Lebendige Erde 3/2001:

Portrait

Der Kirchhof - Keimzelle für dörfliche Entwicklung
Mehr Arbeitsplätze, Lebensfreude und bessere Chancen in Oberellenbach

Renée Herrnkind

  Sprichwörtlich wichtig ist es, dass die Kirche im Dorf bleibt - in Oberellenbach hat es jedoch weit mehr Bedeutung, dass der Kirchhof im Dorf geblieben ist. Vor 20 Jahren übernahmen Renate Kremin-Hannig und Godehart Hannig den verlassenen Bauernhof - Aussteiger, die mit romantischen Vorstellungen über das Landleben aus der Stadt gekommen waren. Mit ein paar Schafen und Ziegen auf 0,65 Hektar Grünland fing das Paar damals an - "Von 0 auf 100 ging es dann in 12 Jahren", blickt Godehart Hannig auf die Entwicklung zurück und meint die Hektar. Die Zahlen allein beschreiben nur unzureichend, was durch die bäuerliche Renaissance des Kirchhof entstanden ist. Das Projekt - im letzten Jahr an der Expo beteiligt im Rahmen der Dorf 2000-Aktion - ist ein Paradebeispiel für nachhaltige Landentwicklung und für die Kraft, die aus dem biologisch-dynamischen Impuls erwachsen kann.
  Ende der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es in der 400-Seelen-Gemeinde am Rande des nordhessischen Knüll noch sieben Voll- und rund 20 Nebenerwerbslandwirte, heute sind es zwei Voll- und eine Handvoll Nebenerwerbs-Bauern. Allein auf dem Kirchhof sind zwölf Arbeitsplätze entstanden, hinzu kommen rund zehn bei der Lebensgemeinschaft Persephone, die sich aus dem Kirchhof entwickelt hat und in heilpädagogischen Wohngruppen Kinder und Jugendliche in Entwicklungskrisen betreut. "Das Dorf ist sichtbar belebt, es gibt Wartelisten für bauwillige junge Familien, die sich bewusst für Oberellenbach entschieden haben", weiß Hannig zu berichten.
 
Auserwählt unter 570 Dörfern für das Expo-Projekt
  Handwerker setzen auf Service und gründen eigene Unternehmen, der Dorfladen füllt die Lücke im Einkaufs- und Kommunikationsbereich und lädt ein zum Plauschen in die Café-Ecke. 1990 waren in Oberellenbach 35 Menschen in Lohn und Brot, im Jahr 2000 arbeiteten 81 Männer und Frauen dort.
  Natürlich hat die Expo einen Schub gegeben - aber umgekehrt war die Expo-Teilnahme nur möglich, weil die Gemeinde bereits einiges vorzuweisen hatte. Das Amt für Regionalentwicklung, wie es damals noch hieß, wählte aus 570 hessischen Dörfern gezielt Oberellenbach als externes Expo-Projekt. Im ehemaligen Zonenrandgebiet, wo Fuchs und Has' sich angeblich Gute Nacht sagen, waren die Menschen gewohnt, auf eigene Initiative hin zu gestalten. Die Dorferneuerung war entsprechend gut vorangetrieben worden, alle Fördermittel der Landesagrarverwaltung waren vervielfacht worden durch die Aktivitäten der Einwohner, die mehrere Millionen DM investierten. Schmuck zeigt sich das Dörfchen, das zur Großgemeinde Alheim gehört und 50 Kilometer südlich von Kassel liegt. Rotenburg und Bebra sind die nächstgrößeren Kommunen, drei Kilometer entfernt ist der Bahnhof Heinebach. Ohne Auto ist es schwer, hier wegzukommen, aber die Zugverbindungen sind dann richtig gut, selbst nach Frankfurt. Zum Kindergarten fahren die Kleinsten zwei Kilometer, zur Schule vier und später dann elf. Nachmittags spielen sie auf den gepflasterten Straßen, toben um die Fachwerkhäuser mit Blumenschmuck und gepflegten Gärtchen, stehen wie überall am Wartehäuschen der Buslinie, rauchen und überlegen, wo was los sein könnte. Die Dorf-Gaststätte ist eher etwas für die Erwachsenen, die sich zum Bier treffen. Vereinsleben findet hier im Dorfgemeinschaftshaus statt - oder im Gemeinderaum der Kirche unterhalb des Kirchhof. Die ältesten Dorfbewohner sind besonders glücklich, dass vor zwei Jahren in Eigeninitiative der Dorfladen die Lücke schloss, die selbst der Hofladen des Kirchhof gelassen hat.
 
