Ernährung

Bildekräfte in der Ernährung

Lebensmittel haben auch seelische und geistige Wirkungen

Von Petra Kühne

 

Wenn man heute auf beliebte Er­nährungsformen blickt, so stößt man beispielsweise auf die indische Ayurveda-Ernährung oder die chinesische Fünf-Elemente Ernährung. Beide stammen aus alter Zeit: Ayurveda als Heil- und Gesundheitslehre wurde etwa 300 v. Chr. entwickelt und hatte 1000 v. Chr. bis 1000 n. Chr. seine Hochblüte. Die 5-Elemente-Ernährung ist Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), die 1000 v. Chr. in China entstand. Beide heute so populären Ernährungsweisen haben gemeinsam, dass sie den Wert der Lebensmittel nicht in Nährstoffen bemessen, sondern in immateriellen Qualitäten. Die Ursache dafür liegt nicht darin, dass diese Lehren dem heutigen Materialismus kritisch gegenüber stehen, sondern in ihrer Entstehungszeit.

 

Damals - zur Hochblüte der vorderasiatischen Kulturen Baby­lons und Mesopotamiens - hatten die Menschen eine andere Art von Wissenschaft. Der kosmische Bezug, die Sternenkunde und ein selbstverständliches Erleben dieser Kräfte liegt beiden Ernährungssystemen zugrunde. Sie erklären die Welt aus fünf Ele­menten, die sich wandeln und einen Einfluss auf den Menschen haben. In der späteren griechischen Konstitutionslehre von Hippokrates (460-377 v.Chr.) gibt es nur noch 4 Elemente, das Element des Lebens (Äther) fehlt. Warum? Weil man es nicht mehr direkt erleben konnte.

 

Die Angaben der chinesischen und indischen Ernährungsweisen sollen dem Menschen zu einem Gleichgewicht, einer Harmonie verhelfen. Dies ist eine Voraussetzung für langes Leben und Gesundheit. Als Wirkungsprin­zi­pien werden Kräfte beschrieben. Wichtig sind Polaritäten wie z.B. die thermische Wirksamkeit: Warm - Kalt. So sind im Ayur­ve­da-System Spinat und Reis kalt, Weizen und Karotten heiß, was nichts mit der messbaren Temperatur zu tun hat, sondern mit Wirk­samkeiten: Kaltes muss mit Warmem ausgeglichen werden.

Gleichgewicht statt Nährstoffversorgung

Es geht hier also nicht um eine optimale Versorgung mit einzelnen Nährstoffen wie bei der naturwissenschaftlich orientierten Ernährungslehre, sondern um Harmonie und den Ausgleich von Polaritäten. Die Nahrungsmittel enthalten Energien oder wie bei der Fünf-Elemente-Ernährung den Gegensatz von Energie und Substanz, die Yin und Yang-Prinzipien. Heute benennt man dies auch als Schwingungen oder feinstoffliche Wirksamkeit (worunter man feinst verdünnte Substanzen) versteht. Interessanterweise kennt auch die Ernährungs­lehre der Äbtissin Hilde­gard von Bingen (Hildegard-Ernährung, 12. Jh. n.Chr.) diese thermische Beurteilung in Polaritäten. Auch hier geht es um die Erlangung inneren Gleichgewichts, Harmonie und Gesundheit für ein geisterfülltes Leben. Die Hildegard-Ernährung hat ebenfalls seit einigen Jahrzehnten großes Interesse ausgelöst. Woher kommt das Interesse an diesen alten Ernährungsweisen, die von heutigen Ernährungswissenschaftlern meist als religiös motiviert und naturwissenschaftlich nicht nach­vollziehbar beschrieben werden?

 

Diese alten Ernährungslehren bieten ein relativ konstantes System, das aber in seinem Rahmen individuelle Ernährungsent­schei­dungen ermöglicht. Es gibt keine genauen Vorschriften, aber z. B. bei erkanntem Yin-Mangel eine Reihe von Lebensmitteln oder Zubereitungsarten, um diesen Mangel auszugleichen. Unter diesen Möglichkeiten kann man wählen.

 

Betrachtet man diese Ernäh­rungs­lehren historisch, so basieren auf einem Denken in Polari­täten hell-dunkel, warm-kalt, Materie-Stoff und einem Streben nach geistiger Entwicklung und Harmonie in einem vorgegebenen Gleichgewicht. Die Sinneswelt wurde nicht so intensiv erlebt. Mit dem Abklingen der alten Hellsichtigkeit - dem Erleben von geistigen Kräften in der Umgebung - schuf man zuerst Erklärungssysteme, die dies verlorene Erleben durch Traditionen fortsetzte. Sie trugen bis ins Mittelalter hinein, dann setzte in Europa mit der Neuzeit die Erforschung der materiellen Natur ein. Daraus entwickelte sich die auf Nährstoffen basierende Ernährungswissenschaft. Anfänglich dachte man sich die Nährstoffe durchaus geistiger Natur und göttlicher Herkunft, bis die Beziehung zum Geistigen im 19. Jhdt. verloren ging. Die Welt wurde materiell erklärt mit Stoffen und physikalischen Kräften. Dies übertrug sich auch auf eine aus Chemie und Medizin hervorwachsende Ernährungswissenschaft.

