Aus der Bewegung
Landwirtschaft in der Sackgasse
Elf Akupunkturpunkte zur Gesundung von Landwirtschaft und Ernährungssystem
Autor: Nikolai Fuchs
ausgebildeter Landwirt und Agrarwissenschaftler, Vorstandsmitglied der GLS Treuhand
nikolai.fuchs(at)gls-treuhand.de
Die lang anhaltenden Bauernproteste von Anfang 2024, zunächst gegen die Agrardieselsubventionskürzung, deuten auf tiefer liegende Probleme des Ernährungssystems hin. Im Folgenden stellt Nikolai Fuchs elf Akupunkturpunkte zur Gesundung von Landwirtschaft und Ernährungssystem vor.
1.
Die Nährstoff-Ersatztheorie als Mineralstofftheorie, auf der die heutige so genannte konventionelle Landwirtschaft maßgeblich fußt, ist, mindestens auf das Naturganze gesehen, falsch. Das landwirtschaftliche System sollte auf ein Mit-der-Natur umschwenken, anstatt weiter auf ein Gegen-die-Natur zu setzen.
Die Pflanze holt sich auf natürliche Weise, durch aktive Nährstoffmobilisierung die Mineralien aus dem Boden und, auch in Symbiose mit Mikroorganismen, den lebensnotwendigen Stickstoff aus der Luft. Mineralischer Nährstoffdünger verdrängt diesen natürlichen Mechanismus. Er schafft durch diffuses Ausbringen in den Boden ein Überangebot, das die Pflanze nicht gänzlich aufnehmen kann und das daher in die Umwelt entweicht und zur Eutrophierung von Gewässern und Luft führt. Darüber hinaus resultiert das Überangebot in einer Art Doping-Effekt bei den Pflanzen – sie wachsen zu triebig: sie müssen durch Halmverkürzer und Pestizide künstlich gestützt werden, die die Umwelt zusätzlich (massiv) belasten. Dazu verbraucht Stickstoffdünger zur Herstellung große Mengen begrenzter fossiler Energien, was zum Klimawandel beiträgt und Phosphor- und Kali-Abbau verschmutzen die Umwelt.
Die Gesellschaft versucht sich über die Politik und Gesetze gegen die Umweltverschmutzung der Landwirtschaft zu wehren. Dieses System ist am Ende, was die vielen grünen Kreuze auf den Äckern seit Jahren symbolisieren. Es braucht landwirtschaftliche Verfahren, die die Umwelt nicht nur weniger schädigen, sondern die Mitwelt sogar fördern. Es braucht eine „aufbauende Landwirtschaft“, eine ökologische, regenerative Landwirtschaft oder gar evolutive Agrarkultur. Diese „Prototypen“ einer Landwirtschaft von morgen sind entwickelt und brauchen jetzt die entsprechenden Rahmenbedingungen für ihre breite Einführung.
2.
Globalisierte Agrarmärkte gehen am Wesen der Landwirtschaft vorbei. Für den Ernährungssektor sind die Grundsätze „Regional ist 1. Wahl“ und „Ernährungssouveränität“ wesensgemäß. Das „Agreement on Agriculture“ bei der Welthandelsorganisation WTO sollte dementsprechend umgeschrieben werden (auch als Blaupause für alle anderen Freihandelsabkommen).
Nach dem Modell des komparativen Kostenvorteils von Ricardo, das der globalisierten Wirtschaft heute zugrunde liegt, soll die Produktion jeweils dorthin wandern, wo sie am kostengünstigsten hergestellt werden kann. In der Landwirtschaft führt dies zu Weizen-Gürteln, Soja- und Palmöl-Monokulturen sowie gebündelter Milchproduktion wie in Neuseeland. Monokulturen schaden jedoch der Um- und Mitwelt. In der Landwirtschaft, anders als zum Beispiel in der (Textil-)Industrie braucht es die Vielfalt vor Ort, um ein gesundes System fahren zu können. Von daher braucht es „Regional ist 1. Wahl“ als Leitbild.
3.
Preise sollten die soziale und ökologische Wahrheit sagen, sonst kann die Marktwirtschaft den Umweltschutz nicht integrieren.
Marktwirtschaft funktioniert „nach Lehrbuch“ nur bei Offenliegen aller Informationen. In der Vergangenheit wurde die Information ‚Umweltfolgekosten‘ in der Preisfindung nicht berücksichtigt, weil die Kosten (erst) von späteren Generationen beglichen werden müssen. Mittlerweile zahlt schon die gegenwärtige Generation über gestiegene Wasserpreise, Klimawandelfolgekosten etc. Von daher ist ein „true cost“-System zu etablieren. Nur dann werden entsprechende, kostenwahre Verfahren entwickelt und können sich am Markt etablieren.
4.
Bauern brauchen auskömmliche Preise für ihre Erzeugnisse. Im Lebensmittelsektor sollte ein Qualitäts-, statt einem Preiswettbewerb herrschen.
