Portrait

Die Vielfalt balancieren

Familie Gerster lebt die Fülle der Landwirtschaft

von Michael Olbrich-Majer redaktion(at)lebendigeerde.de

Der Marktwagen des Sonnenguts ist eine Institution auf dem Er­ furter Wochenmarkt. Nicht nur, weil es der einzige Demeter-Stand ist vor der stattlichen Kulisse von Dom und Severikirche. Oder weil es sonst kein Bio-Angebot gibt. Oder weil er da schon immer steht. Nein: Hier gibt es einen gut gelaunten Bauern, der fast hun­ dert Erzeugnisse aus der eigenen Hofverarbeitung anbietet – hier bekommt man Milch und Honig, Käse und Brot, Eier, Wurst und Fleisch, und einen zugewandten Plausch. Gemüse dazu gibt es ne­ benan am Bioland-Stand. Die Vielfalt des Sortiments überrascht. Zumal, wenn man erfährt, dass das Sonnengut von Gerhard und Claudia Gerster als Familienbetrieb geführt wird.

Der Weg dorthin führt von der Großstadt eine Stunde nach Osten über welliges, weites Land. Irgendwann säumen Birnen- und Apfelalleen die Sträßchen, in die Mulden ducken sich kleine Orte, dann eine Nebenstraße bergauf durch einen Wald: oben, wo die Bäume zurücktreten, liegt Dietrichsroda, der Eingang zum Hof an der einzigen Straße.

Vor fünfundzwanzig Jahren entdeckte das Paar Dorf und Be­ trieb auf einer Fahrradtour, da hatten sie schon vier Jahre gesucht, fast hundert Höfe angeschaut. Gut in Schuss war bei dem traditio­ nellen Vierseithof gar nichts, aber es gab Land dazu, weil es ein Gut war. Und es war zu kriegen, weil es privat war, einer Erbengemein­ schaft gehörte: also kauften sie es mit etwas Eigenkapital und Exis­ tenzgründerkredit. Um einziehen zu können, setzten sie erstmal die Küche und ein Zimmer instand, auch heute noch gibt es Ausbauka­ pazität im geräumigen Hof. Und das Betriebskonzept? Umstellen natürlich, und dann? Gerhard Gerster kommt von einem Schweine­ mastbetrieb in Oberschwaben. Weil es Pläne für eine Biomolkerei in der Region gab, lag zunächst Biomilch erzeugen nahe. Doch die Gründung der Molkerei zerschlug sich. Ein neues Konzept für den marktfernen Hof war gefragt – die Direktvermarktung. So kamen die Gersters erst im zweiten Schritt zur Vielfalt an Betriebszweigen. An der zeigen sich heute die Vorteile, aber auch die Schwierigkeiten einer als Organismus geführten Landwirtschaft.

Landwirtschaft mit vielen Organen – biodynamisch

Der Mix aus verschiedenen Tierarten, aus Acker, Weiden, Obst, mit intensiver Hofverarbeitung und Direktvermarktung plus Energieerzeugung jedenfalls funktioniert bis heute und prägt auch die Gestalt des Betriebs. Dieser liegt auf gutem und durch sukzessiven Ringtausch der Flächen nahezu arrondiertem Grund, jedenfalls die Felder. Der Lößlehm wird hier auch Weißer Boden genannt. Den hält Gerster durch zweijährige Luzerne, Ackerbohnen sowie reichlich Zwischengrün wie Phacelia, Landsberger Gemenge und Wicke fruchtbar. Etwas mehr Hackfrucht – in der Fruchtfolge stehen hier Kartoffeln und Sonnenblumen – könnte es der Quecke wegen sein, meint der Landwirt, aber dafür muss es eine Verwendung geben. Durchs Vieh kommt noch präparierter Mistkompost dazu. Darin steckt auch ein Stofftransfer vom Grünland auf den Acker, kommt doch Heu nicht nur vom Feldfutter, sondern ebenfalls von den weiter entfernten Wiesen und Weiden in den umliegenden Tälern.

