Ernährung

Was wirklich satt macht

Ernährung bedeutet mehr als nur Nährstoffversorgung

Von Petra Kühne

 

In einer Naturkost-Kundenzeitschrift wurden die neuesten Bio-Lebensmittel vorgestellt: Pilzsuppe in der Dose, süße Lakritze in Form von Zootieren und vegetarisches Cevapcici als Halbkonserve. Gleichzeitig klagen die Gesundheitspolitiker, Ärzte und Ernährungsberater über die Zunahme des Übergewichts mit allen Folgekrankheiten. In Kampagnen wie die „Plattform Ernährung und Bewegung”, „Fit kids” oder „Mobydick” wird versucht, unsere Kinder auf normales Körpergewicht zu bringen (1). Sättigung ist bei uns kein Problem mehr, Hunger kommt außer bei Diätkuren kaum noch vor. Die Lebensmittelmärkte sind übersättigt, ein Wachstum gibt es fast nur noch bei Bio-Lebensmitteln, das teilweise auf Verdrängung von konventionellen Produkten beruht. Inzwischen wird fast jedes aus dem konventionellem Angebot bekannte Produkt auch mit Bio-Zutaten hergestellt und verkauft. Natürlich brauchen wir weder Bio-Dosensuppen noch die Lakritze-Tiere. Sie werden trotzdem ihre Käufer finden. Und vielleicht meinen diese dann, ein gesundes, weil biologisches Lebensmittel erworben zu haben. Aber macht jedes Bio-Lebensmittel wirklich satt oder verführen nicht immer mehr Lebensmittel dazu immer mehr zu essen?

 

Satt werden die Menschen in den meisten Ländern der Welt mit Ausnahme von Krisengebieten. Selbst in China gibt es in den Großstädten inzwischen Probleme mit dicken Kindern, da dort unsere westliche, industriell-verfeinerte Kost übernommen wurde. „Satt werden” -dieser Jahrhunderte lange Traum der Menschheit ist für viele erfüllt und kehrt sich um. Jetzt ist auf mehr zu achten als auf Magenfüllung und Geschmack. Daher fragt dieser Beitrag auch nach dem „was uns wirklich satt macht”. Es geht also um die Qualität der Nahrung und die Ernährungsform der Menschen.

Die Bewertung der Nahrung

Es gibt verschiedene Ansätze, die Nahrung in ihrem Wert für den Menschen zu beurteilen. Je nach Kultur werden dafür Systeme aufgestellt, die der jeweiligen Zeit entsprachen. In lang zurückliegenden Perioden wurde im alten Indien, China oder dem urpersischen Raum die Nahrung den Grundkräften der Welt zugeordnet und in einen festen Bezug zu den Menschen und ihren „Typen” gesetzt. Die richtige Ernährung war Nahrungsaufnahme, Gesundheitsförderung und Harmonisierung in einem. In Europa entstanden später ähnliche Ansätze der „Diäta” (gesunde Lebensführung), wo die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer das Fundament darstellten. Hildegard von Bingen war eine der letzten Vertreterinnen, die diese Verknüpfung unterstützt durch ihre Hellsichtigkeit in eine Ernährungslehre umsetzte.

 

Die Neuzeit begann mit der Erforschung der Nährstoffe in Lebensmitteln. War dies zunächst nur qualitativ möglich, konnten schon bald quantitative Werte zuerst für die Hauptnährstoffe, später Mineralstoffe, Vitamine, Spurenelemente und sekundären Pflanzenstoffe ermittelt werden. Jeweils mit der Entdeckung „neuer” Stoffe und ihrer Wirkung kamen auch Empfehlungen für den Verzehr. So führte die Entdeckung der Vitamine und ihrer Hitzeempfindlichkeit zu Vorschlägen für frischen Obstverzehr oder Rohkost. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Kühleinrichtungen in den Gemeinschaftsküchen gefordert, damit dort auch frische Kost gegeben werden konnte, eine Neuerung vor 80 Jahren.

