Lebendige Erde 1/2003:

Essay

Lebenslandwirtschaft braucht den Vertrauensmarkt

Nur mit neuen Marktformen und dem Verbraucher als Mitgestalter hat der nichtindustrielle Ökolandbau Zukunft

von Nikolai Fuchs

Nach dem quasi-Zusammenbruch der Börse wegen Bilanzfälschungen und Raffgier der Manager ließ sich selbst George W. Bush dazu hinreißen: "Der Markt gründet auf Vertrauen. Ohne Vertrauen geht es nicht." Was für die allgemeinen Märkte gilt, gilt insbesondere für den Lebensmittel-Markt. Der Autor zeigt einige Gesichtspunkte dazu auf.

"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" - mehr oder weniger tönt dieses Lenin in den Mund geschobene Zitat durch all unsere Köpfe. Machen wir uns jedoch von diesem Dogma frei, so stellt sich die Wirklichkeit viel differenzierter dar:

Im ökologischen Landbau vollzieht sich still und leise ein Paradigmenwechsel (wie in LE 4/2002 bereits dargestellt): Das Prinzip der Prozesskontrolle wird durch das Prinzip der Produktkontrolle zunächst ergänzt und dann voraussichtlich zunehmend ersetzt werden. Bisher galt im Ökolandbau, wenn der Prozess stimmt, stimmt auch das Produkt, das wird nun relativiert. Was ist nun, wenn ökologische Massenware zum Beispiel für konventionelle Supermärkte produziert wird? Dann entstehen arbeitsteilige, anonyme Produktions- und Herstellungssysteme. Bio-Verarbeitungsbetriebe, die eine Größe erreicht haben, dass sie ihre Zulieferer nicht mehr kennen, sind auf Produktkontrolle angewiesen. Der damit eingeschlagene Weg des anonymen Marktes zwingt zu Sicherungssystemen, die mit Betrugsfällen als Normalität rechnen, der Ruf nach Kontrollen, möglichst "unabhängig", möglichst "staatlich" wird laut. Vor allen Dingen aber müssen sie sich auf das Produkt selbst, und nicht mehr lediglich auf den Prozess beziehen. Das führt zu einheitlicheren und größeren Partien, zu einer Bevorteilung industrieller Herstellungsstrukturen - das System der Produktkontrolle zieht wiederum industrielle Fertigung nach sich.
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Die Nitrofen-Krise zeigt, dass aber genau diese industriellen Strukturen anfällig für Missbrauch sind - mit Ruf nach weiterer Kontrolle, womit sich der Kreis immer schneller dreht. Dabei wächst der Marktdruck.

Im Lebensmitteleinzelhandel wird schon lange kein Geld mehr verdient, nur die Discounter legen zu. Der Verdrängungswettbewerb unter den Lebensmittelketten ermöglicht den Konsumierenden Lebensmittelpreise, die kaum noch Realitäten abbilden. Der Druck zur Minimierung der Kosten, vor allem im Bereich Distribution und Personal, betrifft heute auch das Öko-Segment. Diejenigen, die dieses Geschäft am skrupellosesten aus- führen, gehören gemeinhin zu den Erfolgreichsten der Branche. Mit anderen Worten: Auch der Bio-Markt konventionalisiert sich.

Wie immer sind die Landwirte am ehesten betroffen. Sinkende Verkaufs-Preise ihrer Erzeugnisse sind nur zum Teil durch die staatlichen Direktzahlungen kompensierbar. Der Druck, höhere Deckungsbeiträge pro Hektar zu realisieren, führt zur Spezialisierung z.B. Ausweitung des Gemüseanbaus, mit der Folge, dass vermehrt in diese Produktionsrichtung in Maschinen, Lagerung und Reinigung (Möhrenwaschanlage) investiert wird. Gestiegene Qualitätsanforderungen erhöhen die Kosten hinsichtlich Hygiene und Aufbereitung weiter. Ein immer dünner werdendes Händlernetz führt zu monopolartigen Abnahmestrukturen und somit Abhängigkeiten, die sich meist preismindernd auswirken. Auf der anderen Seite bestimmen Importe bis in den frühen Sommer hinein das Marktgeschehen, die heimische Erzeugung bleibt auf ihren Produkten zunehmend sitzen. Der Landwirt steckt zunehmend in der Klemme.

Auch an Handel und Verarbeitung gehen dieses Tendenzen nicht vorüber. Bei geringen Margen müssen über Minimierung der Stückkosten und Umsatzausweitung die Erträge zumindest auf niedrigem Niveau stabilisiert werden. Wachstumsschritte gehen mit Investitionen einher, die nur im krisenlosen Fall einigermassen sicher bedient werden können. Für viele Betriebe stellen kleinste Einbrüche unmittelbar die Existenzfrage. Im Zweifelsfall wird der Druck an die Erzeuger ein Stück weit weitergegeben (klassisches Beispiel die Molkerei, die Milchauszahlungspreise senkt), aber auch das geht nicht unendlich.     
 

