Lebendige Erde 3/2002:

Extra

Agrarwende: Politik jenseits von "Wachsen und Weichen"

Ulrich Jasper

Wir stecken mitten drin in der "Agrarwende", ob wir daran glauben oder nicht. In Europa entsteht eine neue Agrarpolitik. Regierungskonstellationen beschleunigen oder bremsen diesen Prozess, halten ihn aber nicht auf.
Erstens ist die alte Agrarpolitik nicht mehr gesellschaftsfähig. Sie konnte nur deshalb überdauern, weil sie höchst undurchsichtig ist. Warum Entscheidungen in Brüssel oder in Berlin so und nicht anders ausfallen, kann kaum einer schlüssig erklären. Gleichwohl werden die Konsequenzen dieser Agrarpolitik der Gesellschaft durch Krisen wie BSE und MKS bildlich vor Augen geführt. Deshalb haben die Menschen der Agrarpolitik längst das Vertrauen entzogen. Die Agrarpolitik, die immer weniger dem schrumpfenden landwirtschaftlichen Klientel und immer mehr der gesamten Gesellschaft verpflichtet ist, muss sich daher immer stärker den veränderten Wünschen der Verbraucherinnen und Verbraucher stellen. Und die fordern eben mehr Tierschutz, Umweltschutz und - noch zu verhalten - auch soziale Gerechtigkeit innerhalb der Landwirtschaft.
Zweitens ist die alte Agrarpolitik auch innerhalb der Landwirtschaft längst nicht mehr mehrheitsfähig. Denn die Praxis ist viel weiter als die Politik, immer noch. Die Mehrzahl der Bauern und Bäuerinnen hat in ihrer konkreten Auseinandersetzung mit den Entwicklungsmöglichkeiten ihre Betriebes und im direkteren Kontakt mit Verbraucherinnen und Verbrauchern eigene Wege entwickelt. Die entstandene Vielfalt an Betrieben und Einkommensquellen liegt neben der alten Logik vom "Wachsen oder Weichen". Die Höfe bringen weit mehr hervor als Weizen, Schweinefleisch und Milch. Und diese zum Teil neuen, zum Teil wieder auf die Höfe zurück geholten Tätigkeiten tragen in viel höherem Maße zum Einkommen der Bauern und Bäuerinnen bei, als es Berufsverbände, Wissenschaft und Politik bislang wahrhaben wollen. Auf diese Entwicklungen in der Praxis hat die Agrarpolitik bislang kaum reagiert. Auch das muss sich ändern, wenn sich die Agrarpolitik nicht weiter auf die Interessen von 15-20 % der Betriebe beschränken will. Ja, diese wachsende Vielfalt in der Praxis ist der Fundus an Ideen und Lösungsmöglichkeiten, auf den jede neue Agrarpolitik angewiesen ist.
Dass wir uns - früher oder später - von der alten Agrarpolitik verabschieden müssen, liegt also nahe. Die Frage ist, auf welchem Wege Gesellschaft und Praxis eine neue Agrarpolitik zustande bringen und wie diese im konkreten aussehen soll. Grundsätze für diesen Prozess könnten sein *):

1.) Demokratischer Umbau des Agrarapparats. Das Plädoyer für "mehr Demokratie in der Landwirtschaft" heißt zuerst einmal, dass Interessen geschieden werden. Bauern, Verbraucher, Lebensmittelhandel, Agrarindustrie haben unterschiedliche Interessen. Damit sie sich auseinander setzen können, müsse sie aber auch zur Sprache kommen. Nur wenn sie offen und nachvollziehbar streiten können, wird etwas Sinnvolles herauskommen.

2.) "Verbesserung der Agrarstruktur" sollte in Zukunft heißen: Bestärken der Vielfalt landwirtschaftlicher Wirtschaftsstile. Dazu müssen wir die Vielfalt als Wert anerkennen und nicht als Rückständigkeit missverstehen, die es zu überwinden gelte. Daraus ergibt sich:

3.) Stopp der Wachstumsförderung. Denn die einseitige Förderung des Wachstums bedeutet eine Wettbewerbsverzerrung zulasten der Vielfalt, und sie führt die Familien in die Arbeitsfalle, besonders im Milchvieh- und Sauenbereich.

4.) Die Landwirtschaft braucht nicht weniger, sondern mehr Menschen. Tiere gerecht zu halten und den Boden nachhaltig zu bewirtschaften, das macht mehr Arbeit. Eine nachhaltige Landwirtschaft ist nicht denkbar ohne Verringerung der Arbeitsbelastung und eine Vermehrung der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. Sonst laufen die Menschen der Landwirtschaft davon. Bisher aber profitieren von staatlichen Zahlungen die, die Arbeitsplätze abbauen statt neue zu schaffen.

5.) Lebensmittelsicherheit: Gesunde Tiere statt Dopingkontrolle. Wie unsere Nahrungsmittel erzeugt werden, hat entscheidenden Einfluss auf ihre Qualität. Nur gesunde Tiere bringen gesunde Lebensmittel hervor. Wenn im Stall der Fehler schon angelegt ist , der Einsatz von Medikamenten als Reparaturmittel erforderlich wird, dann verkommt Lebensmittelsicherheit zur Dopingkontrolle.

6.) Den ökologischen Landbau stärken. Das ist keine Benachteiligung der "restlichen" Bauern, sondern verschafft dem Ökolandbau endlich gleiche Konkurrenzbedingungen. Wichtiger aber als die Förderung, die auch kontraproduktiv ausfallen kann, ist es daran mitzuwirken, dass die Landwirtschaft sich insgesamt öffnet und wandelt. Es mag paradox klingen, aber der Ökolandbau wird nur eine Zukunft haben, wenn er nicht nur an seine eigene Vermehrung denkt.

7.) Lebensmittelhandel - ein optimistischer Ausblick. In der deutschen Agrarwende-Diskussion wird diesem entscheidenden Akteur zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Bisher beherrscht fast allein der "billige" Preis den Wettbewerb unter den Konzernen des Lebensmittelhandels. Das muss ja nicht so bleiben. Die Ketten haben die Kraft, durch klare Aussagen auf einen Schlag viel mehr zu bewegen, als das mühsame Vor und Zurück auf der politischen Bühne allein erreichen kann. Wir alle sind als Verbraucher hier gefragt. Für die Bauern verspricht das nicht automatisch gerechtere Preise. Diese durchzusetzen wird ihnen niemand abnehmen, sie müssen sie selbst verteidigen.

Ulrich Jasper, Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Hamm

 

* ) Siehe: Götz Schmidt, Ulrich Jasper: Agrarwende oder die Zukunft unserer Ernährung. Beck-Verlag 2001, S. 186 ff.