Ernährung

Babybrei mit Vitaminen anreichern?

Eine kritische Betrachtung

Die hohen gesetzlich vorgeschriebenen Thiamin (Vitamin B1)-Gehalte in Bio-Getreidebeikost stehen im Widerspruch zur wissenschaftlichen Bewertung und zur Erwartung der Verbraucher.

Von Dr. Alexander Beck, Annette Weber, Büro Lebensmittelkunde & Qualität, Bad Brückenau, http://www.bl-q.de

 

Seit einigen Jahren müssen Hersteller von Babykost ihren Produkten isoliertes, meist synthetisches Vitamin B1 (Thiamin) zusetzen, wenn sie ihre Getreidebreie für die Säuglingsnahrung ausloben. Daher gibt es zurzeit keine Demeter-Lebensmittel in diesem Segment. Dieses Dilemma hat seine Ursache in einem Zielkonflikt verschiedener EU-Regelungen. Der in der Beikost-Richtlinie 2006/125/EG vorgegebene Mindestgehalt an Thiamin in Getreidebeikost 100 µg/100 kcal kann durch natürliche Rohstoffe nicht erreicht werden. Somit wird eine Anreicherung mit isoliertem Thiamin notwendig, die weder den Erwartungen der Verbraucher an Bio-Lebensmittel noch den Erwägungsgründen und Prinzipien der EG-Bio-Verordnung Nr. 834/2007 gerecht wird.

 

Im Codex Alimentarius, einem Regelwerk der FAO / WHO, welches de facto ein internationales Lebensmittelrecht ist, wird ein um die Hälfte geringerer Thiamin-Mindestgehalt vorgegeben als in der EU-Beikost-Richtlinie. Weder der Vergleich europäischer und nationaler Referenzsysteme noch die Untersuchung einer möglichen Mangelversorgung mit Thiamin oder der Thiamin-Dichte „anderer Beikost“ gab einen Hinweis darauf, dass eine Anreicherung gerechtfertigt ist.

Natürlich, empfohlen, vorgeschrieben: Thiamin-Gehalte

 

Vorkommen, Vorschrift,Zweck

Thiamin(µg/ 100 kcal)

natürlich

Dinkel Vollkorngetreide 100g

Reis Vollkorngetreide 100g

Hafer Vollkorngetreide 100g

93

120

14

vorgeschriebener Thiamin-Gehalt

im verzehrsfertigen Produkt

Beikost-Richtlinie 2006/125/EG

Codex Alimentarius 2006

mind. 100

mind. 50

Thiamin-Zufuhrempfehlung

D-A-CH

Altersgruppe 4 bis unter 12 Monate

Altersgruppe 1 bis unter 4 Jahre

57

60

     

Beikost-Richtlinie, EG-Bio-Verordnung und Verbrauchererwartungen

Die Mindestgehalte an Vitaminen für Thiamin, Vitamin A und D für Säuglinge und Kleinkinder in Getreidebeikost sind im Anhang I und II der Beikostrichtlinie von 2006 festgelegt. Insbesondere die Vorgaben für Mindestmengen zum Thiamin-Gehalt stellen für die Hersteller von Bio-Beikostprodukten ein Problem dar. Der Mindestgehalt für Thiamin gilt für den verzehrsfertigen Getreidebrei. Obwohl Vollkorngetreide ein guter Thiamin-Lieferant ist, muss aufgrund des hoch angesetzten Wertes isoliertes Thiamin zugesetzt werden. Denn werden Getreideerzeugnisse nach der Zubereitungsvorschrift mit Vollmilch zu einem verzehrsfertigen Brei zubereitet, sinkt der Thiamin-Gehalt pro 100 kcal, da die Thiamin-Dichte der Vollmilch (54 µg/100kcal) wesentlich geringer ist als die des Getreides.

