Lebendige Erde 5/2001:
Hausgarten
Warum Ohrwürmer nicht zwicken
Helmut Hintermeier, Gallmersgarten
Während
wissenschaftliche Tier- oder Pflanzennamen nach genau definierten systematischen
Regeln gebildet werden, spielen bei der Entstehung umgangssprachlicher
Bezeichnungen nicht selten Phantasievorstellungen, Ängste, bestimmte
Zu- und Abneigungen oder der Aberglaube eine wesentliche Rolle. Geradezu
ein Schulbeispiel hierfür ist der Ohrwurm. Genau genommen müsste
er 'Öhrwurm' heißen, denn das so auffällige Zangenpaar
am Hinterleibsende bildet in Ruhelage eine Öse oder ein Öhr.
Wie es zum 'Ohrwurm' oder 'Ohrkriecher' kam, kann man sich aufgrund
der Vorliebe der Tiere für dunkle Verstecke zwar gut vorstellen.
Es ist jedoch barer Unsinn, daß Ohrwürmer ins Ohr kriechen.
Den 'Ohrkneifern' wird sogar nachgesagt, sie würden mit den Hinterleibszangen
das Trommelfell des menschlichen Ohrs durchzwicken. In den Medizinbüchern
des vorigen Jahrhunderts wurde der 'Gemeine Ohrwurm' sogar noch als
Mittel gegen Taubheit empfohlen.
Wozu die Zangen wirklich dienen
Entgegen aller Fabelweisheiten sind die beiden Zangen wichtige Verteidigungs-
und Angriffswaffen, mit denen sich die Männchen gegenseitig rückwärts
bedrängen und um den Besitz eines Weibchens kämpfen. Auch
könnten sich Ohrwürmer ohne ihre markanten Gabeln überhaupt
nicht paaren, denn das Männchen muss seine Partnerin bei der Vereinigung
damit in Position halten und das oft über mehrere Stunden. Manche
Arten ergreifen mit ihren Zangen Fliegen und kleine Raupen, die sie
dann über ihren Rücken hinweg dem Mund zuführen. Die
Zangen sind individuell recht verschieden, bei den Männchen aber
stets sehr stark gestaltet: Es gibt lange schlanke und kurze breite
Zangen. Die Weibchen setzen ihre nicht minder respekteinflößenden
Kneifzangen zur Verteidigung der Jungen gegen kleine Nesteindringlinge
ein. Ohrwürmer falten mit ihren Zangenfortsätzen ihre häutigen
Unterflügel zusammen oder auseinander. Damit wird sogleich deutlich,
dass wir keinen Wurm vor uns haben: Ohrwürmer gehören zur
Insektenordnung der Dermaptera, was übersetzt etwa 'Harthautflügler'
bedeutet und auf die stummelförmigen, harten Vorderflügel
dieser Insektengruppe hinweist. Unter ihnen liegen die häutigen
Hinterflügel, sorgfältig in bis zu 40 Lagen zusammengefaltet.
Ohrwürmer können also auch fliegen, tun es aber äußerst
selten, da der Vorteil des platzsparenden Faltpatentes wohl schwerer
wiegt, als das umständliche Auspacken und Entfalten der Tragflächen.
|