 

Die Entdeckung der Ballaststoffe in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts verhalf dem Vollkorn auch bei konservativen Ernährungsexperten zum Durchbruch. Heute empfehlen alle namhaften Ernährungsorganisationen, Vollkorn vor hellem Mehl zu bevorzugen, was sich jedoch nicht im tatsächlichen Essverhalten widerspiegelt. Aktuell gelten die sekundären Pflanzenstoffe als „wirklich wichtig” wie an der Forschung von ß-Carotin und Lykopin abzulesen ist. Prompt gibt es Kampagnen für reichlichen Obst- und Gemüseverzehr wie „5 am Tag”. Der Fokus auf die Lebensmittel und ihre wichtigen Inhaltsstoffe wechselt nach neuen Erkenntnissen und Moden.

 

Neben der naturwissenschaftlich orientierten Ernährungsforschung gab und gibt es andere Richtungen, die sich nicht oder nicht nur mit Nähr- und Wirkstoffen befassten, sondern auch mit dem „Lebendigen” und „Vollwertigen”. Neben der anthroposophischen Ernährung und der Reformernährung ist es auch bei manchen Vertretern der Vollwerternährung ein Anliegen, einen Ansatz für die lebendige Nahrung zu begründen. Denn es wird „das, was wirklich satt macht” nicht in neuen, noch nicht erforschten Stoffen gesehen, sondern auf der Ebene der gestaltenden Kräfte und ihrer stofflichen Ausprägung.

Die gesundheitsförderliche Ernährung

Heute wird der Ernährung – in Anlehnung an alte Ernährungslehren und das Erfahrungswissen der Bevölkerung – wieder ein Effekt auf die Gesundheit zugeordnet. Lange Jahre stand das „Sattwerden”, der Erhalt des Körpers, im Mittelpunkt. Dies begann mit den „Wirkstoffen”, die, ohne Energie zu enthalten, wichtig für Stoffwechselabläufe sind. So befasste sich auch die konventionelle Ernährungswissenschaft mit gesundheitsförderlichen Eigenschaften von Lebensmitteln: „Epidemiologische, biochemische und molekularbiologische Untersuchungen haben deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Inzidenz und dem Verlauf bestimmter chronischer Krankheiten und der Ernährungs- und Lebensweise geliefert. Dies unterstreicht eindrucksvoll, dass verschiedene Nahrungskomponenten neben ihrem nutritiven Wert wichtige „präventive” Eigenschaften aufweisen. Konsequenterweise müssen daher bei der Festlegung von Ernährungsempfehlungen auch präventive Aspekte von Nährstoffen berücksichtigt werden” (2)

 

Die Nahrung hält die Versorgung des Körpers aufrecht, während Nahrungsmangel zu Krankheit führt. Darüber hinaus weisen bestimmte Lebensmittel präventive, also gesundheitsförderliche Effekte auf. Damit kommt der Ernährung eine salutogenetische , d.h. Gesundheit schaffende Bedeutung zu, die sich allerdings nicht am Lebensmittel selbst, sondern in der Beziehung zum individuellen Esser zeigt. Dementsprechend sind solche Effekte nur der bewussten individuellen Erfahrung zugänglich oder durch Ernährungsstudien am Menschen statistisch nachweisbar.

 

