Ernährung

Ehrlich und selbstbestimmt essen

Wie geht das und was hat die Anthroposophie damit zu tun?

von Maike Ehrlichmann

 

Ehrlich Essen – das ist eine seriöse Antwort auf die Frage „Wie geht eigentlich gesund essen?“ Ich frage mich letzteres seit Studienbeginn und suche noch immer tagtäglich nach Antworten, in den Ergebnissen der aktuellen Forschung, den Diskussionen praktizierender Ernährungsberater, im alten Wissen asiatischer Gesundheitslehren sowie in direkten Erfahrungen aus meiner Beratungstätigkeit. Seit meiner Begegnung mit der Biodynamik und den ersten Einblicken in anthroposophische Ansichten über das Essen, schaue ich auch hier. Mit mir sind viele andere auf dem Weg, „gesundes Essen“ für sich zu definieren. Das sehen wir in verunsicherten Gesichtern und individuell bepackten Einkaufswagen der Konsumenten. Nach zehn Jahren wahrnehmenden Fragens habe ich im selbstbestimmen, ehrlichen Umgang mit den individuellen Bedürfnissen eine Lösung für mich und meine Klienten gefunden. Dieser Artikel soll einen Einblick in die Situation der modernen Ernährungsberatung geben und die Rolle der Biodynamik hier für ein Erstes einsortieren.

Was bedeutet ehrlich essen?

Ehrlich Essen findet meiner Ansicht nach auf drei Ebenen statt:

Ehrliche Lebensmittel, die ehrliche Botschaften an den Körper kommunizieren.
Der Esser soll ehrlich zu sich selbst sein – auf die körpereigenen Signale von Hunger, Appetit und Sättigung hören
Ehrlicher Rat – als Beraterin habe ich verantwortungsvoll ehrlichen Rat zu geben, nach therapeutisch sinnhaftem Codex, bestem Gewissen und aktuellem Stand unabhängiger (!) Wissenschaft. Zu einem ganz ehrlichen Rat gehört außerdem das Eingeständnis, dass das Individuum selbst der beste Experte für sich ist und sein Wissen mit einbezogen werden muss. Diese Methode zum selbstbestimmten und intuitiven Essen entwickelte sich in mir als Konsequenz aus meiner Erfahrung und Wissen aus zehn Jahren Ernährungsberatung und -journalismus. Inzwischen arbeite ich damit in Einzelberatung, Seminaren und betrieblicher Gesundheitsförderung.

Wie steht´s um unser Essen?

Alle drei oben genannten Ebenen des Essens gehen in unserer Gesellschaft zunehmend verloren:

 

Erstens: Ehrliche Lebensmittel zu erkennen und von zusatzstoffhaltigen, hochverarbeiteten Produkten zu unterscheiden, wird für den Verbraucher immer schwieriger. Selbst traditionelle Lebensmittel wie Brot stecken (in Nichtbioqualität) oft voller Zusatzstoffe. Aromen und Geschmacksverstärker wie Glutamat und Hefeextrakt finden sich von der sauren Gurke, über Fertiggerichte bis hin zu Fruchtjoghurts. Weniger, aber auch im Biobereich. Hier ist Demeter absoluter Vorreiter. Unehrliche Lebensmittel informieren den Körper nicht korrekt über ihre Nährwirkung und stören so das hochkomplexe und überaus empfindliche System für Appetit und Sättigung.

 

Zweitens: Die Menschen sind verunsichert, überschwemmt von einer Flut pseudowissenschaftlicher Ess-Trends. Quinoa, Sushi und Sojamilch gewinnen den Gesundheitscontest gegen Hafer, Karotte und guten Käse. Entspannter Umgang mit ganz normalen Lebensmitteln wird in unserer Gesellschaft immer seltener. Mit unseren Ess-Entscheidungen schmücken wir uns (lowcarb, vegan, glutenfrei, rawfood,...), drücken geradezu soziale Zugehörigkeiten aus. Menschen bewerten einander nach dem Blick auf die Teller. Wenige nur haben noch das Selbstbewusstsein, sich auf innere Signale von Appetit und Hunger zu verlassen und unverkrampft über ihre Nahrungsauswahl und -menge zu entscheiden. Im besten Fall machen sie sich »nur« Gedanken darüber, welche Lebensmittel sie essen dürfen. Im schlimmeren Fall werden sie essgestört. Epidemiologische Untersuchungen hierzu zeigen, dass überkompliziertes und krankhaftes Essverhalten zunehmend zu einem Problem in unserer Gesellschaft wird.