Deren Pflege ist – weil acht bis zehn Kilometer zu fahren – aufwändig, und regelmäßig muss Wasser gebracht werden zu den Jungtieren und der kleinen Mutterkuhherde. Das Milchvieh grast auf hofnahem Ackerfutter, im aktuellen Dürreherbst eher stehendes Heu. Auf diesen Flächen hat der Betrieb zusätzlich zum verteilten Streuobstbestand und der kleinen Obstanlage noch einmal 150 Obstbäume gepflanzt: nützliche Struktur auf den weiten Flächen. Denn Hecken pflanzen ist aufgrund der zersplitterten Eigentümerstruktur erschwert und mehrjährige, subventionierte Blühstreifen passen nicht zur Fruchtfolge: und wehe, wenn die Kühe diese im Herbst abweiden.

Das Vertrauen auf die Vielfalt war letztlich auch das Motiv, 2007 zu Demeter zu kommen. Als einziger viehhaltender Betrieb der Region hatten Gersters irgendwann keine Lust mehr, sich zu rechtfertigen, wenn es von den Bio-Kollegen hieß: Ihr müsst euch spezialisieren! Da passte das biodynamische Leitbild des vielfältigen Betriebsorganismus besser. Das Arbeiten mit den biodynamischen Präparaten konnte der Landwirt gut nachvollziehen – dass er Homöopathie gut kannte, erleichterte das Verstehen. Außerdem seien es nette Leute in der regionalen Demeter-Arbeitsgemeinschaft Thüringen. Ohnehin hatten Gersters bereits für die biodynamische Getreidezüchtungsforschung Darzau Saatgut vermehrt. Mit der erneuten Umstellung änderte das Landwirtepaar auch den Hofnamen: Sonnengut – das trifft es besser, wofür sie arbeiten. Denn die Kraft der Sonne soll sich auch in ihren Lebensmitteln wiederfinden.

Intensive Hofverarbeitung, vielseitige Direktvermarktung

Claudia Gerster hat Textildesign in Berlin studiert und landete durch Mann und Hof wieder in Heimatnähe. Mit der Verarbeitung der Milch fing sie schrittweise an. Ziel: unabhängig von der konventionellen Molkerei zu werden, an die der Betrieb anfangs noch lieferte. Sukzessive erweiterte die Bäuerin das Sortiment. Das Backen kam dazu. Eine kleine Käserei und eine Backstube wurden in Räumen des Hofes gebaut. Heute ist das Sortiment stattlich, zehn verschiedene Hart- und Weichkäse, dazu Feta, Quark, Joghurt etc. Und auch beim Brot gibt es Auswahl bis zum Baguette oder Rosinenbrötchen. Inzwischen käsen und backen eine Mitarbeiterin sowie Claudia Gerster. Vielfältig ist auch die Palette der Wurst- und Fleischprodukte – die sind ein Muss auf einem Markt in Thüringen. Allein fünf Sorten Schinken stehen auf der Preisliste. Schlachten und Verarbeiten lässt das Sonnengut bei einem Fleischer in der Nähe, der auch Warmfleischverarbeitung beherrscht.

Auch die Legehennen sind Arbeitsbereich der Bäuerin. Hundertfünfzig laufen hinterm Hof um einen selbstgebauten mobilen Stall herum, Domäne Gold x Silber. Sie verwerten einen Teil des Getreides, durften auch schon mausern und lassen sich gut als Suppenhühner vermarkten. Ein paar Schritte weiter stehen im Schatten der Obstbäume die sechs Bienenvölker von Claudia Gerster.

Am Rande des großen Offenstalls für das Rindvieh liegen die Schweine in ihrem Gehege. Sie verwerten die Molke, die Ferkel kommen von den drei bis vier Muttersauen, die der Hof hält. Kühe gibt es in zwei Herden – dreißig Stück Milchvieh und 15 Mutterkühe jeweils nebst Nachzucht. Zum Melken holt Gerhard Gerster die Kühe in den alten Anbindestall, zur Eimermelkanlage. Nach dem Melken werden die Milchkühe zu den Kälbern gelassen, bis zum Absetzen der Kälber praktiziert das Sonnengut muttergebundene Kälberaufzucht. Gezüchtet wird mit eigenem Fleckviehbullen.

