Portrait

Schiwa Semlja Lebendige Erde

Ein biodynamischer Betrieb in der Ukraine

von Christian Butscher

Am 20. März schreibt Cristina: „Dann haben wir full house, das heißt, dann sind alle Betten und Zimmer belegt. Wir können einen Minimalwohnstandard bieten: Jeder hat sein eigenes Bett, es gibt Dusche und warm Wasser, wenn auch viel zu wenig, und Toiletten gibt es nur außen, was für unsere älteren Mitbewohnerinnen schon sehr mühselig ist ... Da wir ja in Friedenszeiten oft ganze Schulklassen fürs Landwirtschaftspraktikum auf dem Hof haben, sind wir für große Gruppen eingerichtet; wir haben zwei große Zimmer mit Kajütenbetten, wo bis zu zwölf Menschen schlafen können. Jetzt wohnen da bis zu drei Familien. Sie haben es sich so wohnlich wie möglich eingerichtet ...“

Erstmals am 25. Februar dieses Jahr berichtete Cristina Lieberherr über ihre Eindrücke vom Krieg in der Ukraine. Bis Anfang Juli schreibt sie regelmäßig über die aktuelle Situation auf dem Hof, den sie mit leitet. Vor allem berichtet sie über die Flüchtlinge, die „besonderen Gäste“, die während zwei bis drei Monaten auf dem Hof Potutory eine Zuflucht finden konnten. Dass die Westukraine bisher vom Krieg verschont blieb, hat kurz nach Kriegsbeginn dazu geführt, dass Leute aus weiter östlich liegenden Regionen auf den Hof in Potutory geflüchtet sind und dort aufgenommen wurden. Ganz zu Beginn waren es neun Personen, Mütter mit ihren Kindern. Im Laufe des Monates März sind es immer mehr geworden bis schlussendlich 32 Menschen als „besondere Gäste» auf dem Hof leben.

Eine ehemalige Kolchose – der Anfang eines Projekts

Die ehemalige Kolchose Potutory liegt in der Westukraine, 100 km östlich von Lwiw, am Dorfrand der kleinen gleichnamigen Ortschaft. Bis zum Jahr 2000 bewirtschaftete die Dorfgemeinschaft den Kollektivbetrieb mit zahlreichen großen Wirtschaftsgebäuden, Stallungen, Lagerhallen, einer alten Reinigungs- und Trocknungsanlage für Getreide und einer Mühle.

Bei der Auflösung des Betriebs wurden die Betriebsmittel und der Boden unter den 250 ehemaligen Mitarbeitenden aufgeteilt. An den Gebäuden, dem Hofgelände und den herumstehenden Maschinen begann der Zahn der Zeit zu nagen. Was an Materialien noch gebraucht werden konnte, wurde von den Dorfbewohnern abtransportiert. Auf dem Kulturland waren zunehmend Zeichen der Vergandung festzustellen. Nach ein paar Jahren trat Ivan Boyko, ganz im Interesse der ansässigen Bevölkerung, mit der Bitte an den Verein Schiwa Semlja, die ehemalige Kolchose zu übernehmen und diese zusammen mit ihm zu neuem Leben zu erwecken. Die Eltern von Ivan Boyko stammen beide aus dem Dorf Potutory und haben in der ehemaligen Kolchose gearbeitet. Ivan Boyko ist nach wie vor mit Potutory verbunden. Seine 81-jährige Mutter lebt heute noch im Dorf. Er selbst ist Lehrer für biologischen Landbau am Agrar-Technikum im nahegelegenen Städtchen Bereschani und bewirtschaftet einen eigenen kleinen biologischen Ackerbaubetrieb. Der Familienvater wird in der Umgebung als Persönlichkeit sehr geschätzt.

Schiwa Semlja Potutory GmbH

Im Frühling 2007 gründete der Verein Schiwa Semlja Schweiz zusammen mit Ivan Boyko eine GmbH mit gemeinnütziger Ausrichtung. Finanziell wurde dies möglich durch die Vermittlung von privaten Darlehen und Spenden. 2014 erwarb der Verein Schiwa Semlja Schweiz die GmbH. Geleitet wird die Farm im Team von Cristina Lieberherr und Ivan Boyko, das operativ selbständig und in strategischen Fragen eng mit dem Vorstand des Vereins Schiwa Semlja Schweiz zusammenarbeitet.

Auf ca. 7,5 ha befinden sich die Wohn- und Wirtschaftsgebäude sowie der Garten, die Mist- und Kompostplätze des Betriebes. Für dieses Betriebsgelände gibt es im Grundbuch einen bodenrechtlichen Eintrag zur Nutzung durch die GmbH. Die knapp 400 ha arrondiertes Land werden seit 2007 biologisch-dynamisch bewirtschaftet. Die Flächen wurden von den ehemaligen Mitarbeitenden der Kolchose gepachtet und mit 270 Pachtverträgen für die Bewirtschaftung durch die Schiwa Semlja Potutory GmbH gesichert.

