Ernährung & Lebensmittel

Mikrobiom, Holobionten* und das unsichtbare Netz des Lebens

(* Einheit aus einem Wirtsorganismus und seinem Mikrobiom)

Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Mikrobiom und Mensch

von Prof. Dr. Dr. Martin Grassberger

Die Entdeckung des sogenannten Mikrobioms zählt zu den größten biomedizinischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Der Umstand, dass alle mehrzelligen Lebewesen, Pflanzen wie Tiere – und daher auch der Mensch, in einer mehr oder minder komplexen, symbiotischen Beziehung mit einer Vielzahl von Mikroorganismen existieren, hat unzählige Implikationen und lässt das Leben auf der Erde in einem gänzlich neuen Licht erscheinen. Auch die Medizin wird über kurz oder lang durch diese Erkenntnis einen fundamentalen Wandel erfahren. Während in der Vergangenheit die Bakterien in unserem Darm etwas verniedlichend als „Darmflora“ bezeichnet wurden,
hat uns die Wissenschaft während der letzten Jahre deutlich vor Augen geführt, dass die Beziehungen
unseres Körpers mit den Mikroben erheblich komplexer und intimer sind.

Vielfältige Aufgaben des Mikrobioms

Diese kleinen Organismen, die in und auf uns leben und die Zahl unserer eigenen Körperzellen übersteigen, helfen uns auf vielfache Weise. Sie unterstützen uns bei der Verdauung, sie versorgen uns mit Vitaminen, schützen uns vor vielen Krankheiten, helfen uns bei der Prägung unseres Immunsystems und beeinflussen sogar unser Verhalten und unsere Psyche. Die weit verbreitete Meinung, dass Bakterien schlecht für uns seien und bei jeder erdenklichen Gelegenheit abgetötet werden sollten, sei es mit Antibiotika oder Desinfektionsmittel, ist nicht nur vollkommen falsch, sondern, wie wir mittlerweile wissen, sogar ziemlich gefährlich. Die enge Beziehung zu „unseren“ Mikroorganismen, allen voran den Bakterien, macht uns Menschen zu sogenannten Holobionten oder Gesamtlebewesen. Lebensformen wie Pflanzen oder Tiere können nicht mehr isoliert betrachtet werden – sie sind alle Holobionten. Lässt man die assoziierten Mikroben (die sogenannten Mikrobiota) bei der Betrachtung weg, dann ergibt sich ein völlig unzureichendes Bild.

Unsere erste mikrobielle Ausstattung erhalten wir im Zuge unserer Geburt während des Durchtritts durch den bakterienreichen Geburtskanal, wobei dieses „Starterpaket“ bei Kaiserschnittentbindungen eine signifikant andere Zusammensetzung aufweist.

Bereits kurz nach der Geburt wird das Mikrobiom eines Kindes zunehmend komplexer. Diese zunehmende Biodiversität wird unter anderem durch die Ernährung, den Kontakt zu Familienmitgliedern, anderen Menschen, Haus- und/oder Nutztieren, den Wohn- und Lebensort sowie zahlreiche andere Faktoren des Lebensumfeldes bestimmt. Die Exposition gegenüber einer bakteriellen Vielfalt scheint dabei nicht nur während der ersten Lebensjahre, sondern über die gesamte Lebensspanne eines Menschen der entscheidende Faktor zu sein. Denn, vereinfacht gesagt, ist ein hochdiverses und einzigartiges Darmmikrobiom mit einem besseren körperlichen wie psychischen Gesundheitszustand sowie mit Langlebigkeit verbunden.

