Lebendige Erde 3/2003:

Portrait

Züchten heißt Zwiegespräch mit dem Tier

Sybille Maurer sucht den biologisch-dynamischen Ansatz mit Rotvieh...

Neben der Kuh der andere Pol der Herde: der Stier

"Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Kälber uns schon kennen, wenn sie geboren werden". Das erwähnt Sybille Maurer so nebenbei, als wir uns im Stall ihre Kühe und Kälber anschauen. Die Bäuerin hält Harzer Rotvieh alter Angler Zuchtrichtung, hat aber ihre eigene Vorstellung von Züchtung - anders als der Zuchtverband. So wirken die Tiere weder wie eine museal erhaltene Rasse noch wie Gestelle für Milchmaschinen: den Eindruck hat man oft bei milchstarken Holstein bzw. Red Frisian Einkreuzungen, inzwischen in allen Rassen erkennbar am dürrem Hinterteil und den meist entfernten Hörnern. Die Tiere auf dem Eichenhof sind auf eine eigene Weise durchaus modern, und durchgezüchtet, kräftig und leicht zugleich. Ihren Charakter als Rotvieh haben sie erhalten - stammt doch das Harzer Vieh historisch von den Anglern ab. Mit ihren dunklen Köpfen und Schwanzspitzen, den hellen an der Spitze schwarzen Hörnern - auf beides legt die Züchterin Wert - strahlt die Herde kraftvolle Ruhe aus. Und doch sind die Kuhaugen in diesem Stall wach.
Hinter Sybille Maurers Nebenbemerkung steckt mehr. Ein kleines Brevier der züchterischen Erfahrung, wie sie wohl nur auf einem biologisch-dynamischen Betrieb noch gemacht werden kann. "Eigentlich bereite ich nur das Umfeld, und das Tier stellt sich ein" - beschreibt sie ihren Ansatz, der inzwischen als sogenannte Bedingungszucht bei Demeter Bauern Fuß fasst. Natürlich über Jahre hin, "wie es der Standort braucht und wie es zu mir passt". Denn sie findet: "Das Tier an sich ist vollkommen."

Vom Stadtkind zur Landwirtin
Die Beziehung zu den Tieren war ihr nicht in die Wiege gelegt: Stadtkind Sibylle mochte keine Milch und sah ihre erste Kuh mit achtzehn. Nach dem Abitur absolvierte sie einen Lehrgang auf der Allgäuer Melkerschule um Landwirtschaft zu studieren, mit dem Ziel Entwicklungshilfe. Sie studierte in Hohenheim und Witzenhausen , dazwischen machte sie Praktikum im Institut für biologisch-dynamische Forschung und auf einem Demeter Vorzugsmilchbetrieb. In Bischhausen, einem Fachwerkdorf an der Zonengrenze südöstlich von Göttingen, rein landwirtschaftlich geprägt, begann sie, einen Hof gemeinsam mit ihrem Mann Roland von Schmeling aufzubauen. 1983 waren es ein halber Hektar und zwei Schafe, inzwischen ist der Hof so renoviert, dass er unter Denkmalschutz steht und der Betrieb ist auf 32 Hektar und 18 Kühe angewachsen.

