Lebendige Erde 6/1999:

Portrait

Klasse statt Masse: Lutz Größel weiss, was Naturkostkunden suchen

Michael Olbrich-Majer

Dreimal Naturata in grünen Großbuchstaben, unübersehbar laden zwei Geschäfte zum Wechsel der Straßenseite ein. Hier ist ohnehin nur der Lieferanteneingang von Aldi, auf der anderen Seite gibt es Naturtextilien und Naturwaren, dazu Naturkost, getrennt hinter zwei Türen, vereint unter einem Namen. Wir befinden uns am Ende der Berrenrather Straße, einer der Geschäftsstraßen in Sülz, einem lebendigen, gewachsenen Stadtteil im Süden Kölns. Ein weiterer Supermarkt und ein Reformhaus sind hundert Schritte entfernt, in der Nähe gibt es noch drei weitere Bioläden. Das Naturata-Naturkostgeschäft ist hell und geräumig, weisser Fussboden, sogar die Ecken sind ausgeleuchtet. Die Regale überraschen durch fröhliche Farben und Formen, ein Papphuhn sitzt bei den Eiern. Alles wirkt sehr aufgeräumt, auch die Regale, keine leeren Kartons oder Kisten. Die Vielfalt, auch im Frischebereich, verlockt zum Zugreifen, eine Obst- und Käsetheke wie im Feinkostgeschäft, Auswahl aus sieben Sorten Äpfeln, wer würde hier nicht gerne einkaufen? Trotz der nicht allzu großen Verkaufsfläche von hundert Quadratmetern ist der Laden einladend und übersichtlich. Fragen von Kunden nach Produkten werden ernsthaft beantwortet, wer mag, bekommt sogar einen Kaffee. Ein junger Familienvater mit einem Korb voller leerer Flaschen und Gläser schlendert herein und stellt sie wie selbstverständlich an ihren Platz. Es ist Lutz Größel, dem man die Verantwortung als Inhaber der zwei Läden auf den ersten Blick nicht ansieht. Kurze Absprache mit den Mitarbeiterinnen, hier und da im Regal etwas zurechtgerückt und schon wird er von einem Kunden gefordert, der eine Getreidemühle kaufen möchte.
  Bereits seit 1982 besteht ein Naturata-Laden für Naturkost und Naturwaren in Köln, aufgebaut von Lutz Größels Mutter. Lutz Größel hat Müller gelernt, beim Demeter-Verarbeiter Spielberger. Als es 1994 personelle und finanzielle Probleme im Geschäft seiner Mutter gab, wollte er eigentlich nur für ein Jahr mithelfen. Doch in seiner Art stürzte er sich voll hinein, fand Spaß an der Sache und stellte fest, dass man damit Geld verdienen kann. Der Umsatz ging wieder hoch, und ein Jahr später stand der Umzug aus dem beengten Laden an. Kurz darauf wurde eine Filiale in Hürth bei Köln eröffnet.
Abb.: hell und einladend: NATURATA-Naturkost in Köln

  Lutz Größel hat hohe Ansprüche: "Der Billigste zu sein ist für mich uninteressant! Wir wollen der freundlichste und kompetenteste Naturkostladen mit dem umfassendsten Angebot sein". Dazu gehören eine gewisse Perfektion, absolute Frische und eine große Vielfalt. Die Einrichtung hat er gestalten lassen, zwar teuer, aber sie rechnet sich und zeigt kaum Abnutzungserscheinungen. 50 Käsesorten als Standard-Angebot und circa 30 Sorten im Wechsel, das gehört ebenso dazu wie die reichhaltige Brottheke, die von drei Bäckern beliefert wird. Es muss immer etwas Besonderes dabei sein, meint er dazu. Die Auswahl bei den Trockenprodukten ist gezielt: Mindestens ein Topprodukt und ein Normal-Bio-Erzeugnis.
 