Die möglichen Expositionsrouten gegenüber harmlosen „alten Freunden“ bestehen vor allem durch einen intensiven körperlichen Naturkontakt (Boden, Vegetation, Luft, Wasser…) oder über die täglich aufgenommene Nahrung, die wiederum zu gut 95 % aus dem Erdboden stammt. Tatsächlich ist unsere täglich aufgenommene Nahrung das Bindeglied schlechthin zwischen der Natur, dieser entstammt unsere Nahrung seit ewigen Zeiten, und unserem Körper. Die mögliche Kontaktfläche ist durch unsere enorme Darmoberfläche von mindestens 40 Quadratmetern beträchtlich.

Je natürlicher, desto besser

Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Mikrobioms lieferten Untersuchungen an (wenigen verbliebenen) weitgehend ursprünglich als Jäger und Sammler lebenden Populationen in Afrika und in den Regenwäldern Südamerikas. Die untersuchten Stuhlproben dieser traditionell lebenden Menschen wiesen eine erheblich höhere Biodiversiät auf, als das Mikrobiom von Menschen mit modernem, westlichem Lebensstil und enthielten Bakterienfamilien, die im Darm von Menschen aus Industrienationen selten oder nicht vorhanden sind. Die Ursache dürfte ein bis zu 10-fach höherer Anteil von unverdaulichen Ballaststoffen in der täglichen Nahrung moderner Jäger und Sammler sein. Bei Menschen aus der modernen, städtischen Bevölkerung wird das Darmmikrobiom nur in geringem Ausmaß mit der Verdauung komplexer Kohlenhydrate konfrontiert. Man könnte vereinfacht sagen: Nahrungseinfalt produziert Mikrobiomeinfalt. Die westliche Ernährung mit einem großen Anteil raffinierter Fertigprodukte hungert das Mikrobiom gewissermaßen aus.

Das größte Reservoir für gesundheitsförderliche Mikroorganismen ist ein lebendiger Boden und die Lebensmittel, die in ihm wachsen. Bestandteile von Lebensmitteln, die unser Mikrobiom ernähren, gesund erhalten und für eine hohe Darm-Biodiversität sorgen, werden in ihrer Gesamtheit als Prebiotika bezeichnet. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie einen hohen, für uns unverdaulichen Faseranteil in Form komplexer Kohlenhydrate besitzen, die von der Darmflora als Nahrung genutzt werden können. Die meisten prebiotikahaltigen Nahrungsmittel besitzen aber noch unzählige andere Inhaltsstoffe, die uns und unserem Mikrobiom zugutekommen. Das Spektrum reicht von einem hohen Proteinanteil, über Vitamine und Spurenelemente bis hin zu einer Vielzahl sekundärer Pflanzenstoffe (z.B. Polyphenole). Es sind vor allem diese letztgenannten chemischen Verbindungen, die mit unzähligen weiteren Gesundheitsvorteilen verbunden sind. Selbst unsere epigenetische Programmierung hängt zu einem beträchtlichen Teil von unserer Nahrung ab.

Zu den Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil prebiotischer Ballaststoffe und bioaktiven Substanzen zählen unter anderem die Hülsenfrüchte (wie z.B. Bohnen und Linsen), Lauchgewächse (wie Zwiebel, Lauch und Knoblauch), Kreuzblütler (z.B. Kohl, Broccoli, Karfiol, Kohlsprossen, Kohlrabi, Pak Choi, Chinakohl, Rettich, Steckrüben), Nüsse (z.B. Walnüsse), Pilze, essbare Wurzelknollen (wie z.B. Topinambur und Yacón), Schwarzwurzeln, Artischocken, Blattsalate, Chicorée, Mangold, und viele andere Gemüse- und Obstsorten. Je bunter, desto besser.

Ein abwechslungsreicher pflanzenbasierter Speiseplan mit frischen, wenig verarbeiteten und unbelasteten Lebensmitteln ist daher nicht nur eine reichhaltige Quelle probiotischer Keime, sondern zugleich auch die beste Ernährung für unser Darmmikrobiom. So enthält ein frisch gepflückter Apfel nicht nur große Mengen des Präbiotikums Pektin, sondern auch gut 100 Millionen Bakterien!

