Editorial

Die Welt schmecken

Unser geschmackliches Differenzierungsvermögen ist in der Regel wenig ausgeprägt und bei der alltäglichen Nahrungsaufnahme meist nicht sehr aufmerksam. Dabei können uns unsere Sinne, Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn, viel über das, was wir zu uns nehmen, erzählen. Beim Wein oder anderen hochpreisigen Genussmitteln nutzt man das schon lange, schmeckt in ausdifferenzierten Degustationsschemata z. B. gerne den Boden, das Terroir, die Region heraus. Aber auch bei alltäglicheren Lebensmitteln und Speisen lässt sich zumindest die Handwerkskunst herausschmecken, wenn wir uns dafür die Zeit nehmen.

 

An letzterer mangelt es ja häufig, sonst würden viele Menschen merken, dass das, was sie zu sich nehmen, gar nicht satt macht. Oder wann es satt macht. Bemerken, ob mir ein Lebensmittel gut tut, stelle ich mit noch ganz anderen Sinnen als den geschmacklichen fest, auch von diesem Gespür für Befindlichkeit ist in diesem Heft zu lesen. Der Geschmackssinn kann Orientierung geben, Unverfälschtes, anhaltend Nahrhaftes, Wohltuendes, Heilmittel (jenseits ihrer möglichen Bitterkeit) auffinden.

 

Geschmack hat auch soziale Komponenten. Ich erinnre mich an die Mahlzeiten, die wir als Eltern unseren Kleinen im Kindergarten boten: Rief eines „bäh“, waren sofort die anderen angesteckt, und wir hatten am Ende die Schüsseln noch voll. So gibt es auch in der Erwachsenenwelt Moden des Geschmacks, Dinge oder Restaurants, die man probiert haben muss, Schmecken als Merkmal der sozialen Unterscheidung, ob nun Austern oder Bio-Caipirinha. Jeder kennt die Erfahrung, dass es an bestimmten Orten oder im Urlaub einfach besser schmeckt. Weil wir da entspannter sind? Gibt es laute Geräusche in Hintergrund, können wir schlechter süß oder salzig unterscheiden, zeigt eine Studie. Schmecken kann auch Forschung sein: Spitzenköche wissen, wie etwas schmecken muss, aber sie experimentieren damit, wie was schmecken kann.

 

Nicht alles ist Geschmackssache, Schmecken lässt sich lernen und objektivieren. Selbstverständlich nutzen auch Unternehmen der Biobranche die inzwischen wissenschaftlich entwickelte Sensorik im Qualitätsmanagement und bei der Produktentwicklung. Letztlich ist der Geschmackssinn etwas, das man pflegen muss; man kann ihn sich auch verderben, auf die bekannten Supermarktprodukte eichen. Denn da wird indirekt Geschmacksprägung betrieben wie auch rasch auf Trends reagiert. Coke und Nutella halten ihre Mischung nicht deshalb geheim, weil sie immer gleich bleibt, sondern weil sie den sich wandelnden aktuellen und regionalen Geschmacksvorlieben angepasst wird.

 

Letztlich macht Welterfahrung durch Schmecken Spaß: Wir können üben, Sorten zu unterscheiden bei Äpfeln, Kartoffeln, Möhren, Tomaten, sogar bei Brotgetreide. Oder auf einem französischen Wochenmarkt einen heftig gereiften Käse testen, in Südostasien eine Durianfrucht, ein britisches Full-Breakfast, das kostet zwar ein bisschen Mut, erweitert aber das Wahrnehmungsvermögen, zeigt die Vielfalt, die wir aus der genormten Supermarktwelt ausschließen. Früher hatte eine Region einen unverwechselbaren Geschmack: beim Brot, dem Fleisch oder den typischen Gemüsen-Sorten und Rassen unter den geographisch-sozialen Verhältnissen optimiert. Mit Ökolandbau, eigener Züchtung, Slow Food und Regionalbewegung entsteht da wieder etwas. Denn Geschmack und Duft bestimmter Gerichte stehen auch für Heimat, für familiären Ursprung, für unseren aktuellen Ort auf der Welt: wir teilen uns darüber auch mit, wie „es“ schmeckt.

 

Übrigens ist der Wortkern von lateinisch schmecken = sapere mit dem für Weisheit = sapientia verwandt. Das trifft sich mit Steiners „Pfad der Erkenntnis“ (in Theosophie): Unsere Sinne können, lässt man Vorliebe und Abneigung hinter sich, als erste Organe für Geistiges entwickelt werden.

 

 

Ihr