Essay

Kuh und Pflanze – das produktiv-kreative Sonnenkollektiv

Auf vielen Biobetrieben steht die Tierhaltung auf der Kippe – jedenfalls der Gemischtbetrieb. Arbeitswirtschaft, schlechte Preise, Spezialisierung setzen Bauern unter Druck. Das gilt auch für manche Demeter-Höfe. Warum also noch Tiere halten?

Wir sprachen mit dem Schweizer Demeter-Landwirt Martin Ott, Rheinau.

Geht es im Biolandbau auch ohne Tiere?

 

Die Landwirtschaft bildet, wenn sie richtig gestaltet ist, ein hochentwickeltes nachhaltiges Ökosystem ab. Dazu zählt wie in allen existierenden Ökosystemen auch die Tierwelt. Zu den Tieren auf dem Bauernhof gehören auf der einen Seite die Nutztiere, das sind Kühe, Pferde, Ziegen, Schafe, Schweine, Geflügel und Bienen, wie wir sie seit Tausenden von Jahren domestiziert haben. Andererseits aber auch die Tiere in der Natur, wie Regenwürmer, Vögel, Kleinsäuger, Wildschweine, Rotwild usw. Auch diese Tiere leben im Raum, den die Landwirtschaft gestaltet. Die Qualität des Gesanges der Singvögel hat sehr wohl etwas zu tun mit der Qualität der jeweiligen Landwirtschaft.

 

Der Landwirt übernimmt die Verantwortung über diese Tierwelt, ob er will oder nicht. Ich würde z. B. sehr gerne einmal das Stück Land in Afrika und die Menschen kennenlernen, die unseren Rauchschwalben, die jeden Sommer in unserem Stall brüten, im Winter Quartier gewähren. Ich betrachte sie irgendwie als Teil unserer Landwirtschaftsfläche. Man kann sich natürlich fragen, geht Landwirtschaft ohne eigentliche Nutztiere, also ohne die domestizierten Tiere. Auch hier würde ich eher „nein” sagen. Die Nutztierhaltung ist nur völlig pervertiert worden. Eigentlich ist sie entstanden aus Ehrfurcht vor dem Ökosystem. Das heisst, sie ist ein Abbild der Wildtierwelt, die der Ackerbauer vertrieben hat. Statt sie auszurotten, hat er sie zu sich genommen. So sind die Nutztiere entstanden.

Sie haben Erfahrung mit verschiedenen biodynamischen Betrieben. Welche Qualität bringt die Tierhaltung für die Hofindividualität?

 

Es liegt auf der Hand, dass die Tierhaltung natürlich eng verwoben ist mit den seelischen Prozessen, die auf einem biodynamischen Betrieb vor sich gehen. Wir betrachten das Tier nicht als ein dem Menschen untergeordnetes Wesen, sondern als Bruder und Schwester. Sie haben sich nur ausserordentlich spezialisiert, stellen Sie sich mal extrem spezialisierte Menschen vor. Wie zum Beispiel Gedächtniskünstler, Schwimmweltmeister, Schlangenmenschen oder Sumoringer. Jetzt steigern sie diese Spezialisierung bis in die Körperformen, so kommen sie zur Tierwelt.

 

... Tierhaltung mit Fürsorge gestalten

Nicht das Wildtier ist Leitbild der Demeter-Tierhaltung, sondern das mit hohem Entwicklungspotenzial begabte Haustier. Das Tier als beseeltes Wesen nimmt auf biologisch-dynamischen Betrieben eine zentrale Stellung ein. Durch die Anwesenheit des Tieres gewinnt der Betrieb wertvolle Futterpflanzen sowie hochwertigen Dünger insbesondere von Wiederkäuern. Die Tiere bekommen fast ausschließlich betriebseigenes Futter – die Kuh „schmeckt sich“ sozusagen durch den Betrieb. Im ausgeglichenen Verhältnis von Stallhaltung und Auslauf, von Artkontakten und menschlicher Fürsorge wird versucht, die Tierhaltung wesensgemäß zu gestalten. Ziel ist es, die Tierhaltung und –Züchtung dem Wesen des Tieres gemäß und seinen Bedürfnissen als Haustier entsprechend zu gestalten. Dabei nimmt der „Mensch als Begleiter“ eine wichtige Stellung ein.