Bio ist nicht gleich bio, heute gibt es Unterschiede wie zwischen bio und konventionell vor zehn Jahren", stellt Lutz Größel fest. Er hat das Ohr nahe am Kunden und der will Service, Lebensmittel mit Geschmack, mag alles andere als abgefertigt werden. Viele Kunden werden mit Namen begrüsst, bei Regen wird zum Kaffe eingeladen, die persönliche Atmosphäre ist ein wesentliches Element. Circa 220 Kunden am Tag, sowohl Stamm- als auch Laufkundschaft, versorgen sich aus dem Geschäft, die Klientel ist gemischt vom Arbeitslosen bis zum Akademiker, dem Stadtteil entsprechend. Geöffnet ist durchgängig und samstags bis 14 Uhr. Wichtig ist auch die Präsentation der Lebensmittel. Lutz Größel und seine Mitarbeiter beherzigen eine stete Regalpflege; gähnende Leere, durcheinander stehende Tüten oder unansehnliches Obst sucht man vergeblich: Alles top. "Die Pionierzeit ist um, so etwas können wir uns nicht mehr leisten, Professionalität ist gefragt."
  Das geht bis hin zu den Mitarbeitern. Lutz Größel arbeitet nur mit Festangestellten, keine Jobs auf 630-Mark-Basis. Damit ist er zwar nicht so flexibel, aber die Mitarbeiter sind hochmotiviert, qualifiziert und er spart sich viel Aufwand. Die Arbeitsabläufe sind blind klar, es gibt geregelte Verantwortungsbereiche und gute Gehälter werden auch gezahlt. Zum Beispiel macht Charlotte Pries den Brot- und Käsebereich völlig selbständig von der Bestellung bis hin zum Verwaltungssystem. Ebenso arbeitet Lutz Größel die neue Mitarbeiterin Stefanie Beitz bei Obst- und Gemüse ein. Um bei Fragen auch kompetent zu sein, zahlt er Fortbildungen, zum Beispiel im Bereich Kosmetik.
  Mit vier Vollzeit-Kräften macht er zur Zeit einen Umsatz von vierhunderttausend DM pro Mitarbeiter, Tendenz steigend, und das auf einer Verkaufsfläche, die in der Branche keiner mehr für zukunftsfähig hält. Selbst im Sommerloch realisiert er noch Zuwächse bei Lebensmitteln. "Umsatz", sagt er, "schafft man nur über aktive Leistung". Darunter versteht er zum Beispiel die Lieferung frei-Haus im Kölner Stadtgebiet. Bezahlt wird per Lastschrift, bestellt telefonisch; 45 Kunden nutzen dies an drei Liefertagen die Woche, darunter auch Großabnehmer. Lutz Größels Vater, jahrzehntelang Blumenhändler im Viertel und jetzt der Mann für alle Probleme im Laden, fährt die Lieferungen aus, die im Lager des Ladens gepackt werden. Auch dass man als ökologisch anspruchsvoller Kunde drei verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens an einer Adresse versorgen kann, bringt Kunden.
 