 

Heute definiert man den Wert der Lebensmittel aus der Zusammensetzung der Inhaltsstoffe. Dabei entsteht bei vielen Menschen ein Unbehagen, denn sie essen mit Appetit (seelische Komponente), gewinnen Lebenskräfte (vitale Komponente) aus den Speisen und können dies nicht in Verbindung bringen mit den Nährstoffen (physische Komponente). Diese Diskrepanz zwischen dem Erleben und der als "unlebendig" empfundenen naturwissenschaftlichen Ernährungslehre führt dazu, dass viele sich wieder "vitaleren" Ernährungsformen zuwenden, die dem Menschen Wohlbefinden, Harmonie und Lebensenergien vermitteln wollen. Hier zeigt sich eine Sehnsucht nach einem Ernährungskonzept, das den Menschen ganzheitlicher in seinen Bedürfnissen erfasst. Man sucht Nährkräfte, Bildekräfte und nicht nur Inhaltsstoffe. Daher auch das große Interesse an den asiatischen Ernährungslehren, die auf solchen Konzepten beruhen.

Belebte Materie - der anthroposophische Ansatz

Die anthroposophische Ernäh­rungs­anschauung setzt ebenfalls hier an, allerdings mit erweitertem Blick. Es wird nicht zurückgegangen zu einer Zeit, als man die Materie noch nicht so beachtete, sondern die Materie wird belebt gedacht und mit ihrer geistigen Herkunft aus kosmischen Kräften verbunden. Dahin führen folgende Fragen:

  • Wie kann ich Lebensmittel beschreiben, so dass ihre Natur und ihre Qualität möglichst vollständig erfasst werden?

  • Wie sind die Ernährungsbe­dürf­nisse des Menschen ganzheitlich zu bestimmen?

Naturverständnis bestimmt Qualitätsbegriff

Voraussetzung für eine Qualitätsbeschreibung von Lebensmitteln, d. h. von Pflanzen und Tieren, ist ein bestimmtes Verständnis der Natur und des Menschen. Das naturwissenschaftliche Konzept geht von der materiell-physischen Dominanz aus: Nahrungspflanzen und Tiere bestehen aus Inhaltsstoffen. Ihre Entstehung erfordert (physikalische) Energie wie bei der Pflanze von der Photosynthese. Die Annahme ist, dass die Steuerung der Prozesse über die Gene erfolgt.

 

Bei den alten asiatischen Er­näh­rungslehren wurden immer geistige oder göttliche Kräfte als Bewirkendes angesehen. Im an­thro­posophischen Naturver­ständnis werden ebenfalls verschiedenste Kräfte als Verursacher der materiell-physischen Prozesse gesehen. Dies sind, neben physikalischen Energien, geistige Kräfte wie Bildekräfte, die speziell Lebendiges aufbauen und erhalten, sowie seelische Kräfte beim Tier. Diese Bildekräfte sind immer mit dem Lebendigen verbunden bei Pflanze, Tier und Mensch. Die Nährstoffe sind Endprodukte der Lebensprozesse, sozusagen der physische Niederschlag der Le­bensaktivität. Dieser Denkansatz beschreibt somit pflanzliche Lebensmittel mit ihren Inhaltsstoffen und ihren Lebenskräften, tierische Lebensmittel mit In­halts­toffen, Lebenskräften und seelischen Kräften.

Das Verständnis vom Menschen erklärt den Wert eines Lebensmittels

Dieses Naturverständnis wird beim Menschen noch ergänzt durch die Individualität, so dass der Mensch als ein Wesen mit physischem Körper, Lebenskörper (Ätherleib), Seele und Individualität verstanden wird. Die Ernährung des Menschen ist dementsprechend von mehr Faktoren geprägt als allein von Nährstoffen, die in diesem Verständnis nur einen Teil des Menschen, nämlich den physischen versorgen. In der konventionellen Ernährungswissenschaft entspricht dies dem sogenannten biologischen Ansatz (nährstofforien­tier­te Ernährung). Dazu kommt die psychische Komponente, z. B. in der Werbung benutzt, welche die Nahrungsauswahl und -ver­wer­tung beeinflusst. Der Faktor "Leben" wird bei der konventionellen Ernährungswissenschaft nicht gesehen, sondern physisch verstanden. Bei der anthroposophischen Ernährungsanschauung gilt er aber als entscheidend: Leben ernährt Leben. Nicht die isolierten Nährstoffe ernähren, sondern ihre Einbettung in ein Lebensmittel. Das Lebensmittel umfasst somit die aufbauenden und erhaltenden Lebenskräfte. Bei der Auswahl vom Lebensmitteln kommt es daher auf die Ausstattung und Qualität dieser Lebens- und Bildekräfte an. Zu den ganzheitlichen Ernährungsbedürfnissen gehören sie unbedingt dazu.