Züchten im Zopfmuster: mit einem Tier ging´s los
Die Herde geht auf nur ein Kalb, Elsa, zurück, 1983 gekauft. Von vorneherein war Sybille Maurer klar, dass sie mit einer lange gezüchteten Rasse, aus der Landschaft kommend, anfangen will. Erstmal zu "hören", aber konsequent dem eingeschlagenen Weg folgen: beides macht sicher ihre Stärke als Züchterin aus. Anfangs musste künstliche Besamung helfen, bis der erste eigene Bulle da war. Inzwischen sind vier Linien daraus geworden - sie hält sie am ersten Buchstaben des Namens auseinander: eine E-Linie aus Elsa, die 16 Jahre alt wurde und Eibe, Espe, Erle und andere zur Welt bracht, eine C-Linie, ein L- und ein B-zweig.
Die verschiedenen Inzuchtlinien flicht die Züchterin nach Gefühl ungefähr in der dritten, vierten Generation wieder zusammen. Wenn man die Stammbäume aufzeichnet, entsteht so eine Art Zopfmuster. In den letzen zwanzig Jahren hatte sie keine Probleme mit Inzuchtdepression, die sich einstellen kann und beispielsweise in Senkrücken oder Fehlstellung der Klauen zeigt. Im Gegenteil, die Kälber werden immer schöner - offenbar hat sie die richtige Balance gefunden. Notfalls würde die Züchterin einmal künstlich besamen und mit einem so entstandenen Bullen dann weiter züchten. Mit den Jahren ist sie mit ihrer Zucht so erfolgreich, dass der Zuchtverband ihre Tiere gut bewertet und sie eine Reihe Kälber an das Ökolandbauinstitut der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft verkauft hat.
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Zuchtziel - eine künstlerische Suche?
Biologisch-dynamische Erfahrungen zur Züchtung gibt es trotz der 80 Jahre dieser Wirtschaftsweise erstaunlich wenige, jedenfalls kaum dokumentiert. Wesentliche Ansatzpunkte sind Standortbezug und der Futter-Mist-Kreislauf. Für Sybille Maurer heißt das, die kollektive Erfahrung der Tiere mit Hof, Futter, Landschaft und den Menschen manifestiert sich in einer Herde. Kälber ab dem siebten einer Kuh bringen dann andere Voraussetzungen mit. Doch hat man, wenn man auf Lebensleistung setzt, viele alte Kühe, wird der Zuchterfolg exportiert. Mit dem Zuchtverband arbeitet die Bäuerin wenig zusammen, es gibt zur Zeit nur Befruchtung über künstliche Besamung. Bullenkataloge sind ohnehin nicht ihr Ding. Dennoch ist der Züchterin eine unabhängige Beurteilung von außen wichtig. Verschiedene Zuchtrichtungen und Rassen zu kreuzen, zerreißt die Kuh, findet sie, man könne aus einer Milchkuh keine Fleischkuh machen. Methoden wie die von Bakels, die nur Lebensleistung im Focus haben, sieht sie als Mittel zum Zweck, nicht als Zuchtziel. Das zu finden hat für Sybille Maurer etwas künstlerisches. "Züchterische Arbeit bedeutet für mich, mir - immer wieder neu - ein inneres Bild zu machen von dem Tier, das zum Hof passt und das seiner Aufgabe, wie sie z.B. Steiner im landwirtschaftlichen Kurs beschreibt, gerecht wird."

"Wesensgemäße Haltung- mit Homöopathie ergänzt
Die Herde, zur Zeit 18 Milchkühe, bewegt sich frei im großzügig bemessenen Offenlaufstall: 10 qm stehen jedem Tier zur Verfügung. Heute sind die Schiebetore wegen des eisigen Windes halb zu, die alte Scheune wurde so umgebaut, dass Sonne und Mond hinein scheinen können. Die Kühe kalben in der Herde, das Kalb läuft 14 Tage mit, bevor es zu den andern kommt - ebenfalls mit viel Platz: Kälber brauchen reichlich Bewegung. Die Trockenstehenden sind zur Zeit draußen.
Gemolken wird im 2er Tandemmelkstand, die Kühe sind davor und danach kurz im Freßgitter fixiert. Der Melkstand ist zwar klein, baulich bedingt, doch bietet er die Möglichkeit, einmal am Tag jedes Tier ganz zu sehen und schon früh auftretende Probleme zu erkennen. Trotzdem dauert das Melken nur 45 Minuten. Sibylle Maurer arbeitet intensiv mit klassischer Homöopathie, gibt vorbeugend Konstitutionsmittel und wenn das Kalb von der Kuh getrennt wird, sogar ein Mittel gegen Sehnsucht. Homöopathie ist für sie etwas Geistiges, das im Zusammenhang mit dem ganzen Betrieb wirkt. Doch ist sie kritisch gegenüber Zufallserfolgen, ebenso, wenn etwas nicht klappt: nicht überbewerten, sondern daraus lernen, ist ihr Motto und vor allem: nicht sich selbst überschätzen. Denn ausbaden müssen es die Tiere. Sie arbeitet eng mit einer Ärztin zusammen, von der sie viel lernt. So war in den letzen vier Jahren kaum ein Tierarzt nötig, die Tiere sind gesund und geben hervorragende Milch - Vorzugsmilch. Die ist dank der Rasse fettreich, 4,7% und wird streng auf Keime kontrolliert. "Der Veterinär hat uns getrimmt", zum Positiven, meint die Landwirtin. Und sie ist stolz auf eine Zellzahl von nicht mehr als 100.000 im Schnitt, trotz der vielen alten Kühe, der Altersdurchschnitt der Herde liegt bei über sechs Jahren.