 

In der Folge sind Bio-Getreidebreie, Bio-Flocken und Bio-Zwieback, die als Beikost in den Verkehr gebracht werden, nur in vitaminangereicherter Form erhältlich. Diese Anreicherung widerspricht jedoch dem Grundanliegen von Bioproduzenten, Lebensmittel „so natürlich wie möglich“ zu belassen. Die Verbraucher von Bio-Lebensmitteln erwarten, dass diese ohne Zusatzstoffe oder andere isolierte bzw. synthetische Stoffe hergestellt werden. Kunden von Baby- und Kindernahrung gelten als besonders kritische und aufgeklärte Konsumenten. Demgemäß wollen insbesondere Hersteller von Bio-Kinderbeikost ihre Produkte nur unter Verwendung von natürlichen Sub­stanzen und Verfahren herstellen. In den Erwägungsgründen der EG-Bio-Verordnung wird dargestellt, dass natürliche Substanzen aus natürlichen Verfahren zu bevorzugen sind. Nur in definierten oder in zu definierenden Fällen ist es gemäß der EG-Bio-Verordnung erlaubt, z. B. Mikronährstoffe in isolierter bzw. in synthetischer Form bei Bio-Lebensmitteln einzusetzen.

Definition von Beikost in der Kleinkindernährung

Als Beikost definiert die entsprechende Richtlinie Lebensmittel außer Milch, die für gesunde Säuglinge und Kleinkinder während der Entwöhnungsperiode bzw. während der allmählichen Umstellung auf normale Kost bestimmt sind. Dies betrifft Säuglinge und Kleinkinder bis drei Jahre. Beikost ist nicht die alleinige Ernährung, sondern Bestandteil einer abwechslungsreichen Kost. Bei Getreidebeikost handelt es sich um einfache Getreideerzeugnisse wie Flocken, Griese, Teigwaren und Zwiebacke und Kekse, die entweder mit Milch oder anderen Flüssigkeiten zubereitet werden und nach dem Kochen bzw. als solche verzehrt werden.

 

Die besonderen ernährungs- und entwicklungsphysiologischen Anforderungen an die Säuglingsernährung berücksichtigt ein für die Praxis in Deutschland von der wichtigsten Forschungseinrichtung für Kinderernährung, dem Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE) entwickelter Ernährungsplan für das erste Lebensjahr: Dieser sieht erst ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres Beikost vor. Die Beikost-Richtlinie geht allerdings davon aus, dass auch Kleinkinder von ein bis drei Jahren Breie im Sinne von Beikost zu sich nehmen. Bis zum vierten bzw. sechsten Monat wird ausschließlich Milchernährung empfohlen. Ab dem fünften bis siebten Monat folgt die Einführung von Beikost, die dann ab dem zehnten Lebensmonat allmählich zur Familienkost übergehen sollte. Mit der Einführung von Beikost im 5. bis 7. Monat wird die Milchnahrung sukzessive durch Breie abgelöst. Empfohlen werden Gemüse-Kartoffel-Breie, Vollmilch-Getreide-Breie, Getreide-Obst-Breie. Gegen Ende des ersten Lebensjahres wird eine vollwertige Mischkost empfohlen.

Beikost-Richtlinie versus Codex Alimentarius

Lebensmittel für Kleinkinder fallen unter einen besonderen Schutz, deshalb hat der Gesetzgeber sowohl Säuglingsanfangsnahrung als auch Beikostprodukte in spezifischen Gesetzen detailliert geregelt. Hervorzuheben ist allerdings, dass Säuglingsanfangsnahrung ein industrielles Ersatzprodukt nach dem Vorbild der Muttermilch ist, die als Ersatznahrung nach bester wissenschaftlicher Erkenntnis der Muttermilch in Bezug auf die Inhaltsstoffe nachgebaut werden muss. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Beikost um ganz normale, alltägliche Lebensmittel, die zunächst in Breiform neben einer Milchmahlzeit gereicht werden und allmählich auf feste Kost vorbereiten soll.

 

Sowohl die Beikost-Richtlinie (EU) als auch der Codex Alimentarius (WHO/FAO) definieren Beikost bis zum dritten Lebensjahr. Im Unterschied zum Codex Alimentarius legt die EU allerdings einen doppelt so hohen Mindestgehalt für Thiamin in Getreidebeikost fest. Die von FAO und WHO festgelegte Mindestmenge von 50 µg/100 kcal kann im Gegensatz zum EU-Wert von 100 µg/100 kcal bei entsprechend schonender Verarbeitung und Auswahl der Rohstoffe auf Grundlage des natürlich in Getreide vorkommenden Thiamins erreicht werden. Worauf basiert der doppelt so hohe EU-Wert?

