Ernährung

Nahrhafte Resteküche

Wohin mit Schnippelabfall und krummem Gemüse?

von Susanne Aigner

 

Lebensmittel sollen eigentlich der Ernährung dienen. Doch vor dem Essen steht der Markt, dessen Anfor­derungen und Normen sie genügen müssen. Taugen sie dafür nicht, werden sie auf den einzelnen Schritten der Wertschöpfungskette weggeworfen. Konsumenten zahlen­ den Anteil für das weggeworfene Essen bei jedem gekauften Produkt gleich mit.

 

Obst und Gemüse, das in den Handel kommt, muss bestimmten Anforderungen in Form und Farbe genügen und den Erwartungen der Kunden entsprechen. Was die launische Natur ansonsten hervorbringt – seltsam geformte Kartoffeln, verknorpeltes Wurzelgemüse, Karotten mit mehreren „Beinen“, Äpfel mit Schorf oder Flecken – wird aussortiert. Oft schon auf dem Acker. Im besten Fall wird es zu Konserven verarbeitet oder an Tiere­ verfüttert. Meist endet es im Kompost oder im Müll. Die idealtypische Kartoffel soll laut EU-Norm 6,5 cm groß sein. Was der Vorgabe nicht entspricht, kommt weg.

 

30 bis 40 Prozent der Gemüse-Ernten schaffen es nicht bis in den Handel, Bio-Gemüse inbegriffen. Dabei ist krummes Gemüse genauso essbar wie „Normales“. Verbraucher haben Einfluss darauf, was in den Handel kommt. Wer im Bioladen oder Supermarkt zu losen Möhren greift, anstatt zu denen mit Plastikverpackung, kann sich Größe, Gewicht und Form selber aussuchen. Tun dies alle, wird sich der Handel irgendwann anpassen müssen.

Essensretter sein

„Häufig sind die Fehler am Gemüse nicht gleich zu erkennen“, erklärt Georg Lindermair. „Bei den Kartoffeln handelt es sich zum Beispiel oft um Unter- oder Übergrößen oder leichte Druckstellen, Verfärbungen und geringfügige Krümmungen – mit dem bloßen Auge kaum erkennbar. Doch für den Handel reicht es als Ausschlusskriterium.“ Der Jungunternehmer erkannte eine Marktlücke und gründete mit zwei Freunden im Frühjahr 2014 das Kleinunternehmen „Etepetete“ (etepetete-bio.de). Krumm gewachsenes Gemüse wird direkt vom Acker von drei Bio- und zwei Demeter-Betrieben im Münchner Umland in Boxen verpackt und bundesweit versendet. Dabei sind die Größe der Gemüseboxen und Häufigkeit der Lieferung beliebig wählbar.

 

Auch Nicole Klaski und Philipp Turowski wollen dazu beitragen, dass Menschen weniger Essbares verschwenden. Ende 2014 verkauften sie ihre Lebensmittel noch auf Wochenmärkten in Köln. Im darauf folgenden Sommer gründeten sie den Laden „The Good Food“ (http://www.the-good-food.de).1 Regelmäßig fahren sie zu Bio-Bauern im Kölner Umland, wo sie Gemüse mitnehmen, das der Markt ablehnt, weil es zu klein, zu groß oder krumm ist. Ist zu viel Salat da, dürfen sie ihn direkt vom Feld ernten. Von vielen Läden erhalten sie ausgemusterte Backwaren vom Vortag, Bier in Flaschen oder Brotaufstriche im Glas, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Außer Fleisch und Fisch haben sie alles im Sortiment. Ihre Kunden zahlen nach Selbsteinschätzung. Außerdem kooperieren sie mit anderen Kleinunternehmen, wie dem „Guten Heinrich“, einem veganemn Catering-Unternehmen, das nur mit krummem Gemüse kocht.2

Pflanzenvollverwertung

Bücher:

Küchenfonds, Blattlausmittel, Färben oder Kandieren, mit den Schnippelresten aus der Küche lässt sich allerhand anfangen – zwei Kochbücher haben das aufgegriffen:

