Lebendige Erde 3/2003:

Essay

Bedingungszucht: die Art züchtet

von Lukas Rist

Die heutige materialistisch geprägte Genanschauung geht davon aus, dass die Ursache sämtlicher Lebensvorgänge in den Genen liegt: Sie wirke im Sinne einer komplizierten physischen Kausalität mit den verschiedensten Rückkopplungseffekten. Genetische Information wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein kausal-chemisch ablaufendes Geschehen, welches durch die stoffliche Beschaffenheit der beteiligten Komponenten erklärt werden könne. Diese Meinung hat sich seit den Anfängen der Genetik mit Mendel bis heute erhalten. Wohl wurde die Vorstellung dieser kausalen Abläufe mannigfaltig variiert - so spricht man heute von Gen-Netzwerken, komplexen Gen-Interaktionen und dergleichen, auch wird ein Gen heute ganz anders definiert als früher - allein es wird immer noch den materiellen Bestandteilen die massgebliche Aktivität beim Aufbau eines Organismus zugeschrieben.
Dass die Genetiker durch die fortlaufende Forschung zu vielfachen Modifikationen ihrer Theorien gezwungen wurden, könnte man auch als Aufforderung zum prinzipiellen Umdenken über die Rolle der genetischen Substanz im Leben eines Organismus auffassen. Aus der geschilderten, materialistischen Haltung heraus wird auch verständlich, wie der Nobelpreisträger Jacques MONOD (1971) in einer beispielhaften Konsequenz die Folgen einer solchen Theorie schildert: "(...) der Mensch weiss endlich, dass er in der teilnahmslosen Unermesslichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben."
Eine ähnliche Einschätzung der herrschenden (natur)wissenschaftlichen Theorie findet sich auch bei JONAS (1987): "Da dieselbe Evolutionslehre, wovon die Genetik ein Grundstein ist, uns eines gültigen Menschenbildes beraubt hat (denn alles entstand indifferent aus Zufall und Notwendigkeit), so können die tatsächlichen Techniken, wenn sie erst bereit sind, uns seltsam unbereit für ihren verantwortlichen Gebrauch treffen. Der Antiessentialismus der herrschenden Theorie, die nur De-facto-Ergebnisse evolutionären Zufalls kennt und keine gültigen Wesenheiten, die ihm Sanktionen gäben, überliefert unser Sein einer Freiheit ohne Norm." Durch diese Zitate wird deutlich, dass die Wissenschaft von der Vererbung und die daraus hervorgehende Gentechnologie die Frage: Was ist Leben? neu und mit aller Dringlichkeit zu stellen hätte.

In Pflanzen und Tieren kommt - anders als im Unbelebten, wo Kausalität gilt - in Stoffwechsel, Gestaltwandel und Verhalten die Eigenaktivität der Tier- und Pflanzenarten zum Ausdruck.