Interessant in diesem Zusammenhang ist der Trend des „Frei von“. Hochwertig erscheint, was „fleischfrei“ ist „cholesterinfrei“ vielleicht, „laktosefrei“ oder „glutenfrei“. Das Nährende am Essen zu schätzen, der positiven Zugang zu den ganz normalen Lebensmitteln, das wurde zunehmend verlernt. Die Einstellung der meisten Menschen geht weit weg von der Frage „Was nährt uns eigentlich?“.

 

Drittens: Ehrlicher Rat ist selten: Etwa achtzig Prozent der Ernährungsempfehlungen sind nicht evidenzbasiert, also nicht ausreichend wissenschaftlich fundiert (Stand 2011). Wenn ich weiterhin Ernährungsberatung durchführen will, so habe ich vor Jahren beschlossen, dann muss ich meinen eigenen Weg finden, das zu tun. Und ich sehe im Selbstbestimmten den Ansatz, meinen Klienten weiterzuhelfen.

Selbstbestimmtes Essen und anthroposophische Ernährung

Mit der „Ehrlich-Essen-Methode“ gehe ich individuell auf den Menschen und seine Essbedürfnisse ein. Zentraler Fokus liegt dabei auf Hunger und Appetit, darauf, diese Körperbotschaften bewusster und intuitiver wahrnehmen zu lernen. Hinzu kommt die Kompetenz, Signalstörer im System der Sättigung zu entschärfen. Bisher bekannte Störfaktoren sind Stress, künstliche Aromen und Zusatzstoffe, Werbebotschaften und allgegenwärtige Darstellungen von Essen und Ernährungsprodukten, aber auch gewisse Ernährungsempfehlungen. Wir können sie nicht ausschalten, wir können sie nicht kontrollieren. Aber wir können lernen, besser damit umzugehen und uns bewusst mit den richtigen Signalen zu umgeben.

 

Die „Ehrlich-Essen-Methode“ stellt die Kommunikation mit Appetit und Hunger vereinfacht so dar: Der Körper hat einen Bedarf an einem Nährstoff und aus Ess-Erfahrungen gelernt, dass er diesen Nährstoff von einem bestimmten Lebensmittel bekommen kann. Dieser Zusammenhang ist sozusagen abgespeichert. Wenn der Körper beispielsweise nach Omega-3-Fetten verlangt, bittet er via Appetit nach Walnüssen (falls er Walnüsse jemals gegessen hat). Möchte er bestimmte Eiweiße, kommt vielleicht der Appetit auf Kartoffeln mit Quark. Rufen die Zellen nach antioxidativen Schutzstoffen, etwa den sogenannten Phenolen, dann taucht vielleicht eine herrliche Lust auf würzigen Boskopapfel auf. Problematisch wird es erst bei Unter- und Fehlprogrammierungen. Wenn der Körper nur Käsebrot, Sushi oder Tiefkühlpizza kennt, dann kann er eben bei jedem Nährstoffbedarf nur danach verlangen. Sind durch Ess-Trends und Werbung bestimmte Lebensmittel überbetont, hört der Körper nicht auf sich selbst, sondern reagiert mit dem Appetit auf diese starken künstlichen Eindrücke.