  • Esther Kern, Pascal Haag, Sylvan Müller: Leaf to root, AT-Verlag CH-Aarau 2016 49,90 €
  • Bernadette Wörndl: Von der Schale bis zum Kern, Verlag Brandstätter, Wein-München 2013, 29,90 €

Websites:

Initiativen:

Foodsharing und Schnippeldisko: Essen dort verteilen, wo es gebraucht wird

Inzwischen gibt es immer mehr Bewegungen, die Essen vor dem Müll retten wollen. „Foodsharing“ wurde 2013 von Filmemacher Valentin Thurn und Lebensmittelretter Raphael Fellmer ins Leben gerufen. Heute zählt die Initiative 3.100 Kooperationspartner und 24.000 Freiwillige in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

 

Wer Lebensmittel übrig hat, kann diese in einen digitalen Essenskorb auf dem Internetportal foodsharing.de legen. Die Standorte mit Adresse sind auf einer digitalisierten Deutschlandkarte eingetragen. Wer Essen braucht, kann es hier abrufen und abholen. Die Fair-Teiler verteilen übrig gebliebene Lebensmittel, die Foodsaver holen Lebensmittel von kooperierenden Betrieben ab und behalten, was sie selber brauchen. Den Rest bieten sie im Internet an oder geben es an Tafeln, Suppenküchen und andere gemeinnützige Vereine weiter. So spart ein Betrieb nicht nur Entsorgungskosten, sondern geht auch noch verantwortungsvoll mit Lebensmitteln um.3

 

Auch in der Schnippeldisko kocht man nur mit übrig gebliebenem Gemüse. Und das geht so: Die Aktivisten des Slow Food Youth Netzwerkes4, dem zahlreiche lokale Gruppen angehören, fahren auf Bauernhöfe, sammeln das krumme Gemüse direkt vom Acker ein und verarbeiten es bei Disko-Musik. Für das Erntegut werden die Bauern sogar bezahlt. Die Schnippeldisko ist inzwischen in vielen Teilen der Welt verbreitet (http://www.slow-food-youth.de).

Kochen mit Gemüseschnitt und Brotresten

Möhrenkraut, Kartoffelschalen, Brokkolistängel – oft bleiben beim Kochen etliche Gemüsereste übrig, die man früher den Schweinen gab. Heute landen sie auf dem Kompost, und werden dem Kreislauf der Natur zurückgeführt. Bernadette Wörndl, die als Kind auf einem Bauernhof ihrer Großmutter beim Kochen zusah, erlebte, wie das Gemüse beim Kochen tatsächlich rest-los verwertet wurde. Die Rezepte verewigte sie in dem Buch „Von der Schale bis zum Kern“.5

 

So lässt sich aus den Blättern von Radieschen nicht nur ein Salat, sondern ähnlich wie bei Fenchel, auch Pesto zubereiten. Aus den Blättern von Roten Rüben und Karotten werden würzige Gemüsechips. Der Stamm von Brokkoli wird zu Gemüse und Salat verarbeitet. Maisblätter – gefüllt mit Reis, Linsen, Rosinen, Pinienkernen und Gewürzen – ergeben eine leckere Mahlzeit. Und Aprikosenkerne verleihen dem Geschmack von Eiscreme den letzten Schliff. Trockenes Brot, in Würfel geschnitten und in der Pfanne mit Öl gebraten, ergibt zusammen mit Gemüse und Zwiebeln eine vollwertige Mahlzeit. Wer schon mal Artischocken gegessen hat, weiß, dass eine Menge Blätter anfallen. Mit Lauch, Kartoffeln, Butter, Olivenöl, Zitronenschalen und Gewürzen ergeben die Blätter eine köstliche Suppe.

 

Im Spätsommer, wenn alles Gemüse im Garten heranreift, kommt oft die große Tomatenschwemme. Mit Karotten, Sellerie, Knoblauch, Zwiebeln und vielen Gewürzen kann man überreife Tomaten zu Ketchup einkochen. Die grün gebliebenen Früchte lassen sich zu Chutney verarbeiten. Schalen und Kerne werden im Backofen zu hauchdünnen Chips verbacken.