Den Dorfladen betreibt das Dorf
  Die Gemeinde unterstützte den Entwicklungsprozess und schuf durch den Umbau einer ehemaligen Scheune die räumlichen Voraussetzungen. Für den Betrieb ist eine von den Bürgern gegründete GbR verantwortlich - über 50 Oberellenbacher sind beteiligt. Zum beliebten Café im Dorfladen gesellten sich drei weitere, die allerdings nur in der EXPO-Saison geöffnet waren: auf dem in der EXPO-Scheune, bei Persephone und in der Töpferwerkstatt Geißler in Oberellenbach. Sie gehören zusammen mit dem Kirchhof, dem nahen ÷kologischen Schullandheim und Tagungshaus Licherode, das ebenfalls Expo-Projekt war, der Teppichweberei Habbishaw in Homberg/Ohm, der Korbflechterei Pfetzing und dem Bioland-Hof Brandau zu "Regiobunt Lützelstrauch". Diese Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) wurde 1996 auf Initiative des Kirchhofs gegründet und kümmert sich um die gemeinsame Vermarktung selbst erzeugter Produkte aus Landwirtschaft und Handwerk, vermittelt die traditionellen Handwerkstechniken und die damit zusammen hängenden ökologischen Kreisläufe. Dazu kommt ein handlungsorientiertes Bildungskonzept - "Lernen durch Erleben" ist das Motto, das bei den Führungen für Schulklassen und anderen Besuchergruppen umgesetzt wird. Godehard Hannig erprobte in der Expo-Zeit mit den vielen Besuchern sein Konzept, die Grundwerte des Biologisch-Dynamischen zu vermitteln. Über die Qualitätsstufen von Demeter kann er richtige Geschichten erzählen, die Menschen interessieren und gewinnen. Damit ist eine Vermittlungsmethode entstanden, die nun weitergehend in Seminaren oder im Internet-Auftritt genutzt werden soll.
  Engagement und Kooperation sind sicherlich Schlüsselbegriffe für die aktive Zukunftsgestaltung in und um Oberellenbach. Die Vernetzung war den Hannigs von Anfang an wichtig. "Als wir herkamen, haben die Bauern, die kurz vor dem Aufgeben waren, schon skeptisch geguckt, wenn wir als Laien Heu geladen haben. Sie haben aber auch gesehen, dass wir uns für keine Arbeit zu schade waren, richtig hart angepackt haben und dass wir auf den Rat der erfahrenen Menschen im Ort gesetzt haben." Nachbarschaftshilfe war damals selbstverständlich - und ist es geblieben. Sie beschränkt sich nicht auf das unmittelbare Umfeld, sondern wurde schon 1985 mit der Gründung des Vereins für biologisch-dynamischen Landbau erweitert.
 
Verein, KG und ein Beteiligungsmodell sichern den Kirchhof
  "Das waren überwiegend Kunden, die da mitgemacht haben, inzwischen hat der Verein 34 Mitglieder," erläutert Godehart Hannig. Ein Jahr später kaufte der Verein den Hof und später zehn Hektar Land - mit eigenem Geld und Krediten der GLS-Bank in Bochum. "Wir haben damals zwar noch nicht viel von Anthroposophie und biologisch-dynamischer Landwirtschaft verstanden, waren aber fasziniert und wollten diese Ansätze ausprobieren," gesteht der ehemalige Fotograf, der längst zum Vollblut-Demeter-Bauern geworden ist.
  Der Grundbesitz ist also Vereinseigentum, die Geschäfte des Hofes liegen in den Händen der Betriebsgemeinschaft, zu der zwei Familien gehören. Christine Pilz mit ihren Töchtern war als Ziegenfrau 1990 dazugekommen und managt inzwischen souverän die 100köpfige Ziegenschar, die reichlich Milch für leckere Ziegenkäse-Spezialitäten liefert. Den Stall teilen sich die kleinen Wiederkäuer mit den Kühen - zur Zeit sind es 43. "Wir haben uns spezialisiert, halten Ziegen und Kühe mit entsprechender Nachzucht, bauen Back- und Futtergetreide an, verarbeiten die Milch in der Hofkäserei und haben eine eigene Bäckerei." Im großen Bauerngarten wächst, was täglich frisch auf den Tisch der großen Gemeinschaft kommt, die sich zum Mittagessen in der gemütlichen Küche versammelt.
 