 

Die Forschung zum Zusammenhang zwischen Geschmack und Sättigung steckt noch in den Kinderschuhen, etwa im neuen Fachgebiet der sinnesspezifischen Sättigung. Deutlich erfahrbar wird die Wirkung von Lebensmitteln aber schon in einfachsten Wahrnehmungs- und Vorstellungssübungen. Gerade im hungrigen Zustand können die meisten Klienten mir ganz genau beschreiben, wie sie sich fühlen würden, wenn sie jetzt eine Tomatensuppe mit Sahne äßen, ein Steak mit Gemüse, eine Portion Nudeln, einen Fast-Food-Burger oder einfach ein Snickers. Essen wir andererseits gemeinsam, entstresst und fokussiert ausgewählte Lebensmittel, stellt sich bereits deutlich unterhalb der erwartbar sättigenden Menge eine Zufriedenheit ein. Hier lassen sich schon beim leicht trainierten Klienten schnell Unterschiede zwischen konventionell, bio und biodynamisch feststellen.

 

Dass wir dem inneren Ernährungsberater ganz gut vertrauen könnten, zeigte bereits die amerikanische Medizinerin Clara Davis im Jahr 1939 in ihrer umstrittenen Studie „Results of the self-selection of diets by young children“. Kinder im Alter von sechs bis elf Monaten wählten sich ihre Ernährung selbstständig, aus einem Angebot ganz normalen und echten Essens – von Apfel bis Spinat, Haferflocken bis Roggenknäckebrot, von Fisch, Hirn, Knochenmark bis Kalbsbries waren alle Lebensmittelgruppen in sehr unverarbeiteter Form vertreten. Solches Studiendesign ist nach den Regeln der Ethikkommissionen inzwischen verboten, die Studienteilnehmer könnten ja theoretisch ungesunde Entscheidungen treffen. Haben sie aber nicht. Das Ergebnis: Die Kinder versorgten sich über den Studienzeitraum von sechs Jahren mit allen Nährstoffen, die sie brauchten, gediehen gut und gesund, glichen sogar vor Studienbeginn festgestellte Mangelerscheinungen aus.

 

In meinem Studium der Ernährungswissenschaften und im Austausch mit Kollegen in der Arbeitswelt der Ernährungsberatung konnte ich Respekt für das innere Wissen der Esser leider selten sehen. Obwohl es seit einigen Jahren Forschung zum intuitiven Essen und den gesundheitsförderlichen Wirkungen gerade im Bereich des Übergewichtes gibt, spricht man unter den von den Krankenkassen zertifizierten Ernährungsfachkräften hiervon kaum. Immerhin: Wie stark Zusatzstoffe und industrielle Verarbeitung von Lebensmitteln das körpereigene System von Appetit, Hunger und Sättigung manipulieren, konnte ich in meiner Arbeit für den Journalisten und Nahrungskritiker Dr. Hans-Ulrich Grimm sehen und handfest belegen lernen.

 

Erst meine Begegnung mit Demeter brachte mich darauf, in der Anthrosophie nach guten Ess-Ansätzen zu suchen. Volltreffer: „Bis auf das letzte Glas Wasser“ könne sich ein Kind optimal versorgen, wenn man ihm nur gute, undegenerierte Lebensmittel zur Verfügung stelle – so sagte es Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über die Naturgrundlagen der Ernährung. Ähnlich wie die uralten asiatischen Gesundheitslehren der Traditionellen chinesischen Medizin und dem Ayurveda (Vata, Pitta, Kapha), gibt Steiners Ansatz den individuellen Bedürfnissen Raum und regt an, die persönliche Entwicklung mit den jeweils richtigen Lebensmitteln zu nähren. Anders als in diesen uralten asiatischen Systemen geht es ihm anscheinend nicht darum, die Menschen einander durch Ausgleichen der Konstitutionen einfach anzugleichen. Ein jeder darf sich auf seine Art nähren und entwickeln.

 

Dabei ist interessant, dass die Selbstbestimmung in der noch relativ jungen Disziplin der Gesundheitswissenschaften auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Public Health) als ein eigenständiger Faktor für eine gute Gesundheit gilt. Ganz neben der perfekt individuell abgestimmten Nährstoffversorgung liegt in dieser Herangehensweise also ein weiterer Schatz für die moderne Ernährung.