 

Was beim Kochen zumeist in größeren Mengen anfällt, sind Kartoffelschalen. Auf einem Blech mit Backpapier ausgelegt, mit Salz, Pfeffer, Gewürzen und mit Ahornsirup und Öl besprenkelt, werden sie eine halbe Stunde bei 200 °C zu knusprigen Kartoffelchips verbacken. Auch das Kochwasser lässt sich mit Kartoffelpüree zu Kartoffelbrot verarbeiten.

 

Wie man die ganze Pflanze am besten nutzt, demonstriert auch der Däne Sören Wiuff. Auf seinen Feldern kultiviert der Bauer u.a. Lauch, Spargel und Hanf. Verwendet werden die Blütenstiele des geschossenen Lauchs, das Spargelgrün wie auch die Blätter des Hanfs. Aus den Spargelwurzeln gewinnt eine dänische Brauerei ein mildes Bier, dessen Spargelaroma man deutlich herausschmeckt. Wilder Fenchel, der auf dem Acker gedeiht, wird von der Wurzel bis zur Blüte genutzt, und Liebstöckel wird in einem Kopenhagener Restaurant fermentiert bzw. gegart. Seine Philosophie erklärt Sören Wiuff ausführlich in dem vegetarischen Kochbuch „Leaf to root“ von Esther Kern, das 2016 im Schweizer AT-Verlag erschien.6

Lebensmittelabfälle sind schlecht fürs Klima

Immer öfter sind Bäckereien in den Supermärkten angehalten, gefüllte Brotregale bis zum Ladenschluss anzubieten. Das Brot, das bis zum Abend nicht verkauft wurde, wird von einigen Filialen an die Tafeln gespendet. Manche Bäckereien verbrennen es auch im eigenen Backofen. Weil der Heizwert ähnlich gut sei wie bei Holz, heißt es, habe verheiztes Brot eine gute Umweltbilanz. Nur – wie würde die Umweltbilanz wohl aussehen, wenn die Kosten für seine Herstellung von der Aussaat des Getreides bis hin zum Verbacken mit eingerechnet würden?7

 

Kaum besser ist die Umweltbilanz von Importfrüchten, die wochenlang in Schiffscontainern über die Ozeane bis in unsere Supermärkte gekarrt werden, um schließlich in Europa oder in den USA auf dem Müll zu verrotten. Nicht nur verzichten Menschen in den Herkunftsländern auf den Nahrungsmittelanbau, indem sie Pflanzen für den Export anbauen. Der Anbau von Pflanzen für Exportlebensmittel oder die Tiermast bedeutet auch Mehrverbrauch von Öl und Emission von Treibhausgasen.

Verschwendung minimieren

  • Weltweit wird von 4 Milliarden Tonnen produzierten Lebensmitteln etwa ein Viertel verschwendet. Zwei Drittel davon wären vermeidbar.

  • Entlang der globalen Wertschöpfungskette gehen rund 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel verloren. Dies sind 30 bis 40 Prozent – umgerechnet 180 bis 190 kg pro Kopf und Jahr.

  • In Deutschland landen jedes Jahr rund 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll – fast ein Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs (54,5 Millionen Tonnen). Mehr als die Hälfte davon wäre vermeidbar gewesen. Nahezu zehn Millionen Tonnen genusstaugliche Nahrungsmitteln, darunter knapp zwei Millionen Tonnen Brot und Backwaren, jeweils 1,5 Millionen Tonnen an Obst und Gemüse und eine Millionen Tonnen Kartoffel- und Milcherzeugnisse.

  • Deutsche Verbraucher produzieren fünf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle, etwa dieselbe Menge geht beim Einzel- und Großhandel verloren. Bei der Herstellung (inkl. Düngung, Transport, Lagerung, Kühlung, Weiterverarbeitung, Entsorgung) von 10 Millionen Tonnen Lebensmitteln werden etwa 22 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente emittiert. Außerdem setzen Mülldeponien und Komposthaufen Methan frei (mit einem Anteil von 15 Prozent der globalen Methan-Emissionen).