Der Weg zur Kuh führt über das Futter
Beste Futterqualität ist für den Eichenhof selbstverständlich, darum kümmert sich Roland von Schmeling in seinem Arbeitsbereich, der Außenwirtschaft. Denn Kühe erleben sich seelisch über die Verdauung. Und Vermarktung als Vorzugsmilch heißt, die Kühe müssen sich wohlfühlen, sich bester Gesundheit erfreuen - sonst gibt es Probleme mit Keimen. Darüber hinaus ist das Futter wesentlich für einen gelungenen Austausch der Herde mit dem Standort: die Böden entwickeln sich im Kreislauf von Mist - Futter - Mist, unterstützt durch die biologisch-dynamischen Präparate und ermöglichen den Pflanzen eine besondere, typische Qualität. "Dass die Tiere dafür taugen, ist auch ein Aspekt der Zuchtauswahl. Neben dem Mist gehören für die Züchterin dazu Milchleistung und Gesundheit, aber auch die Anmutung, die Atmosphäre, die ein Tier ausstrahlt. Zum Melken gibt es für die Kühe gequetschten Hafer als Kraftfutter, bis zu 3 kg am Tag. Sonst besteht die Fütterung aus bestem Heu und Möhren, die kommen aus einer Futter-Mist Kooperation mit einem Bioland Betrieb in direkter Nachbarschaft.

Der Mensch ist wichtig für das Tier
Apropos Bedingungszucht: der Mensch ist der wesentliche Umgebungsfaktor im Leben der Tiere. Aus dieser Erfahrung folgert die Landwirtin: "Wenn ich an den Tieren etwas ändern will, muss ich an mir etwas ändern." Klingt da Steiners pädagogischer Hauptsatz an? "Die Tiere sind so ruhig, weil ich das so mag" erklärt sie ihren Einfluss als Züchterin, die das Umfeld so gestaltet, dass die Tiere Ruhe haben. Erzieherische Maßnahmen wendet sie nicht an. Und sie hat keine phlegmatischen Tiere. Das zeigt sich, als sie ihr Lieblingsrind vorführen will: Das kommt zwar neugierig raus, macht aber sogleich wilde Sprünge in das Stallabteil zurück, mehrmals, wie ein Spiel. Und spielerisch wirkt auch der Umgang der Bäuerin mit den Tieren und das Zugehen der Tiere auf sie. Jedenfalls können sich der Besucher und ihr Mann Roland eines Schmunzelns nicht erwehren: Spielen im Stall am Samstagnachmittag - eine vertrauensvolle und heitere Atmosphäre. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die Gemeinde wegen einem Krippenspiel im Stall nachfragte. Das war den beiden aber doch zuviel, obwohl sie Weihnachten den Stall schmücken, mit Kindern und Kühen feiern.
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Der Bulle ist Pascha
Vor dem Stier aber hat sie Respekt - auch wenn er auf sie hört. Bevor wir in die Liegefläche klettern, lockt sie ihn und macht ihn fest - wie auch beim Einstreuen. Sonst läuft er frei herum, ohne Nasenring übrigens. Gerade liegt er gemütlich inmitten seiner Damen. "Der Bulle muss Souveränität ausstrahlen." meint sie. Er hat die Aufgabe, Zärtlichkeit und Ruhe in die Herde zu bringen. Und: er steht nicht, wie oft zu sehen, in der dunkelsten Stallecke und bekommt die Futterreste zugeschoben: nein, er wird zuerst gefüttert. Seine Leistung als Vererber solle man aber nicht überbewerten. "In erster Linie bringt er Ausstrahlung in die Herde und ist in der Vererbung für die Geschlechtsbestimmung verantwortlich", so Sybille Maurer. Sie weiß, dass die Hauptvererbung über die mütterliche Linie geht. Dementsprechend wird auch der Bulle nach seiner Mutter ausgewählt. Die muss eine gute Euterform und Melkbarkeit, gesunde Striche, eine kurze Zwischenkalbezeit und eine gute Milchleistung (Stalldurchschnitt 5000 Liter im Jahr) vorweisen - neben dem für Rasse und Hof typischen Exterieur und gesunden Klauen. Auch Harmonie spielt eine Rolle - kein schwerer Bulle auf eine leichte Kuh. Ab 2010 müssen Bullen auf die Weide - so will es die EU-Öko-Verordnung, aber was das für die Halter von Zuchtbullen bedeutet, wurde wohl nicht bedacht. Zwar ließen sich die letzten Bulle auf dem Eichenhof sogar am Halfter zum Schlachter führen - doch Bullen können auch anders, und was geschieht dann draußen?