Für die große Feldfläche ist der Betrieb gut mit Maschinen bestückt – eine Reihe dient auch als Ersatzteillager. An Lohnunternehmer vergibt Gerster eher wenig – Mist streuen oder dreschen: „Säen mach ich schon gerne“, ist sein Kommentar dazu. Die Bodenbearbeitung handhabt der Landwirt flexibel: mit und ohne (Schäl-) Pflug je nach Kultur und Bodenzustand. Den biodynamischen Kompost bereitet er in einem alten Fahrsilo im Nachbarort: Mist, Häckselgut und Erntereste werden hier zur Rotte präpariert.

Wer den Hof besucht, wie z. B. Schulklassen und interessierte Verbraucher zum Lernort Bauernhof, den Claudia Gerster betreibt, bekommt auf jeden Fall Tiere mit. Auch die vielen Obstbäume beleben den Hof – und geben eigenen Saft. Vielleicht demnächst auch Cidre, überlegen die Gersters, da der Demeter-Winzer Buddrus an der Saale noch Demeter-Äpfel dafür sucht. Im kleinen Hofladen kaufen eher Menschen aus den Dörfern der Umgebung, der würde den Betrieb nicht tragen. Der Wochenmarkt in Erfurt jedoch lohnt sich, und in der langen Zeit sind auch viele persönliche Kontakte gewachsen.

Wichtig für den Hof sind auch das Engagement und die Kontakte in der AbL: „Ohne politische Arbeit hat die bäuerliche Landwirtschaft keine Lobby“ weiß Claudia Gerster, zumal im Osten. Regelmäßig muss das Ministerium im Bundesland und auch im Bund daran erinnert werden, dass für den Ökolandbau, aber auch zur Eindämmung des Landgrabbing politische Rahmenbedingungen zu setzen sind.

Ein vielfältiger Hoforganismus fordert die Bauern

Ein wenig hadern die Gersters aber auch mit der Vielfalt. Einerseits ist sie eine Bereicherung, bindet Mitarbeiter, Kunden und Feriengäste an den Betrieb, bietet Erlebnisse für den Lernort Bauernhof. Und Abwechslung für die, die im Betrieb arbeiten. Andererseits ist es viel, viel Arbeit. Hinzu kommen Rahmenbedingungen, die es nicht einfacher machen. Zwar kann das Sonnengut einen Viehauftrieb im Frühjahr und Abtrieb im Herbst zelebrieren, ist dazu aber aufs Verständnis der Einwohner einer viehlosen Region angewiesen. Penible Bürokratie macht die Weidepflege nicht einfacher: so gab es z.B. Ärger wegen eines falschherum eingezäunten Baumes. Dann ist da auch noch die Kontrolle, ob die für Öko oder die vielen anderen, die man als Landwirt und Hofverarbeiter eben hat – Kontrollen und Auflagen wie ein spezialisierter Betrieb. Etwas weniger davon für kleinere Betriebsgrößen wie z. B. Hofverarbeitung, würde manches erleichtern, finden die Gersters. Kritisch kann man letztlich die Ökonomie betrachten, zumal, wenn man die Betriebszweige für sich allein stehend kalkuliert. Das beginnt schon mit der Schwierigkeit, die Kosten genau zuzuordnen, ist der Schlepper jetzt für Acker- oder für Futterbau? Eigentlich für beides. Und die Gestehungskosten je Erzeugnis sind oft hoch, da durch die Vielfalt keine großen Stückzahlen produziert werden. Das ist das Argument für die Spezialisierung. Ein Liter pasteurisierte Milch vom Sonnengut – Demeter-Heumilch mit muttergebundener Kälberhaltung – müsste eigentlich 2,10 Euro kosten, geht aber für 1,65 Euro über die Verkaufstheke vorm Dom. Spezialisierte Betriebe mit nur einem, durchrationalisierten Betriebszweig können am Markt meist deutlich preisgünstiger sein.

Am überregionalen Markt für Bio- und Demeter-Ware sind die Gersters nur mit einem Teil dessen, was sie produzieren; gut die Hälfte des Umsatzes kommt aus der Direktvermarktung, ein Viertel über Prämien. Nur ein Viertel geht an Großabnehmer, wie Dinkel, Weizen, Roggen an Demeter-Verarbeiter und im Jahr ca. dreißig Mastschweine an die Metzgerei der ebl-Märkte in Franken.