  • Aus all dem errechnet sich ein Einsparungspotenzial von 2,6 Millionen Hektar Ackerland und 48 Millionen Tonnen Treibhausgasen.9

Essen aus dem Container

„Containern“ kann man alleine oder in Gruppen, mehrmals in der Woche, am besten abends nach Ladenschluss. Häufig haben relativ junge, vegan lebende Menschen mit geringem Einkommen diese unkonventionelle Form der Nahrungsbeschaffung für sich entdeckt: Von dem, was im Supermarkt aussortiert wird, fliegen vor allem leicht verderbliche Produkte wie Brotaufstriche, Gemüse etc. in die Tonne. In Plastik verpackt, hat es keinen Kontakt zum verdorbenen Essen. Erfahrene „Mülltaucher“ wissen das und suchen sich nur das Beste heraus. Einige haben sich sogar auf Bio-Produkte spezialisiert. Die Supermarkt-Betreiber reagieren unterschiedlich. Manche schließen einfach die Container ab, andere holen die Polizei, wieder andere leisten „Aufklärungsarbeit“. Manchmal müssen sich die Essensretter vor Gericht verantworten, da Containern vor dem Gesetz als Diebstahl gilt.

Wie reagiert die Politik?

In Frankreich wird per Gesetz dem Wegwerfen von Lebensmitteln ein Riegel vorgeschoben. So sind Supermärkte mit einer Verkaufsfläche ab 400 Quadratmetern dazu verpflichtet, die Preise für unverkaufte Waren zu reduzieren. Unverkaufte, genießbare Lebensmittel müssen an Bedürftige gespendet werden. 2013 betraf dies zunächst nur Milchprodukte, ein Jahr später Eier, 2016 kamen Obst, Gemüse und Kartoffeln hinzu. Bis 2025 sollen die Lebensmittelverluste – im Vergleich zu 2013 – um die Hälfte gesenkt werden. Eine breite Informationskampagne unter anderem in Schulen soll über die Verschwendung von Essen auch über die Ländergrenzen hinaus sensibilisieren. Belgien zieht mit ähnlichen Maßnahmen nach.

Hierzulande forderte der Bundestag bereits 2012, das Wegwerfen von Lebensmitteln bis zum Jahr 2020 auf die Hälfte zu reduzieren. Die von der Regierung gestartete Kampagne „Zu gut für die Tonne“ erschöpft sich vor allem in Appellen an die Verbraucher, planvoll einzukaufen und Reste zu vermeiden. Initiativen wie das Aktionsbündnis Aktion Agrar, BUND-Jugend, Foodsharing und Slow Food Youth hingegen fordern ein konkretes Gesetz, das einen Wegwerfstopp für Lebensmittel vorschreibt.8

 

Dass die Entsorgung von Lebensmitteln in den Müll ein Skandal ist, wissen auch die Menschen, die von Berufs wegen das Wegwerf-System am Laufen halten. Trotzdem sind Schuldige nicht leicht zu benennen, denn die Ursachen sind systemimmanent. Ihnen auf den Grund zu gehen, würde bedeuten, das dominierende Wirtschaftssystem und die damit verbundene Wegwerfgesellschaft infrage zu stellen. Das aber würde einen tief greifenden Bewusstseinswandel voraussetzen, der falschen Maßstäbe sowie den Glauben ans ewige Wachstum in den Köpfen ersetzt.

Was also tun?

Sich achtsam ernähren, anstatt Essen nur zu konsumieren! Das beginnt mit dem aufmerksamen Einkauf, zum Beispiel in Bio- und Hofläden. Auch als Teil der Solidarischen Landwirtschaft kann man den täglichen Bedarf an Gemüse decken und fördert gleichzeitig die lokale Wertschöpfung. Reste verwerten – wie beschrieben! Und schließlich: dem eigenen Geschmackssinn vertrauen – auch das ist Wertschätzung gegenüber dem Essen.

Autorennotiz

Susanne Aigner ist freie Journalistin, http://www.