Editorial

Lernen im Echtraum

Kinder wachsen immer naturfremder auf. Hatten sie vor Jahrzehnten noch Spielräume zwischen Siedlung und Natur, so leben sie heute auf örtlich wie zeitlich gestalteten Inseln. Verstädterung, abstrakt-intellektueller Schulstoff und ängstliche Eltern kommen noch hinzu, von neuen Medien, Konsumismus etc. gar nicht zu reden. Fast die Hälfte der Kinder zwischen vier und zwölf Jahren sei noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert – so das Ergebnis einer Umfrage von Emnid, zitiert von der Deutschen Wildtier Stiftung (AgE, 16.2.15). Kein Wunder, dass viele auch nicht wissen, wo die Lebensmittel herkommen und was diese wert sind.

 

Feststellungen wie diese gibt es zuhauf. Der urbane Lebensstil mit entsprechender Entfremdung zu Natur und zur Landwirtschaft hat längst auch in den Dörfern Einzug gehalten: Er kennt keine Nischen mehr, weder räumlich noch sozial. Er reklamiert das Land für die Stadt, fantasiert von Kühen in Shopping-Malls, speist sich ideell aus dem Labor und vertraut harter Technik mehr als unvertrautem Lebendig-Natürlichem. Nach der Schule zur Kartoffelernte, das ist Ewigkeiten her.

 

Hier schlägt die Stunde der Waldkindergärten und Schulbauernhöfe – der Bedarf ist, zumal in Stadtnähe, riesig. Der Lernort Bauernhof, vor allem der ökologisch bewirtschaftete, hat hier richtig viel zu bieten, aus dem vollen Leben gegriffen und im verstehbaren Zusammenhang. Ob einmaliger Besuch oder regelmäßige Gruppe, ob Ferienprogramm oder Erwachsenenbildung, ob abenteuerlich, wie mit dem Pferd pflügend oder lernend für den eigenen Garten oder Haushalt. Die Vielfalt der Tätigkeiten und Aufgaben der Landwirtschaft – neu: Multifunktionalität – war und ist ja für viele ein Motiv der Berufswahl. Die lässt sich aber auch pädagogisch nutzen, mal rein auf die Inhalte geschaut: von Mathematik bis Botanik, Ökonomie, Geschichte oder Soziologie, Physik, Technik, Haushaltsführung und Lebensmittelverarbeitung, alles drin!

 

Noch wertvoller sind die Fähigkeiten, die sich, zumal mit Kindern, hier üben lassen: Aufmerksamkeit, Durchhalten, sich erproben, etwas gemeinschaftlich leisten, Sinn erfahren. Das geht am besten mit Kontinuität, also einem regelmäßigen oder länger dauernden Angebot, wie z. B. dem Landbaupraktikum der Waldorfschulen. Oder als Konzept von Hofseite unter dem Stichwort „Handlungspädagogik“. Denn hier liegen naturgemäße Aufgaben für Ökohöfe: Zusammenhänge des Werdens und Vergehens, der Entstehung von Lebensmitteln vermitteln, Werte erfahren und nicht zuletzt, Selbstwirksamkeit erleben. Ein Potenzial, das noch lange nicht ausgereizt ist.

 

Wie eine Studie zeigt, hat schon der reine Besuch eines Schulbauernhofs einen starken Einfluss auf alle Komponenten des Umweltbewusstseins wie Wissen, Verhalten, Betroffenheit, Wohlbefinden und Werte – doch entscheidend sind, so die Autoren, die Erfahrung und das Begreifen des Gesamtzusammenhanges. Gute Argumente für mehr Schule auf dem Hof, was nichts mit Imagewerbung für die Landwirtschaft zu tun hat. Doch wird diese Leistung vieler Höfe, vieler Frauen auf Höfen, nicht hinreichend wertgeschätzt, wenn man die finanzielle Seite betrachtet. Oft aus sozialen Gründen liegt die Zahlungsbereitschaft für drei Stunden Schulbauernhof im Schnitt zwischen 2 und 3 Euro pro Kind, zur Kostendeckung nötig aber wären nach Einschätzung der Durchführenden 6 bis 8 Euro. Manche Bundesländer fördern das daher – zu wünschen wäre, dass das alle und ausreichend tun – wenn sie schon kein Fach Ernährungsbildung in die Lehrpläne bringen. Denn, richtig gemacht, ist es ein echter Betriebszweig mit nicht zu unterschätzendem Aufwand.

 

Vielleicht übertragen die Kinder, Schüler und Erwachsenen am Lernort Bauernhof das Erlernte und Erlebte ja in ihr weiteres Leben, haben verstanden, dass Kooperation vor Konkurrenz geht und dass der Homo oekonomicus nicht die alleinige Triebfeder unseres Verhaltens sein kann, schöpfen aus der Freude für die Natur die Kraft, sich für die natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen des Menschen einzusetzen.

 

Ihr