Die teuersten Arbeitsplätze sind die in der Landwirtschaft
  "Weil wir kaufmännisch vorbelastet sind, war es für uns selbstverständlich, dass wir von unserer Arbeit auch leben wollen. Dem Anspruch der Selbstversorgung sind wir bis heute treu geblieben, hinzugekommen ist die Spezialisierung in der Weiterverarbeitung und die Vermarktung." Bei den regelmäßigen Besprechungen mit den Vereinsmitgliedern werden Weichen gestellt und Aufgaben verteilt.
  "In der Landwirtschaft gibt es die wohl teuersten Arbeitsplätze überhaupt," meint Hannig. "Für Grund und Boden, Maschinen, Gebäude und das Vieh ist einfach ein enormer Kapitalbedarf nötig." Auf einem normalen 100 ha Hof, der vielleicht drei Mio. DM wert ist, arbeiten im Schnitt 1,5 bis 2,5 Menschen. Da ist der Verein als Konstrukt ein guter Ansatz, die Lasten zu verteilen und Kapital aus dem städtischen Bereich zu akquirieren. Außerdem bietet es einen Lösungsansatz für die Frage der Nachfolge: Da das Kapital sozusagen neutralisiert ist, wird kein Blutsverwandter (Sohn/Tochter) benötigt, um den Hof weiterzuführen. Der Hof kann sich seine Nachfolger suchen. Der Kirchhof hat zudem eine KG gegründet, in der es drei Komplementäre - die Betriebsleiter (Vollhafter) - und 19 Kommanditisten gibt, die jeweils mit ihrer Einlage haften. "Das ist eine rege Truppe; die berät, entscheidet und kümmert sich wirklich um viele Belange."
  Und sie hatte reichlich zu tun, denn die EXPO forderte und förderte eine rasante Entwicklung auf dem Kirchhof. So wurden der neue, sehenswerte Stall gebaut, die Käserei und der Käsekeller. Der Verein hat in den letzten Jahren über zwei Millionen Mark investiert - da machen sich die 700 000 Mark Schulden geradezu bescheiden aus.
  Wer weder im Verein noch in der KG aktiv ist, kann sich über einen Landwirtschafts-Fonds am Kirchhof und seinen Aktivitäten beteiligen. Man kann Fonds-Anteile erwerben, die verzinst werden, wobei der Ertrag in Naturalien ausgezahlt wird: Unser Zins ist Käse! So lautet das kecke Motto, mit dem auf diese Beteiligungsmöglichkeit hingewiesen wird.
  Ungewöhnliche Ideen gehören einfach zum Credo des Teams, das inzwischen von den Oberellenbachern voll akzeptiert ist und dessen Leistung sogar mit Stolz betrachtet wird. "Das wurde sicherlich erleichtert, weil wir uns von Anfang an ins Dorfleben hineinbegeben haben, in Vereinen aktiv wurden und uns hier einen Freundeskreis aufgebaut haben," sind sich die Hannigs sicher. "Natürlich ist nicht alles problemfrei, wir müssen kämpfen, weil wir uns so viel vorgenommen haben." Wichtig ist ihnen dabei, passende Partner zu finden - da war der Expo-Titel "Zukunftsgestaltung durch kooperatives Handeln", den das Amt ausgewählt hatte, genau richtig. "Für den Kulturimpuls, den wir pflegen, suchen wir Mitstreiter, denn allein könnten wir es nicht."
  In ihrer neuen Heimat genau in der Mitte Deutschlands zeigt sich die Entwicklung, die daraus entstehen kann. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für viele haben sich ganz konkret verbessert. Landflucht ist in Oberellenbach kein Thema mehr, der dörfliche Strukturwandel konnte positiv beeinflusst und ein schonender Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen erreicht werden, die Chancen für die Zukunft sind gut, die Arbeit bleibt spannend - gut, dass der Kirchhof im Dorf geblieben ist.