Seit diesem Jahr ist die Naturata Köln auch im Internet präsent (www.naturata-koeln.de). Das Obst- und Gemüseangebot der laufenden Woche, Spielwaren und Textilien kann man anklicken. Der Internet-Auftritt wurde in Kölner Zeitungen beworben. Lutz Größel versteht das als Bonus-Geschäft, immerhin 200 Kontakte am Tag entstehen so, eine Investition, die in zwei bis drei Jahren aktuell sein wird. Die Internet-Seiten pflegt Lutz Größel selbst. Neu ist die Zusammenarbeit mit Fachgeschäften um die Ecke. Über die Hausbelieferung können die Kunden ihren Film abgeben und sich die Bilder wieder mitbringen lassen, um die Touren auszulasten, wird auch Wein und Essig für ein konventionelles Fachgeschäft ausgefahren. Sollte sich das bewähren, ist der nächste Schritt die Zusammenarbeit mit einem anthroposophischen Buchhändler.
  Neben Service schafft Lutz Größel auch Angebote, die Vertrauen und Gemeinsamkeiten aufbauen. Solche Events sind zum Beispiel das Fest jedes halbe Jahr als Dankeschön an die Kunden, oder das Hoffest nur für die Kunden, wie in diesem Frühjahr auf Haus Bollheim. 150 Menschen ließen sich da verwöhnen und schnupperten Landluft. Die Fotos bekamen sie hinterher im Laden geschenkt. Aktivitäten wie die Präsentation von Kosmetika oder die geplante Weinverköstigung schaffen für die Kunden die Möglichkeit, mehr von dem zu verstehen, was sie kaufen, ebenso externe Vorträge.
  Sechsmal die Woche kommt frische Ware - es herrscht Leben im Regal. Das ist auch bedingt durch das kleine Lager, im Schnitt bleibt nichts länger als zwei Wochen im Laden. Seine Lieferanten sucht sich Lutz Größel sorgfältig aus. Schwerpunktmäßig bezieht er über den Großhandel Weiling, drei Landwirte liefern aus der Region, Käse kommt von Haus Bollheim, aus dem Großhandel und von einem Demeter-Händler aus den Niederlanden. Brot, mit Schwergewicht auf Demeter, kommt von verschiedenen Bäckereien. "Ich wechsele einen Lieferanten nicht wegen des Preises", Lutz Größel legt Wert auf Qualität. Zudem machen wenig Lieferanten weniger Arbeit, durch Verbindlichkeit lässt sich mehr regeln.
  Lutz Größel verkauft nichts ideelles. Er sieht seine Aufgaben darin, den Kunden zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu befrieden. Natürlich mit seinen Grundsätzen:erstens ausschließlich Öko, zweitens wenn Preis und Qualität stimmig, Demeter und drittens regionaler Warenbezug. Sogar Fleisch bietet Naturata in großem Umfang an: "Ich kann nur jedem empfehlen, sich darauf zu spezialisieren, inzwischen ist es der Renner", ist seine Erfahrung. Allerdings ist es für den Bio-Großhandel nicht einfach, mit Frischfleisch umzugehen. Zweimal die Woche liefert daher die Bio-Fleischerei Janßen alles vom Schwein bis zum Lammkotelett - eingeschweißt. Hunderttausend Mark Umsatz im Jahr macht Naturata damit inzwischen, die Skandale um konventionelles Fleisch haben sich deutlich ausgewirkt. Und: "Der Kunde will nicht bestellen, sondern mitnehmen".
  Lutz Größel ist Genosse in der Naturata Genossenschaft, die mehr als 20 Naturata-Fachgeschäfte umfasst, individuell verschieden, aber im partnerschaftlichen Handel verbunden, und die Träger der Naturata Lauda sind. Gemeinsames Marketing im Rahmen des Naturata Fachhandelskonzeptes soll Qualitätsbewußtsein beim Kunden wecken. Der Name Naturata kommt ursprünglich von Heinz Knauss, einem Naturkosteinzelhändler am Bodensee, jetzt gibt es den Markenartikler Naturata in Lauda als Namenswächter. Mit seinem Geschäft ist Lutz Größel zudem Mitglied im Verbund Freier Unternehmensinitiativen in Stuttgart, einer von Anthroposophen angeregten Keimzelle für anderes Wirtschaften. Das ist unternehmerische Fortbildung und Hilfestellung in einem, auch wenn sich sehr unterschiedliche Branchen hier treffen.
  Damit kein Kunde ohne Antwort herausgeht, sind immer zwei, in Stoßzeiten drei Fachleute im Laden. So ist eine Beratung möglich, die nach eigenem Erleben durchaus qualifiziert ist, allerdings wird nichts aufgedrängt. Bei Ernährungsthemen wird auf eine Ernährungsberaterin verwiesen. Wer Fragen hat, findet auch was; ein Stehtisch präsentiert eine ganze Palette Informationsblätter zu Naturkost. Alles an seinem Platz. So überlädt er auch seinen starken Demeter-Anteil im Sortiment nicht mit Ideellem: "Das verkauft sich von selbst, wenn man klarstellt, dass es die besten Lebensmittel sind, die man haben kann".
 