Erkenntniswissenschaftliche Grundüberlegungen
Kausalität, das Prinzip von Ursache und Wirkung, setzt immer voraus, dass die in Betracht kommenden Faktoren keine Eigenaktivität aufweisen, also an sich passiv sind, was für den unbelebten Bereich auch tatsächlich zutrifft. Der Unterschied zu den belebten Gegebenheiten wie z.B. den Pflanzen und Tieren besteht darin, dass in dem ständigen Stoffwechsel und Gestaltwandel sowie dem Verhalten die Eigenaktivität der Tier- und Pflanzenarten zum Ausdruck kommt (Rist, M. 1993). Es ist ja auch bezeichnend, dass die Art während der Entwicklung des Organismus die gleiche bleibt, während sich die Stoffe dauernd ändern. Daher ist der moderne Genetiker auch gezwungen, vom genetischen Programm etc. zu sprechen, da er doch irgend eine Konstanz haben muss und sie in den Stoffen nicht finden kann.
Dass eine Tier- oder Pflanzenart nicht ein abstrakter Begriff oder gar nur ein subjektives Ordnungsschema ist, sondern eine seelisch-geistige Potenz darstellt, kann mit folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Wir wissen ja alle, dass seelisch-geistige Zustände Auswirkungen auf unsere Körperfunktionen haben, beispielsweise wenn wir erröten oder wenn der Adrenalingehalt bei besonders starker Erregung steigt, oder wir vor Aufregung zittern. Die Vermittlung dieser seelischen Zustände geschieht durch die Hormone, die dann vermehrt gebildet und ausgeschüttet werden. Dies wurde auch experimentell bei Jungbullen gezeigt, bei denen je nach seelischem Erregungszustand der Adrenalingehalt im Blut ein signifikant unterschiedlicher ist (UNSELM et al., 1978). Die Hormonproduktion ist also die Folge des seelischen Zustandes und nicht dessen Ursache (was jede vorurteilsfreie Selbstbeobachtung zweifelsfrei ergibt).
In der "Theosophie" führt Rudolf STEINER (1904) dazu aus: "Wie ein lebendes Wesen sich entwickelt, hängt davon ab, aus welchem Vater- oder Mutterwesen es entstanden ist, oder mit anderen Worten, welcher Art es angehört. Die Stoffe, aus denen es sich zusammensetzt, wechseln fortwährend; die Art bleibt während des Lebens bestehen und vererbt sich auf die Nachkommen. Die Art ist damit dasjenige, was die Zusammenfügung der Stoffe bestimmt."
So wird auch verständlich, was BREEDLOVE (1997) von einem Experiment mit Ratten berichtet, bei dem er einen Einfluss des Verhaltens auf die neuronale Morphologie beobachtete und zum Schluss kommt, dass Unterschiede im Sexualverhalten (welches er untersucht hatte) nicht durch Unterschiede der Gehirnstrukturen verursacht werden, sondern dass die verschiedenartige Verhaltensweisen diese Strukturunterschiede erst hervorbringen. Die Kausalkette wird von ihm ausdrücklich umgekehrt. Deshalb kann man die eingangs aufgeworfene Frage, was Leben sei, so beantworten: Leben ist die geistige Potenz der Art in Aktion.

Die verschiedenen Arten funktionalisieren
die Gene als Werkzeuge ihrer Selbstverwirklichung.

 

Gene und Umwelt als Bedingungen der Artentfaltung
Dass für die verschiedenen Arten die Gene als Werkzeuge ihrer Selbstverwirklichung funktionalisiert werden, soll im folgenden mit einem Beispielen aus der molekularbiologischen Forschung gezeigt und daran anschliessend die Konsequenzen dieser Anschauung für die Praxis aufgezeigt werden.
Bei einer Untersuchung (WURBEL, 2001) wurde Mäusen das Gen für einen Rezeptor ausgestaltet (sog. knock-out), dem eine entscheidende Rolle bei der Gedächtnisbildung zugeschrieben wird. Mit drei Monaten wurden die Tiere mehreren Gedächtnistests unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass Tiere mit diesem ausgeschalteten Gen (knock-out-Mäuse) sich im Gegensatz zu Geschwistern nicht an tags zuvor Gelerntes erinnern konnten - aber nur bei Aufzucht im unstrukturierten Standardkäfig. Bei Mäusen aus angereicherter und somit artgerechterer Haltung hatte der knock-out keinen Effekt. Trotz des "ausgeschalteten" Gens konnte also unter artgemässen Bedingungen der Verlust der "genetischen Information" wettgemacht werden. Dies ist eigentlich leicht einzusehen, kann doch unter artgemässen Haltungsbedingungen die Art der Mäuse besser in ihren Organismus eingreifen und ihn so ausgestalten, wie es ihrer Intention entspricht. (Eine ausführliche Übersicht über solche und ähnliche Phänomene findet sich bei RIST, L. 2001.)