Kann man Lebenskräfte wahrnehmen?

Neben dieser denkerischen Betrachtung stellt sich die Frage nach dem Erleben solcher Qualitäten. Kann man die Kräfte oder deren Wirksamkeit erleben? Wir Menschen nehmen im allgemeinen Kräfte in ihrer Auswirkung wahr: die Schwerkraft zieht uns auf die Erde, die magnetischen Kräfte ziehen Eisen an etc. Bil­dekräfte lassen Pflanzen z. B. entgegen der Schwerkraft aufrecht wachsen (Leichtekräfte) oder bilden bestimmte Pflanzenorgane aus. Wir nehmen mit unseren Sinnesorganen wahr. Dabei verfügen wir nicht nur über die fünf bekannten Sinne: Gehör, Geruch, Geschmack, Seh- und Tastsinn, sondern auch über den Gleichgewichtssinn (Wahrnehmung unseres Körpers zur Schwerkraft), und die im Körper verteilten Sinne der Eigenbewegung (Muskelsinn) und Organwahrnehmung (Lebenssinn, Vis­zeror­ezeption). Weitere Sinne sind der Wärme-, der Wort-, der Gedanken- und der Ichsinn, so dass sich zwölf Sinne ergeben.

 

Mit den inneren Sinnen, die zu wahrnehmungsaktivsten gehören, hat Ernährung viel zu tun. Deren Eindrücke sind uns aller­dings wenig bewusst, sondern laufen vielfach über das autonome (vegetative) Nervensystem. So dringen Wahrnehmungen des Lebenssinns - z. B. Belastung des Blutes mit Nahrungszucker nicht in das Bewusstsein, obwohl diese Wahrnehmung den inneren Menschen in große Aktivität bringt. Das Stoffwechsel-Ich (Ich-Organisation) reagiert auf den ansteigenden Blutzucker und signalisiert der Bauchspeicheldrüse eine bestimmte Menge an Insulin zu produzieren und diese ins Blut abzugeben. Ständig "misst" der Lebenssinn die Blutzuckerwerte und die Ich-Organisation handelt danach: weitere Hormonzufuhr oder nicht. Bewusst werden uns diese vielen Tätigkeiten des Lebenssinns, wenn etwas falsch läuft, ein Organ schmerzt, der Magen drückt. Erst dann sind die Signale so stark, dass das bewusste Ich da­von erfährt und eingreifen kann. Schult man sich, dass solche Eindrücke auch beim normalen Er­nährungsvorgang ein wenig wahr­nehmbar werden, so erlebt man Auswirkungen der Bildekräfte der Nahrung auf den Menschen. Sicher hat jeder schon eine innere Zufriedenheit oder Unzufriedenheit ("etwas fehlt noch") nach dem Essen erlebt. Dies ist bereits ein Ansatzpunkt dieses Erlebens.

 

Nicht vergessen werden soll das Fühlen des Menschen. Gefühle und Empfindungen sind Gradmesser und erste Parameter für die Wirkung der Ernährung. Was kaum kognitiv zu beschreiben ist, drücken Körpergefühle aus: "das Essen bekommt mir", "mir fehlt etwas", "das möchte ich gern essen." Das Fühlen ist jedoch oft ungelenkt, so dass es zur Begierde heranwächst und Er­näh­rungsbedürfnisse nicht dem Bedarf entsprechen. Hier begrenzt sich der bewusste Mensch. Ein Sprichwort trifft es: Man soll aufhören zu essen, wenn es am besten schmeckt. Noch besser wäre es, bewusst wahrzunehmen: Wie intensiv ist der Geschmack? Was bewirkt er in mir. Wie fühle ich mich? So kann man Kräftewirkungen erspüren und deutlich bedarfsgerechter und weniger essen.

 

Selbstverständlich soll das nicht heißen, immer "kontrolliert" zu essen. Freude gehört zu jedem Essen, nicht ständige Kontrolle. Insofern hilft die anthroposophische Ernährungsanschauung mit dem Ansatz der Bildekräfte ebenso wie die Ayurveda- oder die Fünf-Elemente-Ernährung, den Kräftebereich des Lebendigen einzubeziehen. Dies erfolgt aber heute durch bewusste Sinnestätigkeit und bezieht die Erkenntnisse über die Nährstoffe mit ein.

Literatur

  • Hengesbach, Doris: Die Fünf Elemente Küche", Tipps und Rezepte - praktische Anleitung für eine typgerechte Ernährung. Eigenverlag. Hilden

  • Skibbe, Petra u. Joachim: Ayurveda - Die Kunst des Kochens. Darmstadt 1999

  • Kühne, Petra: Nährstoffe und Nährkräfte, Möglichkeiten einer geisteswissenschaftlichen Qualitätsanschauung. "Lebendige Erde" 6/2004, S. 26-28