Der Verbraucher selbst kann im jetzigen Lebensmittelwirtschaftssystem nach klassisch ökonomischer Sichtweise kaum Märkte nachhaltig in Richtung Qualität und Sicherheit beeinflussen. Seine Kaufpräferenz wird allzu häufig durch gezielte Angebote gesteuert oder durch Nicht-Listung bestimmter Produkte unterlaufen.

Der biologische und insbesondere der biologisch-dynamische Landbau waren aber gerade mit der Prämisse angetreten: Vielfältige Höfe, möglichst regionale Wirtschaftskreisläufe und ein assoziatives Wirtschaften. Ohne Regionalhändler, ohne Verarbeiter der frühen Stunde, die den Bauern die Treue gehalten haben, ohne Demeter-Förderkreise der Verbraucher hätte sich der frühe Demeter-Markt nie entwickelt. Jetzt, wo die Luft dünner wird und das klassische Marktwirtschaftssystem seine Innovationsschwäche offenbart (nur der kommt eine Stufe weiter, der es noch doller treibt als vorher, begleitet von vielen Randverlusten), sind Ideen und neues Handeln gefragt.

Die Neuausrichtung auch für den Markt der Land- und Lebensmittelwirtschaft muss daher Grundphänomene der Lebensmittel-Erzeugung berück- sichtigen, welche jedoch zugleich die Grenzen jeder Produktkontrolle bei Lebensmitteln aufzeigen:

1. Lebensmittel-Erzeugung findet zum allergrößten Teil noch heute in der freien Natur, und nicht in Labors statt. Damit ist Lebensmittel- Erzeugung von wechselnden Bedingungen (Klima, Boden) geprägt. Je weniger standardisierende Produktionsmethoden (chemisch-synthetische Düngung und Pflanzenschutz) eingesetzt werden, desto unterschiedlicher kann das Erzeugnis ausfallen.

2. Was in der "Biographie" eines Lebensmittels geschehen ist, lässt sich daher immer nur punktuell feststellen, da keine dauerhaft kontrollierbare Bedingungen vorliegen (ein Gewächshaus mit Steinwolle und Nährsubstrat, bei dem alle Bewegungen elektronisch aufgezeichnet werden, ist hier die erste Ausnahme). Je weniger künstliche Hilfen eingesetzt werden, umso mehr gibt die ganzheitliche Erfassung der Anbauverhältnisse Auskunft.

3. Das einzelne Lebensmittelprodukt ist so gut wie nicht zu kontrollieren. Es können immer nur Stichproben an Chargen vorgenommen werden. Lebensmittel werden, im Gegensatz etwa zu Auto-teilen, während der "Verwendung" konsumiert. Die Banane oder Tomate, die untersucht wird, steht für den Verzehr nicht mehr zur Verfügung. Bei frischen Lebensmitteln nützen selbst chargenweise Kontrollen nichts - wenn das Laborergebnis vorliegt, ist die Ware in der Regel entweder verzehrt oder verdorben. Lebensmittel entziehen sich also von ihrem Wesen her der Produktkontrolle, den klassischen Kontrollmechanismen. Umso mehr ist den Bedingungen der Erzeugung Rechnung zu tragen.
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Vertrauens-Landwirtschaft von unten aufbauen
Lebensmittel-Sicherheit ist staatlicherseits nicht sicher zu stellen. Dieser Illusion zu folgen hat Konsequenzen, die eine Lebens-Landwirtschaft auf Dauer verdrängen. Lebensmittel-Erzeugung hat andere als in der Industrie geltende Bedingungen. Ein Qualitätssicherungssystem muss dem Rechnung tragen. Es muss die individuelle Vertrauensseite stärken. Das tut es, wenn es immer wieder auf den verantwortungsvoll handelnden Menschen zurückverweist. Dafür müssen folgende Grundsätze einer Vertrauens-Landwirtschaft beachtet werden:

  • Lebensmittel-Erzeugung ist im Allgemeinen so zu organisieren, dass sicher gestellt ist, dass in das Produkt selbst von vornherein nichts Verunreinigendes gelangen darf. Für die gesamte Lebensmittel-Wirtschaft hieße das der Ausschluss aller gesundheitlich bedenklichen Stoffe bei der Erzeugung (z. B. aller Pestizide) und Kontrolle der Prozesse, die umso besser gelingt, je natürlicher die Erzeugungsvorgänge sind.

  • Bei der Erzeugung von Lebensmitteln muss jeder Zukauf ausgeschlossen sein, der nicht unmittelbar nachvollziehbar frei von Verunreinigung ist. Damit bleiben die Erzeugungsverhältnisse natürlich und bei der Prozesskontrolle beurteilbar.

  • Das Prinzip der Vier-Augen-Kontrolle muss konsequent umgesetzt werden: Ein Kontrolleur kommt von aussen, einer kommt von "innen", d. h. kennt die Verhältnisse und kann sie beurteilen.