Zufuhrempfehlungen auf Nummer sicher

Auch die europäischen Nährwertempfehlungen (Population Reference Intake PRI - SCF 1993) liegen für Thiamin bei Kindern im Alter von ein bis drei Jahren bei 50 µg/100 kcal/Tag. Im Gegensatz zur Beikost-Richtlinie und zum Codex Alimentarius beziehen sich die Referenzwerte der Gesellschaften für Ernährung der drei deutschsprachigen Staaten (D, A, CH) für Thiamin pro 100 kcal aber nicht auf den verzehrsfertigen Getreidebrei, sondern auf die gesamte Kost. Im Tagesdurchschnitt sollten 57 µg/100 kcal bzw. 60 µg/100 kcal Thiamin über die verschiedenen Thiamin-Quellen aufgenommen werden. Wird ein Säugling ausschließlich gestillt, werden über die Muttermilch gerade mal 22 µg/100 kcal aufgenommen d. h. die Empfehlungen liegen deutlich über dem Gehalt der Muttermilch. Zudem ist zu bedenken, dass jede Empfehlung einen zwanzig- bis dreißigprozentigen Sicherheitszuschlag beinhaltet und über einen längeren Zeitraum z. B. im Wochendurchschnitt erreicht werden soll. Werden die Empfehlungen rechnerisch nicht erreicht, liegt noch lange kein Vitaminmangel mit charakteristischen Mangelsymptomen vor.

Thiamin-Gehalt von Beikosterzeugnissen

Wichtige Zutaten für die Zubereitung von Beikost sind Gemüse und Kartoffeln. Der Vergleich der Thiamin-Dichten zeigt, dass z. B. Kartoffeln eine Thiamin-Dichte von 157 µg/100 kcal, Möhren von 280 µg/100 kcal und Zucchini sogar von 2.777 µg/100 kcal haben. Die Thiamin-Dichte dieser Erzeugnisse ist erheblich höher als die des Getreides. Daraus folgt, dass die mögliche Kompensation von mangelhafter Thiamin-Dichte in anderen typischen Beikostrohstoffen nicht relevant ist und somit nicht als Begründung für die hohen Thiamin-Vorgaben in Getreidebeikost dienen kann.

Empfehlung zur Ernährung im 1. Lebensjahr

0 bis 6 Monate

 

ausschließliche Milchernährung (Muttermilch bzw. Säuglingsanfangsnahrung)

ab dem 5. bis 7. Monat

 

Einführung von Beikost

ab dem 10. Monat

 

Einführung von Familienkost

Versorgung mit Thiamin

Es liegen nur wenige Daten zur Thiamin-Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern vor, denn die bisherigen Untersuchungen zur Ernährung von Kindern und Jugendlichen waren entweder lückenhaft oder sehr regional beschränkt. Aufschluss über die Ernährungslage von Säuglingen und Kleinkindern in Deutschland gibt die im Ernährungsbericht 2008 der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) veröffentlichten Verzehrsstudie zur Ermittlung der Lebensmittelaufnahme von Säuglingen und Kleinkindern (VELS). Diese Studie untersuchte den Lebensmittelverzehr und die Nährstoffzufuhr von Säuglingen ab sechs Monaten und Kleinkindern unter fünf Jahren im Vergleich zu den D-A-CH-Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr. Wirkliche Defizite konnten nur bei Vitamin D und Folat festgestellt werden. Die meisten Nährstoffe, einschließlich Thiamin, lagen in der besprochenen Altersgruppe im sicheren Bereich oder deutlich über den Empfehlungen. Somit kann auch die Vermutung, dass es sich bei dem hohen Mindestwert um Vorsorgewerte zur Kompensation einer Mangelversorgung handelt, abgewiesen werden.

Fazit: EU-Wert senken

Eine Absenkung des Wertes von 100 µg/100 kcal (EU) auf 50 µg/100 kcal (Codex Alimentarius) wäre gerechtfertigt, da dieser wissenschaftlich nachvollziehbar erscheint. Auf der Basis des niedrigeren Wertes ist es möglich, mit ökologischer Getreidebeikost bei entsprechend schonender Verarbeitung und Auswahl der Rohstoffe den Thiamin-Mindestwert ohne Anreicherung mit isoliertem Thiamin zu erreichen. Dies würde sowohl dem Bio-Recht der EU entsprechen als auch die Wahlfreiheit der Verbraucher stützen und somit dem Wunsch nach „nicht ange­reicherter Beikost“ entgegen kommen.

 

Die Studie wurde in Auftrag gegeben vom Demeter e.V., Darmstadt