Die Basis: ein gesunder Boden

Allerdings: Eine immer länger werdende Liste von chemischen Verbindungen des täglichen Lebens wie verschiedene Medikamente, Pestizide und Lebensmittelzusatzstoffe können unseren lebenswichtigen „inneren Garten“ langfristig nachteilig beeinflussen und zu entsprechenden Krankheitserscheinungen führen.

Fruchtbare Erde ist die Voraussetzung für gesunde Pflanzen, die auf unseren Tellern landen. Doch auch unser Boden ist bedroht, sein Mikrobiom verarmt – vor allem durch die moderne industrielle Landwirtschaft und den Einsatz von Düngersalzen und Pestiziden. Nur eine besonders schonende, regenerative und die Biodiversität fördernde Landwirtschaft kann ein gesundes Ökosystem, gesunde Lebensmittel und damit die menschliche Gesundheit langfristig sicherstellen. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zur mikrobiellen Zusammensetzung biodynamischer Präparate und deren Wirkung auf das Boden- und Pflanzenmikrobiom sind durchaus vielversprechend.

Die wissenschaftlichen Anstrengungen und Ergebnisse der letzten Jahre rückten die Mikroorganismen, sowohl der Erde als auch in und auf uns, als das zentrale Bindeglied zwischen einer durch menschliche Aktivitäten zunehmend beeinträchtigen Umwelt und unserer Gesundheit in den Fokus der Aufmerksamkeit, siehe Abbildung. Die öffentliche Wahrnehmung und die daraus zwingend abzuleitenden Maßnahmen hinken dieser Erkenntnis derzeit leider noch massiv hinterher.

Es existieren direkte Auswirkungen der Mikrobiota auf die menschliche Entwicklung, die allgemeine Physiologie und Gesundheit, sowie indirekte Auswirkungen durch Faktoren wie unterschiedliche Umwelteinflüsse, Lebensstil, Lebensmittelqualität und Klima. Während des Anthropozäns, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, wiesen menschlichen Aktivitäten einen zunehmenden Einfluss auf all diese Aspekte auf, was sehr wahrscheinlich zu der beobachteten veränderten Zusammensetzung des Mikrobioms geführt hat. Zahlreiche Studienergebnisse deuten darauf hin, dass diese Veränderungen (zumindest teilweise) zum beobachteten Anstieg chronischer Krankheiten in westlich geprägten Gesellschaften beitragen.

Zum Weiterlesen

Das Interesse von Martin Grassberger gilt v.a. der Humanökologie, den vielfältigen Interaktionen des Menschen mit seiner Umwelt, insbesondere der Ernährung und deren Bedeutung für Gesundheit und Krankheit. Sein Buch „Das leise Sterben“ wurde in Österreich Wissenschaftsbuch des Jahres 2020 in der Kategorie Naturwissenschaft/Technik. Zuletzt erschienen "Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit bestimmen". Im Frühjahr 2024 erscheint sein neues Buch "Regenerativ – Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter".

www.residenzverlag.com/buch/das-unsichtbare-netz-des-lebens

www.residenzverlag.com/buch/regenerativ?_translation=de

www.residenzverlag.com/buch/das-leise-sterben

Autor

Prof. Dr. Dr. Martin Grassberger
Arzt und Biologe, mit Diplomen in Umweltmedizin und Ernährungsmedizin sowie Ausbildung zum landwirtschaftlichen Facharbeiter
Department für Evolutionäre Anthropologie Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien

 

Grafik oben: Überblick über die wichtigsten relevanten Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Mikrobiota und menschlichem Holobiont
Quelle: modifiziert und ergänzt nach Flandroy et al. 2018: Flandroy L, Poutahidis T, Berg G, et al.
The impact of human activities and lifestyles on the interlinked microbiota and health of humans and of ecosystems. Sci Total Environ. 2018 Jun 15;627:1018-103