 

Im selbstbestimmten Ansatz sehe ich auch die Zukunft der Ernährungsberatung. Gerade in einer Zeit, wo das Selbstbewusstsein beim Essen durch den Druck, fremde Bewertungen nach dem Motto „Was? Um diese Zeit isst Du noch Kohlehydrate?“ zu erfüllen, sinkt. Orthorexia heißt die neue Essstörung, in der Menschen krampfhaft versuchen, in Punkto Essen alles richtig zu machen. Schlüsselsatz in der Diagnose: „Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?“ Was diese Menschen dringend wieder brauchen, ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Wirkung ihres Essens.

Was hat das mit Biodynamik zu tun?

Was „Ehrlich essen“ mit biodynamischen Lebensmitteln zu tun hat, ist auf den ersten Blick naheliegend. Als Mitglieder des Bio-Verbands mit den konsequentesten Kriterien bieten Demeter-Erzeuger und -Hersteller die wohl vertrauenswürdigste zertifizierte Qualität auf dem Markt. Ohne hochwertige, ehrliche Lebensmittel kann kein Mensch intuitiv essen.

 

Und dabei geht das Ganze vielleicht sogar weit über die Nährstoffe hinaus. Selbst die westliche medizinisch geprägte Ernährungswissenschaft erkennt langsam an: Die Fülle an Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Nährstoffen und die unterschiedlichen Wirkungen in unterschiedlichen Gerichten macht es uns eigentlich unmöglich, exakte Nährwertvorgaben für ein gesundheitsförderliches Essen zu machen. Ein berühmtes Beispiel etwa sind die Zellschutzstoffe (sogenannte Lycopine) der Tomate; gut hundertfach wird deren Effekt im Körper verstärkt, sobald man sie gleichzeitig mit Avocado verzehrt. Eisen wird aus Bohnen zu etwa 50 Prozent besser aufgenommen, wenn es eine kleine Portion Seefisch dazu gibt.

 

Wenn wir aber darüber hinaus denken, wie beurteilen wir dann die Wirkung von Lebensmitteln auf den Menschen? Zu den wenigen, die sich diesem Thema strukturiert widmen und an Forschungsansätzen arbeiten, ist sicher der Forschungsring für Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise zu zählen. Dr. Uwe Geier beschäftigt sich seit Jahren mit der Erfassung lebensmittelinduzierter Emotionen (First steps in the development of a psychological test on the effects of food on mental well-being. 2012): Wie fühlt sich etwa jemand nach dem Genuss von Sojamilch im Vergleich zum Milchtrinken? Er sucht nach der Erfahrbarkeit der besonderen biodynamischen Qualität – und bringt damit völlig neue Aspekte des “Welches Essen tut mir persönlich gut?” zutage. Durch die Teilnahme an seinen Übungen zur Wahrnehmung von Lebensmitteln wurde ich für mein persönliches Essen inspiriert, aber auch für die Arbeit mit meinen Klienten. Ich bin dankbar für die Demeter-Lebensmittel, freue mich über die anstehenden Entwicklungen in der Ernährungsberatung und auf einen regen Austausch mit der anthroposophischen Ernährung auf allen Ebenen.

Autorennotiz

Maike Ehrlichmann ist Ernährungswissenschaftlerin, zertifizierte Ernährungsberaterin und informiert über diese Arbeit unter http://www.ehrlichessenmethode.de

Seit 2004 unterstützt sie Dr. Hans-Ulrich Grimm in Recherche und Redaktion für dessen Bücher sowie für den Online-Informationsdienst Dr. Watson – Der Food Detektiv. Von 2012 bis 2014 arbeitete sie als Online Redakteurin für den Demeter e.V.

 

Ihr Buch: Maike Ehrlichmann, Sissa Wallin: Ehrlich essen macht schön, Heyne München 2012