Seit Gründung der GmbH wurde mit Unterstützung von zahlreichen Gönnerinnen und Gönnern, von Stiftungen und von Fonds in einfache Landtechnik investiert und erste Reparaturen an den baufälligsten Gebäuden vorgenommen. Zudem wurde ein schlichter Laufstall mit Melkstand für die Kühe eingerichtet. Aktuell ist der Landwirtschaftsbetrieb gegliedert in die Bereiche Ackerbau und Futterbau, Tierhaltung, Feldgemüse, Kräutergarten sowie Agrotourismus und Schulung. Seit dem Jahr 2021 ist der Landwirtschaftsbetrieb nach den Richtlinien von Bio Suisse und Demeter-International zertifiziert.

Getreidestark: Acker- und Futterbau

Auf 250 ha wird Getreide angebaut. In der Fruchtfolge stehen Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel, Hirse und Buchweizen sowie Ackerbohnen und Wicke. Schachtelhalm, der auf den Feldern gesammelt wird, wird sorgsam getrocknet und nach Deutschland exportiert. Dank der Zusammenarbeit mit der Steiner Mühle konnte die Dinkelernte von 2021 in die Schweiz exportiert werden. Von der 2022er Ernte sollen Dinkel, Hafer und Hirse an die Steiner Mühle geliefert werden. Die restlichen Ernteprodukte werden in der Ukraine vermarktet. Im Aufgabenbereich des Ackerbaus liegen auch die Mistkompostierung und die Präparatearbeit. Auf rund einem Hektar werden Feldgemüse wie Kartoffeln, Karotten, Rote Bete für den Eigenbedarf und für den Verkauf in der Region sowie Futterrüben für das Milchvieh angebaut.

Die restlichen rund 150 ha Betriebsfläche sind Dauergrünland, als Wiesen und Weiden genutzt. Dies umfasst zahlreiche Hecken, Sträucher und Büsche sowie andere Elemente des ökologischen Ausgleichs wie Weiher und Holzstapel. Die eingesetzte Technik ist teilweise veraltet und für die Betriebsgröße (zu) wenig schlagkräftig. Dank der Mitarbeit von bis zu vier Traktoristen und entsprechender Schichtarbeit während Arbeitsspitzen bei Saat und Ernte werden aber alle notwendigen Arbeiten termingerecht ausgeführt.

Kühe und Frischmilch

Die Rindviehherde der einheimischen Rasse Tschjorna Rjaba umfasst heute rund 80 Tiere, davon 45 Milchkühe. Der Laufstall ist auf 50 Milchkühe ausgerichtet, mit Abteilen für Jungvieh und Kälber. Chef der Herde ist ein Stier, der sich nachts bei den Kühen aufhält und tagsüber in der Stierbox befindet. Im Sommer wird die Herde fast ganztags auf die Weide getrieben. Im Winter steht den Tieren ein Laufhof zur Verfügung. Gemolken werden die Kühe zweimal pro Tag in einem Melkstand. Die Milch wird zum größten Teil als Rohmilch an Läden oder direkt an die Endkunden verkauft. Die Überschussmilch wird zu Frischkäse, Quark und Sauerrahm verarbeitet. Dank der Mitarbeit von zwei Melkern, zwei Hirten bzw. Stallarbeitern und einer Kälberbetreuerin können die Stallarbeiten während 365 Tagen im Jahr bewältigt werden.

Am 4. April schreibt Cristina: „Ansonsten ist bei uns so etwas wie Alltag eingekehrt. Unsere besonderen Gäste fühlen sich wie zu Hause, arbeiten mit, kochen, machen Tee, lachen und scherzen miteinander, wie es die Ukrainer gerne tun. Sie verfolgen jedoch gespannt, wie sich die Situation in ihrem Heimatort entwickelt, um abzuspüren, wann sie vielleicht heimkehren können ...“

Kräuterverarbeitung: Chaipotutory Schiwa Semlja

Cristina Lieberherr ist aufgewachsen im Engadin und arbeitete ein halbes Leben lang als Mutter und Lehrerin für Musik, danach fünfzehn Jahre als Gartenbaulehrerin an der Rudolf Steiner Schule Birseck bei Dornach. Dann wollte sie noch einmal etwas ganz anderes machen. Die Liebe zur Erde, zu den Kräutern und zur slavischen Kultur führte sie 2012 in die Ukraine auf den landwirtschaftlichen Betrieb Zhiva Zemlja Potutory. Dort baute sie unter dem Dach von „Zhiva Zemlja“ einen Kräuterbetrieb auf. Hier werden bis zu 50 Kräuter für die Verarbeitung und den Verkauf angebaut sowie Feingemüse für die betriebseigene Küche der Potutory GmbH, sowie viele Blumen. Die Kräuter aus dem Garten und die gesammelten Wildpflanzen aus der Umgebung werden sorgsam getrocknet und zu diversen Tee- und Gewürzmischungen verarbeitet. Diese Produkte werden in der Ukraine an kleine und große Läden, Restaurants und auf dem Wochenmarkt verkauft. Parallel leitet sie mit Ivan Boyko den Gesamtbetrieb.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Die rund 20 Menschen, die auf dem Feld, im Stall, im Garten und im Kräuterbetrieb Chaipotutory mitarbeiten, rekrutieren sich aus dem direkt neben dem Betrieb gelegenen Dorf Potutory. Die Verbindung der Dorfbevölkerung mit dem auf der ehemaligen Kolchose gelegenen heutigen Hof der Schiwa Semlja Potutory GmbH ist trotz des großen Wandels erhalten geblieben und könnte jederzeit durch Aufgaben in der Verarbeitung (z. B. bei der Herstellung von Käse, Kräutersalz und Teemischungen) weiter ausgebaut werden.