Zähmen ist etwas innerliches
"Kühe reagieren auf den Charakter, der Bulle auf den Gedanken" so formuliert Sybille Maurer ihre Erfahrungen im Umgang mit den Tieren. Deswegen bereitet sich das Landwirtepaar auch innerlich, z.B. auf das Schlachten vor. Der tägliche Umgang mit den Tieren bedarf einer inneren Gestimmtheit: "Die Tiere zeigen, was sie wollen" und das muss man wahrnehmen können. "Zähmen ist etwas innerliches" - geschieht im Kontakt zweier Wesen. Züchtung ist für Sybille Maurer ein Zwiegespräch mit dem Tier, und geschieht, "damit das Tier sich in seiner schönsten, harmonischsten und leistungsfreudigsten Art zeigen kann."

Zweites Standbein: Initiative Vermarktung
"Ich rühre, er spritzt" so beschreibt Sybille Maurer halb im Scherz die konsequente Arbeitsteilung des Paares am Beispiel der biologisch-dynamischen Präparate. Jeder hat seinen Bereich, beide sind Betriebsleiter. Dennoch ist es eine Herausforderung, wenn man als Paar jeden Tag so eng zusammenarbeitet. Zu den an Stall und Haus orientierten Aufgaben der Landwirtin ist ihr Mann der entgegengesetzte Pol: Seine Arbeit ist draußen, sprich Acker und Vermarktung. Beim Heuen kommt er öfters mal in die Zwickmühle: was ist jetzt vorrangig: Heu wenden für gutes Futter oder Kartoffeln häufeln für gute Erträge? Kleegras, Getreide, Kartoffeln - das sind die Feldfrüchte. Brot und Kartoffeln sind neben Milch und Fleisch die wesentlichen Produkte des Hofes. Das Paar ist sich einig: lieber weniger erzeugen in Top-Qualität, aber alles verkaufen. Während das Fleisch bei einem Bioschlachter zerlegt, vakuumiert und meist gleich verteilt wird, fließt für die anderen Erzeugnisse mehr Aktivität in die Vermarktung.
Bis vor kurzem wurden wöchentlich circa dreihundert Brote gebacken und Roland von Schmeling fuhr zudem noch Milch, Kartoffeln Brot aus. Das stemmen die beiden die beiden natürlich nicht ganz alleine, besonders einige ehemalige Praktikanten, jetzt Studenten, unterstützen und begleiten den Hof, wie auch Othello, Sybille Maurers erwachsener Sohn. Das Vermarktungskonzept ist allerdings gerade im Umbruch. Zwar ist der Eichenhof Mitgründer des Lieferservices Lotta Karotta mit jetzt 350 Abos, doch läuft da naturgemäß Gemüse besser. So ist die Vorzugsmilch der Türöffner für die Hoferzeugnisse. Mit zwei anderen Ökobetrieben hat der rührige Landwirt gemeinsam eine Kartoffellagerhalle aufgebaut. In der gemeinsamen GmbH können sie moderne Technik zusammen nutzen, ein computergesteuertes Lager, Sortierung. Angeschlossen ist zudem ein Schälbetrieb. Von der Menge allerdings ist der Eichenhof eher Juniorpartner: die andern bringen jeweils Kartoffeln von 20 Hektar ein, Roland von Schmeling nur ein Zehntel.

 

Wie weiter?
18 Kühe, 32 Hektar - das ist auch für Biobetriebe eine kritische Größe für´s Überleben auf Dauer. Beide sind gerne Bauern und wollen es die nächsten zwei Jahrzehnte auch noch sein. Sie können in ihrer individuellen Lösung Arbeit und Familie vereinen, ja sogar der Waldorfschule, auf die ihre Kinder Isis (14) und Nils (12) gehen, Anschauungsunterricht in Schafschur, Brotbacken und Ernten bieten. Dennoch schauen sie mit leichter Sorge in die Zukunft. Milch ist heute ein nicht mehr rentables Geschäft - die Zahl der Vorzugsmilchbetriebe in Deutschland ist in den letzen fünf Jahren auf nur noch knapp 40 geschrumpft. Von ehemals acht Vollerwerbshöfen im Dorf sind inzwischen nur noch der Eichenhof und ein weiterer mit Kühen übrig. Wegen der guten Böden sind die Pachtpreise hier sehr hoch. "Wir verdienen unser Geld dadurch, dass wir Kosten einsparen." beschreibt Sybille Maurer die aktuelle Strategie. Doch denken sie auch an Zuerwerb, um den Betrieb zu sichern. Bleibt zu hoffen, dass beide dem Zwang zu Wachstum und Masse - der auch den Ökolandbau erfasst hat, weiter ihren eigenen, biologisch-dynamischen Weg entgegen stellen können.