Aus Demeter-Leitbild: Biologisch-Dynamisch. Ein Arbeitstext. Forschungring Materialien Nr . 9, 1999/2002

 

Eine Schleiereule zum Beispiel, wir haben seit Jahren ein Paar davon unter unserem Scheunendach, hat sich so auf das Gehör spezialisiert, dass sie eine Maus in siebzig Meter Entfernung, in völliger Dunkelheit aus dem Mausloch kriechen hört und gezielt anfliegen kann, neben einer befahrenen Autobahn: das ist Spezialisierung. Diese Spezialisierung ist aber nicht aus Eigennutz geschehen, sondern im Einklang mit der Weisheit des Naturganzen. Durch solche einseitigen Befähigungen wurden ganz wichtige Aufgaben für dessen Entwicklung übernommen. Diese Wesen verzichteten durch ihre Spezialisierung auf die Qualität der Freiheit, welche die Anatomie voraussetzt. Wir Menschen bekamen sie durch unsere Zurückhaltung in Sachen Spezialisierung ermöglicht. Sie bedeutet ein völlig neues Gut in der Entwicklung des ganzen Kosmos.

 

So hat jedes Tier seine, aus seiner Art heraus entwickelte Rolle und Aufgabe. Denken wir nur an die Kuh. Wir wissen heute aus der Ethologie, dass der Mensch sesshaft wurde, als er die Kuh angebunden hatte und umgekehrt. Warum? Weil er erst mit der Kuh ein ortsverträgliches, nachhaltiges System der Bewirtschaftung erreichen konnte. Nur die Kuh kann am selben Ort bleiben ohne krank zu werden. Nur die Kuh hat eine solche Perfektion in ihrer Verdauung entwickelt, die es ihr ermöglicht, über Jahrhunderte auf den selben paar Hektaren zu leben und der Boden wird mit ihrem Dünger immer besser. Kuh und Pflanzenwachstum sind, zusammen betrachtet, ein differenziertes, nachhaltiges Sonnenkollektiv.

 

So entstehen Getreide, Milch, Kälber, wirtschaftliche Werte und das produzierende System Kuh – Pflanze – Hof wird gleichzeitig gesünder, vielfältiger, schöner. Dies ist Landwirtschaft, heute sagt man dazu Biolandwirtschaft. Das Schaf und die Ziege kann man nicht auf so kleinem Raum halten. Sie bekommen Parasiten über den Boden, das heisst, der Boden schüttelt sie gewissermassen ab. So verstehen wir auch den Hinweis aus Steiners landwirtschaftlichem Kurs, dass der Dünger der Kuh der Pflanze eine Ich-Anlage vermitteln kann. Die Kuh frisst die Pflanze, verdaut den Pflanzenbrei in einer überaus intensiven, harmonischen und sonnendurchstrahlten Art. Das was hinten raus kommt, bedeutet für die Pflanze die Aufrichtekraft und eigentliche Lebensperspektive; Rudolf Steiner nennt es die Ich-Anlage der Pflanze. Das ist die Kernaufgabe der Kuh. Darum auch Hornmist und Hornkiesel als biodynamische Präparate.

Entsteht denn überhaupt so etwas wie ein Organismus ohne Tierhaltung?

 

Wenn wir uns einen Hof ohne Tiere vorstellen, dann müsste dieser so organisiert sein, dass die Wildtiere die Aufgaben der Nutztiere übernehmen. Dann domestizieren wir sie aber eigentlich auch wieder. Also machen wir doch lieber etwas mit den heute vorhandenen Nutztieren, die in so selbstloser Art seit Jahrtausenden an unserer kulturellen Entwicklung teilgenommen und diese mitgestaltet haben. Indem Landwirtschaft zur Industrie geworden ist, die das Ökosystem nicht nachhaltig nutzt, sondern verbraucht, ist natürlich auch die Tierhaltung degeneriert.

