Lebendige Erde 1/2003:

Kurz & Aktuell

Belastete Lebensmittel: zweierlei Maß gefährdet Ökolandbau

Seit im Februar 2002 der Nitrofenskandal seinen Anfang nahm, ist die Biobranche nicht mehr zur Ruhe gekommen. Betrügereien wurden aufgedeckt, Pseudo-Bioware vom Markt genommen, Rückrufaktionen wegen überhöhter Rückstände durchgeführt. So unangenehm jeder Einzelfall ist, muss doch festgehalten werden, dass die Mängel durch das Kontrollsystem für ökologische Erzeugnisse aufgedeckt wurden, wenn auch teilweise mit Verzögerungen. Jedoch führt inzwischen die restriktive Auslegung der neuen gesetzlichen Regelungen im Verbund mit einer erheblichen Ausweitung der Rückstandsuntersuchungen zu einer veränderten Systematik in der Anwendung der Öko-Verordnung: Nicht mehr die lückenlose Überwachung der Produktionsprozesse definiert die Zertifizierung, sondern Untersuchungen im Labor entscheiden darüber, ob der Biostatus anerkannt wird. Ein fataler Kurzschluss: Ware wird ohne gesicherte Beurteilungen gesperrt, kostspielige Nachuntersuchungen ausgelöst (häufig erfolglos) und die Qualitäts- und Fehlerkosten erreichen ungeahnte Höhen. Gestiegene Kosten zwingen die Unternehmen, zukünftig nach billigeren Einkaufsquellen zu suchen - mit allen Folgen. Für die Verbraucher entsteht dadurch weder mehr Sicherheit, noch erhalten sie bessere Lebensmittel als zuvor.
Biolebensmittel wachsen nicht in der Retorte. Je mehr Chemie im konventionellen Anbau eingesetzt wird, desto mehr finden sich Spuren davon auf nicht behandelten Flächen und in Bioprodukten. Der einseitige Blick auf Rückstände in Biolebensmitteln verwechselt Ursache und Wirkung:

  • Der konventionelle Landwirt muss weder Art, noch Ort, Zeit und Menge bei der Anwendung von Pestiziden dokumentieren. Eine Überwachung des Pestizideinsatzes ist nicht möglich.
  • Das amtliche Zulassungsverfahren von Pestiziden beachtet die Speicherung und damit Verbreitung in Pflanzen nicht ausreichend. Das inzwischen allbekannte Chlormequat wird in Pflanzen gesammelt. Noch nach Jahren werden bedeutende Mengen freigesetzt, z. B. über Stroh oder Holz.
  • Die Kosten für den Nachweis und die Vermeidung von Pestiziden tragen gerade die, welche diese Stoffe nicht einsetzen und auch nicht haben wollen, die biologische Landwirtschaft und die Verbraucher. Biologische Landwirtschaft ist die einzige Alternative zur konventionellen Landwirtschaft. Und gerade sie wird durch konventionelle Rückstände und eine willkürliche Nulltoleranzforderung im Extrem unmöglich gemacht. Für die Verbraucher stellt sich die Frage nach Nullrückständen nur begrenzt, heißt für sie doch "Bio" mehr als das, nämlich Tierschutz und Tiergesundheit, Artenschutz, Erhaltung der Landschaft und der bäuerlichen Landwirtschaft gleichwertig mit Gesundheit, Geschmack und Genuss.

Martin Rombach, Chemiker, langjährig in Lebensmittelindustrie, Pharmazie und Biobranche tätig, Leiter der Ökokontrollstelle Prüfverein Verarbeitung in Karlsruhe, Vorstand der Konferenz der Kontrollstellen, Mitarbeit im BNN und der Fachgruppe Demeter- Richtlinien