Auch hat es durchaus konkrete Vorteile, vielseitig aufgestellt zu sein. Dass sich Grünland und Acker über die Wiederkäuer besser entwickeln, ist eines. Mit Schafen und Pferden lässt sich nachweidend das Grünland pflegen. Das Verteilen des Risikos auf mehrere Betriebszweige trägt zum sicheren Einkommen bei. Wald bietet Baumaterial und ermöglicht, im Holzvergaser genutzt, Energiegewinnung, ebenso Photovoltaik und die kleine mit Pflanzenresten betriebene Biogasanlage. Obstgehölze erweitern das Angebot und machen Äcker lebendiger. Durch die Direktvermarktung können die Gersters Betriebszweige kompensieren, da diese sie unabhängiger von Preisen und Mengen am Markt macht. Letztlich wären ohne die Direktvermarktung der Aufbau des Betriebes sowie die Sanierung und der Ausbau des Gebäudes nicht denkbar gewesen. Infolge der Vielfalt strahlt der Betrieb auch eine Art Autarkie aus, für Besucher und Kunden ein Aha-Erlebnis: Einen Bauernhof mit allem – so etwas gibt es noch!?

Wie es weiter geht

Doch diese Vielfalt zu balancieren wird anstrengender. Und manchmal ist der Landwirt etwas neidisch auf die reinen Ackerbauern: Das Vieh ersetzen durch Tiere unter dem Acker? Nicht wirklich verlockend. Noch sind Gerhard und Claudia Gerster nicht auf der Suche nach Nachfolgern. Lea, die älteste Tochter, hat an der Uni Landschaftsgestaltung gelernt und gerade den großen Hausgarten neu angelegt. Vielleicht studiert sie doch noch was mit Landwirtschaft. Aber erstmal wäre Verstärkung gut, ein dritter verantwortlicher Mitarbeiter. Oder eine weitere Familie. Platz ist da, der ließe sich noch ausbauen. Arbeit auch.

Wohin sich der Betrieb entwickelt – Vielfalt halten oder doch hier und da intensivieren, ist offen. Berater sind da meist eindeutig: reduzieren, das Verbleibende effizient machen. Die Kunden erwarten das Gegenteil, die kommen genau wegen der Lebensmittel aus den verschiedenen Standbeinen des Hofes. Erstmal steht jetzt an, eine Erzeugergemeinschaft auf dem Markt zu gründen. Auf dem Weihnachtsmarkt, der im Advent den samstäglichen Wochenmarkt in Erfurt ergänzt, soll es mehr Bio geben.

Sonnengut Gerster

  • westlich von Naumburg, im Saale-Unstrut-Trias Naturpark, auf 300 m ü. NN

  • 8.9 °C Temperatur und 650 mm Niederschlag im Jahresdurchschnitt, 60–70 Bodenpunkte (Acker)

  • Betriebsgründung 1994, Demeter seit 2007,

  • 170 ha, davon 100 ha Acker, 50 ha Grünland, 1 ha Obstanlagen und Obstreihen, 11 ha Wald

  • Fruchtfolge: 2jähriges Luzernegras – Dinkel/Weizen – Acker­bohnen/Hafer – Roggen – Kartoffel/Sonnenblumen – Sommergerste mit Luzerneuntersaat.

  • 30 Milchkühe plus Nachzucht, 15 Mutterkühe, 4 Muttersauen, Mastschweine 30–40 p.a. , 150 Legehennen, 6 Bienenvölker, 4 Pferde, 3 Schafe

  • Hofverarbeitung (Brot, Käse aus Heumilch) mit breitem Sortiment, Kooperation mit lokalem Metzger

  • Direktvermarktung: Marktstand Erfurt, Hofladen, daneben Belieferung EVG Weimar, Bioladen Erfurt; Getreide über Spielberger, Bauck, Vermehrung für Darzau, Schweine über ebl-naturkost

  • Öko-Demonstrationsbetrieb, Lernort Bauernhof, Fe­rien­wohnung

  • Holzvergaserheizung, 117 KW Photovoltaik, 40 KW Biogas

  • AK: Betriebsleiterehepaar, sowie 2 AK in Landwirtschaft und Verarbeitung plus Lehrling, Praktikant, Aushilfe

  • Claudia und Gerhard Gerster, Dietrichsroda 16, 06632 Balgstädt, 034465 21005, www.sonnengut-gerster.de