 

Die Kuh, welche die Aufgabe wahrnimmt, Ungleichgewichte eines bestimmten Ortes auszugleichen, wird auf dem Foltertisch der industriellen Landwirtschaft eigentlich verbraucht. Die Herden werden nicht gesünder, sondern kurzlebiger, anfälliger, ungesünder und unglücklicher. Wie man Rohöl verbraucht und verbrennt, werden Kuhherden verbraucht. Eine durchschnittliche europäische Kuh ist, bevor sie überhaupt mit 4,5 Jahren ausgewachsen ist, bereits in der Wurst. Wenn man diese Tierhaltung meint, begreife ich den Ruf nach einer viehlosen Landwirtschaft. Wir müssten uns dann aber fragen, wie wir der Pflanzenwelt die sogenannten Ich-Kräfte vermitteln wollen.

Lässt sich die Tierhaltung auf einem Demeter-Betrieb durch eine Futter-Mist-Kooperation mit einem anderen Hof ersetzen?

 

Wenn Höfe Futter-Mist-Kooperationen eingehen, bilden sie einen gemeinsamen Betrieb, einen gemeinsamen Organismus. Dazu braucht es eine gemeinsame Entwicklungsrichtung und eine gemeinsame Vision, was die Landwirtschaft ist und sein soll. Für uns wichtig ist aber auch das Weiden der Tiere auf der ganzen Betriebsfläche, integriert in eine sinnvolle Fruchtfolge. Wenn man so miteinander plant, bildet und gestaltet man zusammen eine Hofindividualität, ob man will oder nicht.

Viele Betriebe spezialisieren sich vor allem der Arbeitswirtschaft wegen. Wie ist es mit der Vielfalt? Braucht es die, entsteht da was?

 

Vielfalt, horizontal wie vertikal, ist eines der Merkmale von nachhaltigen Systemen. Je vielfältiger ein System getragen ist, desto stabiler ist es. Aber Wenige fragen, warum ist das so? Eine erste plausible Erklärung ist sicher die: Wenn viele Beine einen Tisch tragen, wird die Platte stabiler und auch das dynamische Wegbrechen von einzelnen Beinen kann leichter ertragen werden. Eine andere Erklärung ist die nicht so oft gehörte Erkenntnis dessen, wo in der Natur die kreativsten und dynamischsten Ökosysteme entstehen. Das sind die Orte, wo zwei Biotope, also zwei Lebensräume aufeinander treffen. Also am Waldrand, am Flussrand, im Wattenmeer, am Ackerrand, am Heckenrand: Dort haben wir die grösste Dichte von Lebewesen, die höchste Variabilität der Bildungen von Arten usw. Betrachen wir diese Nachhaltigkeits-Hot-spots nicht nur horizontal in der Landschaft, sondern auch vertikal zwischen den Naturbereichen. Es entstehen zusätzliche „Waldränder” zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien und untereinander. In diesen Lebenszwischenräumen, Grenzflächen und Begegnungsorten entsteht Neues, entsteht Kreativität, entstehen – erlauben Sie mir den Ausdruck – Seelisches in der Natur. Und das ist die Grundlage jeder Art von Vielfalt.

Können Sie das Thema seelische Qualitäten, die sich an der Tierhaltung entwickeln, noch etwas ausführen?

 

Der Mensch hat mit der Domestizierung der Tiere wichtige kulturelle und seelische Qualitäten ausgebildet. Dadurch sind die Tiere kulturbildend geworden. Das heutige Transportwesen wäre ohne den Beitrag der Pferde undenkbar. Der Beitrag der Kuh zur Sesshaftwerdung der Menschen habe ich bereits angesprochen. Die Industrialisierung der Tierhaltung ist vergleichbar mit der Betonisierung der Flussränder, dem Ausräumen der Hecken in der Landschaft und ähnlichem. Der Begegnungsraum Mensch – Tier wird degeneriert und wegrationalisiert. Daneben entsteht aus schlechtem Gewissen die verhätschelnde Heimtierhaltung, wo das Tier ebenfalls nicht ernst genommen wird. Eine zukünftige Tierhaltung wird dem Tier seine Würde, das heisst nicht nur sein artgerechtes Leben, sondern eben auch seine Aufgabe im Weltenganzen neu entwickeln helfen. Ein kleiner Anfang ist vielleicht das Erkennen des therapeutischen Nutzens der Tiere.