Vom Wettbewerb über den Preis hält Lutz Größel nichts. Zwar gibt es auch bei ihm Sonderangebote und Preisaktionen wie das "Brot der Woche" oder Käse im Angebot, doch Dauerniedrigpreise lehnt er strikt ab. "Wir setzen damit auf Dauer den Wert des Produktes herab. Der Kunde soll nicht Angebote kaufen, sondern das, was er braucht und das preis-wert". Preise sind für ihn das Ergebnis einer Bedürfniskette Erzeuger-Verarbeiter-Großhandel-Einzelhändler und alle müssen davon leben können - "alles andere ist entweder Selbstbetrug oder Subventionsklau". Jedes Produkt ist für sich kalkuliert - reell. Lieber geht er bei gestiegenem Umsatz mit allen Preisen etwas herunter. "Durchschnittlich werden nur noch 16 Prozent des Nettoeinkommens für Lebensmittel ausgegeben. Da sind ein paar Mark mehr für Bio-Lebensmittel wahrhaftig nur Peanuts. Muss ich das als Kunde tatsächlich sparen und wofür?" fragt mich Lutz Größel.
  "Preise muss man diskutieren", das praktiziert er mit seinen Geschäftspartnern, zum Beispiel den Landwirten. Hier trägt er auch Entwicklungsphasen mit, zum Beispiel in der Umstellung. Dennoch müssten viele Bauern sich professionalisieren, sowohl in Anbau als auch in Vermarktung. Nicht nur der Preiseinbruch der letzten Jahre macht den Bauern Druck, sie machen sich oft selbst Konkurrenz über den Preis, so erlebt es Lutz Grössel auf dem Kölner Bauernmarkt, wenn einer dort die Zucchini für eine Mark fünfzig statt für vier Mark verkauft. Da sind auch die Hersteller nicht besser, aktuell droht der Preiskampf bei Fruchtjoghurts.
 
Und wie sieht die Zukunft im Naturkost einzelhandel aus? Bestimmt nicht so, wie er es im Urlaub erlebt hat. Samstags um 11 Uhr keine Eier, prinzipiell kein Fleisch und keinen Wein. Solche Läden haben ausgedient. Unter einer Million Umsatz wird es langsam eng, meint er. Dafür sorgen schon alleine gesetzliche Anforderungen wie zum Beispiel die Verpflichtung, Preise bezogen auf Kilogramm oder Liter zusätzlich anzugeben. Da ist ein Auszeichnen der Ware mit der Hand kaum möglich und viele Läden müssen auf Scanner und Computer inklusive Datenpflege umstellen: ein riesiger Aufwand. Vom Öko-Prüfzeichen erwartet er kaum Auswirkungen auf den Naturkosthandel. Aber für den konventionellen Handel sei es wichtig und da findet er es gut: "Wir wollen ja die Welt mit Öko-Produkten versorgen -das können wir nicht alleine". Die Öko-Verbände müssten sich in Zukunft stärker als wirtschaftliche Einheiten verstehen, die Dienstleistungen bringen und aus Stärke heraus agieren. Eine wachsende Abhängigkeit vom Großhandel sieht er nicht. Schließlich kann sich jeder selbst seine Partner aussuchen. Was die Branche aber vor allem braucht, sind neue Menschen, Profis. Inzwischen gibt es gute Ausbildungswege. Mangels Kapitalbildung fehlen vielen Geschäften Geld und Anreize, um in die Zukunft, z.B. in größere Läden, zu investieren. "Bisher ist das Wachstum der Naturkostbranche auf dem Rücken des Einzelhandels ausgetragen worden", meint er dazu. Alle Seiten drehen an der Handelsspanne. Erzeuger, Verarbeiter und Großhandel haben eine andere Intention, Ware zu verkaufen, als der Einzelhandel: lohnend ist für sie die Masse, die Stückzahl. Einzelhandel jedoch rechnet sich nicht über Masse, auch wenn mehr verkauft wird, ist überproportional Mehrarbeit erforderlich. Anders als bei der Herstellung ist es nicht ein Arbeitsgang, der einfach länger läuft. Erfolg hat man nur bei einem entsprechenden Verhältnis von Spanne zu Umsatz.
  Er selbst schaut zuversichtlich in die nächsten Jahre - vielleicht hat er ja mal mehr Zeit für seine Frau und die zwei kleinen Kinder. Die Ideen wer-den ihm wohl nicht ausgehen, ebensowenig wie das rührig sein - so wird Naturata Köln weiter eine kleine Attraktion für Naturkost bleiben. Im September erst gab es einen verkaufsoffenen Sonntag mit allem Drum und Dran, der Öko-Metzger grillte, es gab Kaffee und Kuchen, ein Apfelbauer presste Apfelsaft und alle hatten ihren Spaß an Naturkost, die mehr ist als nur Ware.