Die Hinweise der Ernährungsberater haben jedoch einen Mangel. Sie sind für die meisten Menschen nicht erlebbar. Theoretische Empfehlungen bestimmter Kostformen müssen aber ein Erlebnis über das Gesundheitsversprechen hinaus aufweisen. Sonst fällt man in seine alten Gewohnheiten zurück. Dies ist von Diäten und speziellen Ernährungsformen bekannt. Die Aussage, dass Rauchen zu Krebs führt, bringt Raucher nicht zur Entwöhnung. Ernährungsberatung und Aufklärung mit ihren Kampagnen gelten als wenig erfolgreich (3). Am Beispiel des Übergewichts kann man dies ablesen. Es ist eines der größten Risiken für die Gesundheit und damit das Gegenteil von gesundheitsförderlicher Ernährung. Würde das reine kognitive Wissen ausreichen, sich gesund zu ernähren, müsste es einen stetigen Rückgang bei Menschen geben, die wegen ihres Körpergewichts beraten wurden. Befragungen zeigen, dass das Wissen über gesunde Ernährung vorhanden ist. Es wird jedoch nicht danach aus verschiedensten Gründen nicht danach gehandelt, u. a. weil das Essen so gut schmeckt und lecker aussieht, weil man in netter Gesellschaft mehr als notwendig isst. Das seelische Element mit Appetit, Begierden und Wünschen ist dominant, nicht der Verstand. Verhaltenstraining, d. h., das verstandesbezogene Beherrschen des Seelischen, führt meist nur kurzzeitig zum Erfolg, dann bricht das Verlangen umso stärker hervor. Die Sättigung hängt somit auch vom Gefühl ab. Spürt man, dass man wirklich satt ist? Wie muss die Nahrung beschaffen sein und wie sollte der Mensch essen? Hier ist eine intensivere Empfindungskultur gefragt. Wie wirkt die Nahrung auf mich nach dem Essen? Wie zufrieden bin ich oder hängt meine Unzufriedenheit vielleicht von der vorangegangen Mahlzeit ab?

Die sättigende Qualität der Nahrung

Die anfangs genannten Bio-Lakritz würden in größeren Mengen genauso zum Übergewicht beitragen wie andere Süßigkeiten. Selbstverständlich können Süßigkeiten in beschränkter Menge als Genussmittel auch in der Nahrung vorhanden sein. Sie ernähren eher die Seele des Menschen. Allerdings kommt es auch auf ihre Qualität, Zutaten und vor allem die Verzehrsmenge in Hinblick auf die übrige Kost an. So ist der biologische Anbau für die Umwelt günstig, aber nicht jedes Bio-Produkt ist deshalb gesundheitsförderlich. Zwar beschränken die Bio-Verarbeitungsrichtlinien beispielsweise die Zusatzstoffe, aber intensive Temperaturen, Drücke, Hochverarbeitung u. ä. sind durchaus möglich.

 

Die Demeter-Verarbeitungsrichtlinien berücksichtigen Qualität stärker und erlauben daher bestimmte Verfahren wie Extrudieren nicht. Dies setzt aber ein Qualitätskonzept in Bezug auf die Ernährung des Menschen voraus. In heutiger Zeit mischt und kombiniert man verschiedene Zutaten, produziert neue Farben und Formen. Aber es mangelt manchmal daran, diese Maßnahmen in Bezug zu den Lebensmitteln und ihren Nährstoffen zu sehen. Nicht nur, was interessant und spielerisch aussieht (Lakritztiere) oder was praktisch und bequem ist (Dosensuppe), die Geschmackssinne anspricht (Süßigkeiten), zählt zur Nahrungsqualität, sondern auch, wie das Lebensmittel auf den inneren Menschen wirkt. Die Sinne ansprechen, aber den ernährungsphysiologischen Wert beachten. Zukünftig werden die Entstehungsprozesse der Lebensmittel von Anbau, Verarbeitung und Zubereitung, die so genannte Prozessqualität, wichtiger werden.

Esskultur – der essende Mensch

Ein schonend verarbeitetes biologisch-dynamisches Lebensmittel ist für den Landwirt und Verarbeiter der Zielpunkt. Der Wert und die Wirkung zeigen sich aber erst beim Gebrauch und Verzehr. Damit tritt es in ein Verhältnis zum Menschen, wird zerkleinert und verdaut. Die Entfaltung seiner Qualitäten hängt von den Fähigkeiten und der Haltung der Essenden ab.

 

Wird in einer Tischgemeinschaft oder unterwegs nebenbei gegessen? Wird das Lebensmittel zusätzlich zur eigentlich ausreichenden Mahlzeit hineingestopft oder ungern verzehrt? Mit der Verdauung und der Auflösung der Lebensmittelstrukturen werden Kräfte und auch die Elementarwesen frei, die beim Pflanzen- und Tierwachstum mit der Materie gebunden wurden. Können wir bei aller Sattheit heute noch danken für die Lebewesen, die uns zur Nahrung dienen? In früheren Zeiten, wenn die Nahrung knapp war, fiel der Dank leichter. Heute, wo alles im Überschuss vorhanden ist, entfällt für viele die Notwendigkeit.