Bedingungszucht
An dem geschilderten Beispiel wird klar, dass die Art in ihrer geistig-seelischen Potenz als "das Wesen des aus sich selbst bestimmenden entelechischen Prinzips", immer und überall im Organismus waltet (z.B. im Immunsystem). Sie kann dies umso besser, je günstiger die Bedingungen sind, die dort herrschen. Es lassen sich vier Bedingungsbereiche unterscheiden. Zu den terrestrischen Bedingungen gehören die äußeren Umwelteinflüsse (Wärme, Licht, Feuchtigkeit, Nährstoffgehalt etc.). Zu den kosmischen Bedingungen gehören der Stand von Sonne, Mond und Planeten zueinander und zum Fixsternhimmel (STEINER, 1924). Dies wurde auch experimentell mehrfach nachgewiesen (SPIESS, 1990; ZÜRCHER, 1992; THUN, 1993.)
Der dritte Bedingungsbereich umfasst die genetischen Bedingungen. Sie stammen von den Vorfahren und stellen mehr oder weniger günstige innere Voraussetzungen für den Organismus dar, um sich den Intentionen der Art gemäss zu entwickeln. Sie können auch als "Erinnerung" an die Vorfahren gedacht werden. Der praktische Züchter ist ja auch bestrebt, die günstigsten äusseren Bedingungen mit der günstigsten Erbsubstanz (innere Bedingung) zusammenzubringen. Der vierte Bedingungsbereich ist eine artgemässe Mensch-Tier-Beziehung (nicht Wildtier und nicht Kuscheltier).
Durch die optimale Gestaltung aller Bedingungen wird es dann auch der Art - über mehrere Generationen (STEINER, 1924) - möglich, ihre genetische Substanz optimal auszugestalten. Dem könnte man entgegenhalten, dass durch einen genmanipulatorischen Eingriff in die Erbsubstanz diese ebenfalls zu verbessern wäre. Dazu muss man aber bedenken, dass auch bei einer Optimierung der Umweltverhältnisse bzw. der Haltungsbedingungen die Art nicht gezwungen wird, etwas Bestimmtes zu tun, sondern man lässt ihr die Möglichkeit, das zu tun, was ihr entspricht. Da die Art unter artgemäss optimalen terrestrischen und kosmischen Bedingungen den Gesamtorganismus - zu dem auch die Erbsubstanz gehört - optimal artgemäss ausgestaltet, wird auch die Erbsubstanz über die Generationenfolge (unter optimalen Entwicklungsbedingungen) immer artgemässer.
Auf diese Weise werden durch Optimierung der Umweltbedingungen auch die genetischen Bedingungen immer optimaler, immer artgemässer. Denn letztere können von den eigenaktiven Arten um so besser funktionalisiert werden, je artgemässer die anderen Bedingungsbereiche schon sind. Wir müssen also den Arten diejenigen Bedingungen schaffen, die deren aktives Eingreifen in das physiologische und genetische Geschehen fördern, auf dass sie ihre genetische Substanz immer mehr ihren eigenen Bedürfnissen - die natürlich immer artgemäss sind - anpassen können.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass für eine biologisch-dynamische Zucht sowohl die weiblichen wie die väterlichen Tiere aus einem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Hof kommen müssen (vgl. SPENGLER NEFF, 1997), da andernfalls immer wieder "Erinnerungen" aus anderen Bedingungserfahrungen mit hineingemischt werden und der ganze Prozess wieder von vorne beginnt. Das heisst, dass dort, wo es nicht möglich ist, einen eigenen Stier zu halten, dann eben ein Stier aus einer biologisch-dynamischen Herde beizuziehen ist, da die Unterschiede zwischen biologisch-dynamischen Höfen kleiner sind als zwischen biologisch-dynamischen und konventionellen. Dass für eine biologisch-dynamische Zucht keine künstlichen Besamungen, Embryotransfer und Genmanipulation in Frage kommen ergibt sich schon fast von selbst.

