anthroposophisch orientierten Ernährungskultur ist es daher, den Verbraucher zu ermutigen und auch zu befähigen, seine Ernährungsbedürfnisse selbst und immer besser zu erkennen und gerade nicht nach theoretischen Empfehlungen zu essen.
 

Kurz & knapp

  • Anthrophosopische Ernährungslehre schreibt keine Ernährungsform oder -konzepte vor.
  • Auf biologisch-dynamischen Anbau und die Wirkung der Lebensmittel beim Menschen (Lebenskräfte) wird Wert gelegt.
  • Die Ernährungsauswahl kann individuell verschieden sein.
 
 
Quellen

  1. Rudolf Steiner: Ernährung und Bewusstsein. Themen aus dem Gesamtwerk Stuttgart 1981. S. 142f.
  2. Alex Beck, Petra Kühne, Friedrich Sattler: Milch und Milchprodukte heute - Aspekte zur Demeter-Milch. Bad Liebenzell 1998