Agrotourismus und Schulung

In den letzten Jahren belebte sich der Hof zusehends. Schweizerische und ukrainische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Praktikanten aus Westeuropa, Schweizer Zivildienstleistende und weitere Helfende bewältigten mit großem Einsatz die vielen anfallenden und arbeitsintensiven Aufgaben. Als eine große Hilfe erwies sich der wiederkehrende Einsatz zehnter Klassen einer Rudolf-Steiner-Schule aus Ittigen (Schweiz) und aus dem ukrainischen Dnjepropetrowsk, ebenso sehr wie die Mitarbeit einer Gruppe junger Handwerker aus Horgen (Schweiz). Zwischen den jungen Menschen aus dem Ausland und der Jugend des Dorfes Potutory entwickelte sich jeweils ein reger Austausch.

Jährlich finden Kurse zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der gemeinsamen Herstellung der biologisch-dynamischen Präparate auf dem Hof statt. Jahresfeste, ein Tag der offenen Tür und weitere Anlässe, die für Belebung sorgen, sind jeweils eine willkommene Unterbrechung und Abwechslung im harten ukrainischen Alltag. Leider haben Corona-Pandemie und nun auch die besondere Situation des Krieges in der Ostukraine diese vielseitigen Initiativen der Kurse, Praktika und des Austausches gänzlich zum Erliegen gebracht.

Am 22. Mai schreibt Cristina: „Unsere Flüchtlinge verlassen uns langsam in Richtung Heimat. Die Mütter bleiben noch mit den Kindern, da dieselben hier in Potutory Online-Unterricht bekommen, und manchmal auch von den Lehrerinnen besucht werden und umgekehrt. Aber die Väter sind als Vorhut nach Irpin zurück. Von den so großzügig geflossenen Spenden, die wir für unsere Flüchtlinge bekommen haben, können wir jeder Familie ein kleines Startgeld von 5‘000 Grivnas mitgeben, was zwar nicht viel ist, aber zusammen mit dem Lohn haben sie doch ein bisschen Geld von uns mitnehmen können.“

Ausblick

Der Kampf um den Boden ist auch in der Ostukraine entbrannt. Die größte Sorge für Schiwa Semlja Potutory ist, dass der Boden, welchen wir gepachtet haben in andere Hände fällt, d.h. von anderen Agro-Firmen bei der Bevölkerung abgeworben wird und nicht mehr Schiwa Semlja Potutory zur Bewirtschaftung zur Verfügung steht. Wichtig für den Erhalt des Projektes in Potutory wird daher eine starke Kapitalgrundlage sein, um genügend Pachtzins bezahlen zu können und als weitere Möglichkeit der Erwerb der knapp 400 ha. Gebäude, Einrichtungen und Maschinen sind so sehr veraltet und in einem unzeitgemäßen Zustand, dass sich Investitionen in diesen Bereichen ebenfalls aufdrängen. Der Verein Schiwa Semlja Schweiz und das Leitungsteam der Schiwa Semlja Potutory GmbH sind auf Grund der aktuellen Lage daran, das Projekt im Gleichgewicht zu halten und für die Zukunft weiterzuentwickeln.

Cristina schreibt in einem der letzten Berichte: „Dem allem kann man entnehmen, dass nicht nur wir unsern „Flüchtlingen“ etwas geben, nämlich einen sicheren Ort und Arbeit, wo sie ein bisschen „vergessen“ können, sondern dass ihr Hiersein für uns auch eine große Bereicherung ist“.

Alle Berichte von Cristina zu den besonderen Gästen können auf der Webseite schiwa-semlja.org nachgelesen werden.

 

Autor: Christian Butscher

ehemals Demeter- Landwirt, Präsident des Vereins
für biodynamische Landwirtschaft in der Schweiz
und lange Mitglied im Vorstand der BioSuisse führt
die Geschäfte von Schiwa Semlja Schweiz.

christian.butscher(at)gmail.com

Schiwa Semlja Potutory gemeinnützliche GmbH

  • Schiwa Semlja (Landwirtschaftsbetrieb) 2007 gegründet

  • ehem. Kolchose – seit 2007 biodynamisch bewirtschaftet

  • Demeter seit 2021

  • 450 ha, davon 150 Grünland

  • 45 Kühe plus Nachzucht und Stier

  • Kräuteranbau und Verarbeitung (Chaipotutory)

  • Leitung: Ivan Boyko, Cristina Lieberherr, ca. 20 Mitarbeitende

  • schiwa-semlja.org