Billigpreise unterstützen das Ruinieren unserer aller Lebensgrundlagen, da sie ausbeuterische Systeme antreiben. Nur die (wirklich) bedürftigen Bevölkerungsgruppen brauchen jedoch Unterstützung z. B. in Form von Lebensmittelmarken. Die förmliche Konditionierung der Verbraucher auf den billigsten Preis über Aktionen des Einzelhandels ist zudem aufzugeben. In der Werbung ist die Qualität, nicht der Preis in den Vordergrund zu stellen.
5.
(Langzeit-)Subventionen, zudem umweltschädliche, sind ersatzlos zu streichen.
Lebensmittel zu erzeugen, ohne die Umwelt zu schädigen, sei die Nulllinie. Nur darüber hinaus gehende Leistungen für den Natur- und Umweltschutz sollten mit öffentlichen Geldern honoriert werden.
6.
Preise und Abnahmemengen sind möglichst direkt zwischen Erzeugern/Erzeugervertretern mit Verarbeitern und Händlern auszuhandeln.
In diesem Bereich führende Verarbeiter wie Voelkel und Großhändler wie Bodan am Bodensee haben Partnersysteme entwickelt, die als Blaupause dienen können.
7.
Die berufsständische Vertretung – der Deutsche Bauernverband und auf europäischer Ebene COPA – sollte sich auf ihre Kernaufgabe, nämlich bäuerliche Interessen zu vertreten, besinnen und sich aus den Verflechtungen mit der Industrie entkoppeln. Diese Verflechtung – und die entsprechende Interessenvertretung – hat die Landwirtschaft mit in die (desolate) Lage von heute hineingeführt.
In der deutschen Agrargeschichte ist gut nachgezeichnet, wie sich im letzten Jahrhundert ein agrarindustrieller Komplex geformt hat, der heute die Agenda bis tief in die Institutionen der repräsentativen Demokratie bestimmt. Es ist ein „Amalgam“ aus Landwirtschafts- und Industrieinteressen entstanden, wo im Ergebnis die Industrie profitiert. Die so genannten „Bauernverbände“ sind Teil dieses Komplexes geworden und vertreten die ursprünglichen Interessen der Bauern, wie zum Beispiel Bodenschutz und eine intakte Umwelt, nicht mehr, sondern bekämpfen jedwede Einschränkung einer industrieförmigen Landwirtschaft. Zum Schluss verlieren jedoch – vor allem – die Bauern.
8.
Um die Vernunft über Partei- und Klientelinteressen heben, sind Instrumente der konsultativen Demokratie wie Bürger- und Ernährungsräte zu stärken und ihre Ergebnisse verbindlicher als heute zu machen.
Gute Beispiele hierfür sind die Zukunftskommission Landwirtschaft (2021), der so genannte „Niedersächsische Weg“ (2022) und der Bürgerrat Ernährung (2024) sowie Ernährungsräte und dergleichen mehr.
9.
Boden ist von seinem Wesen her Gemeingut (kein privates und kein öffentliches Gut). Exzessive Spekulation mit Boden ist ein Preistreiber und verstärkt die Kluft von Arm und Reich.
Gemeingüter wie Boden werden nach der Wirtschaftsnobelpreisträgerin von 2009, Elinor Ostrom, am besten durch die Stakeholder verwaltet. Gemeinwohlorientierte Bodenträger wie Bodengenossenschaften sollten in den Agrarstrukturgesetzen Vorrang bei der Landvergabe eingeräumt werden.
10.
Die so genannte „Handlungslücke“ („action gap“) bei uns Menschen wirkt sich beim Kauf von Lebensmitteln besonders gravierend aus.
Wir Menschen befinden uns in dem Kulturzustand der Intentions-Verhaltenslücke – wir wollen Manches, aber die Umsetzung gelingt uns oft nicht, oder nicht so (konsequent), wie gewünscht. Einer Willens-Schulung sollte in der Bildung von daher breiterer Raum eingeräumt werden.
11.
Um das Ernährungssystem zu gesunden, braucht es einen neuen Gesellschaftsvertrag für Landwirtschaft.
Umfragen zeigen: Menschen wollen eine gesunde, regionale Landwirtschaft und Landschaft. Die heutige Agrarproduktion geht an den Wünschen der Menschen vorbei. Insofern braucht es eine neue Verabredung, einen neuen Gesellschaftsvertrag für Landwirtschaft. In Niedersachsen war 2022 ein Gesellschaftsvertrag für Landwirtschaft bereits sehr weit fortgeschritten. Ein Politikwechsel nach der Landtagswahl im Herbst des Jahres hat dieses Pionier-Projekt (leider) gestoppt. Dieses gilt es nun auf verschiedenen Ebenen neu zu beleben.
Erläuterungen unter https://zukunftsstiftung-landwirtschaft.de/ueber-uns/aktuelles/gesundung-von-landwirtschaft-und-ernaehrungssystem/