Mit diesem aktiven Artbegriff verbindet sich auch ein Verständnis der "harmonisierenden Wirkung" der biologisch-dynamischen Präparate. Damit beschreibt man in der Literatur (KOENIG, 1993) die Beobachtung, dass je niedriger das Ertragsniveau, desto höher der Präparate-Effekt ist und dass auf einem sehr hohen Ertrags-Niveau der Präparate-Effekt sogar zu einer Ertragsdepression führen kann. Da diese Präparate nicht kausal wirken können, sondern eine günstige Bedingung für die entsprechenden Arten darstellen, wird verständlich, dass der beobachtete Effekt je nach Gesamtlage anders aussehen kann. Bei einem niedrigen Ertragsniveau können durch die Präparate günstigere Bedingungen für das Eingreifen der Pflanzenarten geschaffen werden, was dann auch den Ertrag erhöht. Bei einem hohen Ertragsniveau, wenn z.B. bei einer Überversorgung mit Stickstoff die Pflanzen mehr Substanz bilden, als eigentlich ihrer Art entsprechen würde, schaffen die Präparate wiederum günstigere Bedingungen, dass die Art den Aufbau der Gestalt ihres Organismus besser bewerkstelligen und die Substanzeinlagerung auf das artgemässe Niveau reduzieren kann. Dadurch wird auch klar, dass der Ertrag in Kilogramm nicht unbedingt der adäquate Massstab ist, um die Qualität einer Pflanze zu bestimmen. Das gilt selbstredend auch für die Milchleistung. Unsere Aufgabe als Menschen bei diesem Geschehen liegt nicht darin, gewaltsam den Arten unsere eigenen entarteten Intentionen aufzuzwingen, sondern im Optimieren der Bedingungen, auf dass sich die Art möglichst frei von äusserem Druck entwickeln kann. Dies ist ja auch das Ziel eines artgemässen Pflanzenbaus und einer artgemässen Tierhaltung, wie sie in einer biologisch-dynamischen Landwirtschaft angestrebt wird. Dass damit die Nahrungsqualität der betroffenen Pflanzen- und Tierarten nicht schlechter, sondern besser wird, ist ebenfalls schon experimentell gezeigt worden (BALZER-GRAF, 1992).

Für eine biologisch-dynamische Zucht müssen sowohl die weiblichen wie die väterlichen Tiere aus einem biologisch-dynamische bewirtschafteten Hof kommen.
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Von der Erkenntnis zur Einsichtsethik im Lebendigen und Kulturbereich
Diese Verkörperungsbedingungen können, wie im oben in knappen Ausführungen gezeigt wurde, in drei Bereiche gegliedert werden: die terrestrischen, die kosmischen und die genetischen. Weil die genetische Substanz selbst im sich entfaltenden Organismus (MATILE, 1973) und seiner Generationenfolge gebildet und gefestigt wird, sind die genetischen Bedingungen auch von den terrestrischen und kosmischen Lebensbedingungen abhängig. Als Alternative zu den relativ groben Eingriffen der Gentechnologie in die Erbsubstanz ergibt sich für den in biologischen Begriffen denkenden Forscher neben der artgemässen Tier-Mensch-Beziehung - die nur der Landwirt herstellen kann - die Optimierung der terrestrischen und kosmischen Bedingungen, d.h., dass für gewisse Aktivitäten (z.B. Aussaat, Konzeption) auch bestimmte kosmische Konstellationen zu wählen sind. Diese führt dann auch zu der für die entsprechende Art optimalen Erbsubstanz, so dass mit der artgemässen Optimierung der Umweltbedingungen über mehrere Generationen gezüchtet werden kann (Bedingungszucht). Eine solche Optimierung der Lebensbedingungen ist seit langem in der Biologisch-Dynamischen Wirtschaftsweise üblich.

Weil die genetische Substanz selbst im Organismus und seiner Generationenfolge gebildet wird, sind die genetischen Bedingungen von den terrestrischen und kosmischen Lebensbedingungen abhängig.


Die Bedeutung der hier kurz skizzierten Alternative für die Forschung liegt darin, dass es ihre Aufgabe sein oder werden sollte, die optimalen terrestrischen, kosmischen und genetischen Bedingungen für Haustiere und Kulturpflanzen zu finden. Daran anschliessend kann dann der Weg für die Praxis aufgezeigt werden, wie diese optimalen Bedingungen in möglichst guter Annäherung erreicht werden können. Die Kunst der Praxis ist es dann nach wie vor, diese optimalen Bedingungen in möglichst guter Annäherung zu erreichen. Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich die Einsichtsethik, dass es nämlich die Aufgabe des die Pflanzen und Tiere verstehenden Menschen ist, für diese die optimalen Inkorporationsbedingungen zu schaffen. Eine optimale Produktqualität z.B. an Milch, Gemüse, Getreide, Heilpflanzensubstanz etc. entsteht auf diese Weise als eine Gegengabe von Tier und Pflanze an den sie pflegenden Menschen.