 

Die Verdauungsfähigkeit verstärkt sich durch bewusstes Essen und waches Erleben mit den Sinnen. Dies setzt zweierlei voraus: Eine bewusste Wahrnehmung beim Essen z. B. von Geruch, Geschmack und Konsistenz durch den Menschen und Freude daran. Auf der Seite der Lebensmittel muss natürlich auch etwas zu schmecken sein. Hier bieten Demeter-Lebensmittel eine gute Voraussetzung. Bietet das Lebensmittel zu wenig Anreiz im Aroma, sucht man das fehlende Wahrnehmungserlebnis in Süßem, Fettigen oder ähnlichem, das dann wieder zu mehr Nahrungskalorien führt. Bewusstes Schmecken macht eher satt und zufrieden, das nachträgliche Naschen geht zurück.

 

All diese Hinweise zeigen, dass die Esskultur eine oft unterschätzte Bedeutung hat. Sie wird kaum noch von Traditionen getragen, sondern muss zeitgemäß aufgegriffen und individuell und familientypisch umgesetzt werden.

 

Was macht uns wirklich satt? Es wird deutlich geworden sein, dass dies nicht auf einen Faktor wie den Bio-Anbau reduziert werden kann. Die Art der Verarbeitung und Zubereitung spielt eine große Rolle. Das Lebensmittel kann für den Mensch aufgeschlossen, veredelt werden. Es kann aber überstrapaziert und in seiner Qualität gemindert werden. Nicht abstrakte Angaben über die ernährungsphysiologisch wichtigsten Inhaltsstoffe, nicht nur die Sinne anregende Präsentation ergeben ein „sattmachendes” Lebensmittel, sondern die Stimmigkeit der inneren und äußeren Qualität in Beziehung zu den Verbrauchern.

 

Kurz & knapp

  • In der Ernährung kommt es nicht nur auf Stoffe an, sondern auch auf Kräfte, die sie vermittelt.

  • Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln haben darauf Einfluss.

  • Ess- und Wahrnehmungskultur fördern die Wirkung der Ernährung.

Zur Vertiefung:

  • Zeitgemäße Ernährungskultur zwischen Natur und Labor. Dr. Petra Kühne, Hrsg. Forum Zeitfragen. Menon Verlag Heidelberg 2000, 50 S., 5,60 €

  • Was essen wir eigentlich? Praktische Gesichtspunkte zur Ernährung auf geisteswissenschaftlicher Grundlage, von Dr. med. Otto Wolff, Praxis Anthroposophie 44, 2.Auflage 1998, 144 S., 8,90€

  • Gesund mit Demeter. Von Dr. med. Fritz Spielberger, Baier Verlag Crailsheim 2004, 132 S., 19,80 €

Quellen

  • (1) www.ernaehrung-und-bewegung.de/peb In der Plattform Ernährung und Bewegung e.V. (peb) finden sich viele gesellschaftlicher Kräfte, die sich aktiv für eine ausgewogene Ernährung und viel Bewegung bei Kindern und Jugendlichen engagieren.
    • www.fitkid-aktion.de/ FIT KID ist ein Projekt im Rahmen der Kampagne „Besser essen, mehr bewegen – kinderleicht“ des Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
    • www.mobydicknetzwerk.de. Moby Dick ist ein ambulantes Therapieprogramm für übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 17 Jahren.

  • (2) Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Hrsg. Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Umschau Verlag Frankfurt 2000, S. 211

  • (3) Therapiefall Ernährungsberatung. „Ernährung im Fokus“ 6/07. S. 176

Dr. Petra Kühne ist Ernährungswissenschaftlerin und Buchautorin und leitet den Arbeitskreis für Ernährungsforschung in Bad Vilbel.

 

Arbeitskreis für Ernährungsforschung,

61118 Bad Vilbel, Niddastr. 14

http://www.ak-ernaehrung.de