  • Der Bio-Markt wird sich differenzieren. Dafür ist aus meiner Sicht das Co-Markenkonzept durchgängig zu kommunizieren: Der Öko-Verband, z. B. Demeter, ist für die Prozess-, der Hersteller mit seinem Namen für die Produktqualität verantwortlich. Einen Vertrag bekommen die Hersteller, die glaubhaft machen können, wie sie die Produktqualität sicher stellen können. Dieser Vertrag begründet ein Vertrauensverhältnis. Hierzu finden - um die anderen Vertragspartner zu schützen - Plausibilitätsbesuche des Verbandes beim Hersteller statt.

  • Jeder Handel mit Erzeugnissen begründet ein Vertragsverhältnis zwischen liefernder und aufnehmender Hand: Für jede vom In-Verkehr- Bringer zu verantwortende Handlung haftet der In-Verkehr-Bringer, für alles Weitere ist die aufnehmende Hand selbst verantwortlich. Der Staat schafft dafür lediglich das Regelwerk. Für Unregelmässigkeiten werden eigene Fonds und Garantiesysteme eingerichtet werden müssen. Eine Reduzierung der Mehrwertsteuer auf solche Produkte hätte dem reduzierten Kontrollaufwa nd des Staates Rechnung zu tragen.

  • Alles oben Gesagte lässt sich nur im Fachhandel oder einem qualitätsgeleiteten Lebensmittel-Einzelhandel realisieren. Diesen gilt es auszubauen.

"Aus kontrollierter Erzeugung", lautet das heutige Modewort. Dem gälte es ganz bewusst "Aus vertrauensvoller Erzeugung" entgegen zu stellen.

In einem Konvent für Nachhaltige Landwirtschaft, der momentan von einer grossen Gruppe von Umweltverbänden in Brüssel erarbeitet wird und im Entwurf vorliegt, wird eine viel grössere Selbstbestimmung der ländlichen Regionen gefordert. Das hat Konsequenzen, z.B., dass staatlicherseits nicht mehr durch Hygiene-Verordnungen probiert werden soll, Hygiene sicher zu stellen. Der Staat hätte nur noch darüber zu wachen, dass alle Erzeugungs- und Verarbeitungsprozesse offen gelegt werden, d.h. er soll für Transparenz sorgen. Dann soll der Kunde entscheiden, was er kauft. Das kann dann genauso die Rohmilch sein, wer sie verkauft, muss dann über mögliche Risiken informieren.

Das Wirtschaftsleben muss sich gesunden. Das geht aber nur ausgehend von ehrlichen Produkten und aufgeklärten Verbrauchern. Deswegen ist der Bio- und insbesondere der Demeter-Markt dazu prädestiniert. Die Gesundung besteht darin, dass die echten Bedürfnisse zum Tragen kommen. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Dafür müssen die geeigneten Foren entstehen, vielleicht auch über das Internet. Die Menschen, die etwas anders machen wollen, müssen sich besprechen. Wenn die realen Bedürfnisse nicht ausgesprochen und damit marktrelevant werden, realisieren sie sich nicht. Der direkte gegenseitige Eindruck verbindet, er schafft "Beziehung" - eines der Schlüsselwörter für eine sich erneuernde Ökonomie. Ein einmal jährliches regionales Marktgespräch von lokalen Verbraucherverbänden, den Erzeugern und Händlern vor Ort, wo alle sich mitteilen, wie es um sie steht, könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Daneben könnte z.B. im Internet eine Seite geführt werden, wo Menschen eintragen, welche Produkte sie sich im Laden wünschen und in welcher Menge zu welchem Preis sie diese abnehmen würden (z.B. Demeter-Milch zu 1,16 €, 4 Liter pro Woche. Dann könnte man Testphasen vereinbaren, um nicht Fehlinvestitionen zu tätigen.

Wir sollten uns radikal von den Begriffen "Konsument" und "Verbraucher" trennen, da in ihnen so viel Passivität liegt, und uns Begriffen zuwenden, die uns (!) als aktive Mitgestalter der Ernährungszukunft ansprechen. Wenn wir uns zum Beispiel klar machen, dass wir mit jeder Kaufentscheidung Höfe und Landschaft draußen mitgestalten, dann sind wir auch "Erzeuger". Vielleicht ist es ja passend, statt von "Verbrauchern" zum Beispiel von "Nachfragern" zu sprechen!? Die doppelte Bedeutung dieses Begriffs lässt eine aktive Haltung stärker in den Vordergrund treten.

Der Leitbegriff für einen Qualitätsmarkt von morgen ist "Vertrauen" - nicht blind, sondern sorgfältig abgewogen. Es gibt die Menschen und Strukturen, die diesen Namen verdienen. Diese müssen gestärkt werden. Dann lassen sich Preise und Qualitäten nachhaltig sichern. Der Leitsatz lautet: "Vertrau ich, dann kauf ich, vertrau ich nicht, dann kauf ich nicht". Wenn jeder nur dort einkauft, wo er vertraut, dann werden sich die Marktgleichgewichte verschieben, die Ehrlichen werden belohnt, und neue Allianzen entstehen. Dieser Markt kann dann "Vertrauensmarkt" genannt werden.

 

Nikolai Fuchs ist Leiter der Landwirtschaftlichen Abteilung der Hochschule
für Geisteswissenschaften am Goetheanum, Hügelweg 59, CH 4143-Dornach