Sie erwähnten den therapeutischen Nutzen – können Sie den konkretisieren?

 

Nun, auf unseren Höfen arbeiten ja häufig auch Menschen mit psychischen oder körperlichen Einseitigkeiten mit. Da erlebt man sehr schnell, wie Tiere auf Einseitigkeiten wirken können, indem sie ihre eigene Spezialisierung in die Begegnung einbringen. Das Pferd als Bewegungsspezialist für Kommunikation durch Bewegung, die Kuh als Rhythmus-Spezialist durch Kommunikation mit Tagesrhythmen. Ein Mensch, der in einem Kuhstall mitarbeitet, bekommt einen rhythmischen Tageslauf „geschenkt”, der wie ein Metronom in seiner Lebensgestaltung Klarheit schaffen kann. Eine Katze kann unheimlich viel Emotionen aus der Mitte vermitteln, es gibt Untersuchungen, dass Menschen um Katzen herum weniger depressiv werden und weniger Antidepressiva schlucken müssen. Hier liegt ein weites Feld vor uns. Ich sage oft in Vorträgen, dass wir in hundert Jahren in jedem Schulhaus eine Kuh haben werden, da wir die Kinder ohne Kühe gar nicht mehr in einen organischen Rhythmus hinein bringen können.

Auch Kühe schädigen das Klima, so argumentieren manche – wäre das nicht ein Grund, viehlos zu arbeiten?

 

Dies ist sehr kurzfristig gedacht. Wenn man den Beitrag einer lokal gefütterten Viehherde an den Aufbau des Ackerbodens messen würde, sähe man sofort, dass ein fruchtbarer Boden Tonnenweise CO2 verarbeiten kann, im Gegensatz zu unkultivierten Böden. Die CO2-Problematik rührt vor allem aus unseren energiefressenden Transporten her und der damit verbundenen Lebensweise und ist nicht von den Tieren verursacht, die mithelfen, an einem Ort zu bleiben.

Als Demeter-Bauer wird man von Vegetariern immer wieder gefragt, warum es denn ausgerechnet tierische Hüllen sein müssen bei den Präparatepflanzen ...

 

Wir brauchen die Top-Spezialisten für gesunde seelische Prozesse. Sie liefern uns in den Organen die Töne für die Komposition und Verstärkung der Bildeprozesse, die wir aus der Pflanzenwelt in den Präparatepflanzen vor uns haben. Das Zusammentreffen einer Hirschblase mit einer Schafgarbe ist eine absolute Neukomposition, die der Mensch aus Einsicht in die Zusammenhänge der Natur, zur Belebung der Entwicklungsperspektive des Zusammenlebens zwischen Mensch und Welt, verantwortet. Da begegnen sich Welteneinseitigkeiten neu zusammengesetzt, um Leben, Harmonie und Kreativität, das heißt eigentlich „Geist”, in die Naturzusammenhänge zu bringen. Damit beginnt der Mensch den ersten Schritt vom Konsumenten der Natur, hin zur Übernahme von Verantwortung für deren Entwicklung aus Einsicht, Freiheit und Phantasie.

 

Die Fragen stellte Michael Olbrich-Majer

 

Martin Ott, Jahrgang 1955, ist Lehrer, Ex-Kantonsrat und Landwirt. Er arbeitet auf dem 140 Ha großen Demeter-Gut Rheinau, einem der grössten und vielseitigsten Landwirtschaftsbetriebe der Schweiz. Das vielbeachtete sozialökologische Projekt (Fintan), umfasst Landwirtschaft (auch Weinbau und Obst), Therapie, Saatgutzüchtung und -vermehrung (Sativa), sowie Forschung. Milchvieh, Schweine, Pferde, Schafe, Hühner, Gänse und Bienen beleben die Landwirtschaft, die von fünf Familien gemacht wird.

 

Martin Ott ist im Leitungsteam von vier Betrieben: Landwirtschaft, Metzgerei, Sativa und einem Dienstleistungs- und Forschungsbetrieb, seit 1992 im Stiftungsrat des FiBL und seit 2001 im Vorstand der Bio Suisse. Nebenbei tritt er als Musiker gemeinsam mit seinem Bruder Andreas auf.