Feld & Stall

Verständnis und Geschichte der Tierzucht

von Anet Spengler Neff, FiBL

 

Kurz & knapp

  • In der Geschichte der Rinderzucht lässt sich eine sukzessive Verengung des Züchterblicks feststellen.

  • War zunächst die Beachtung des Rindes in seiner Umgebung Ausgangspunkt, so ist es heute die Fokussierung auf einzelne Gene und wenige Vererber.

  • Für den Ökologischen Landbau ist heute ein komplementäres Zuchtverständnis erforderlich, das Arteigenes, Erbanlagen und Umwelt und damit letztlich Biodiversität berücksichtigt.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Menschen der Neuzeit angefangen haben, bewusst Tiere zu züchten. Im Mittelalter war Tierzucht in Europa kaum Thema. Die Orden und Klöster waren vielerorts Lehranstalten und Vorbilder der Landbewirtschaftung und Viehhaltung (Schwendimann, 1945). Ihre katholische Weltanschauung floss in die Landwirtschaft ein. Die meisten von ihnen predigten einen Kreationismus, der eine vollkommene und unveränderliche, von Gott geschaffene Schöpfung voraussetzte. Diese Geisteshaltung mag dazu beigetragen haben, dass an eine züchterische Veränderung von Haustieren kaum gedacht wurde. Die arabische, also von der Kirche unbeeinflusste Pferdezucht war hingegen damals schon auf einem sehr hohen Niveau.

Einfluss der Wissenschaft

Im 18. Jahrhundert wurde die Landwirtschaft stärker in wissenschaftliche Auseinandersetzungen einbezogen. An Universitäten wurden Vorlesungen zur Tierzucht gehalten, jedoch ging es jeweils nur um die Vermehrung der Tiere und wenig um ihre Beurteilung und Auswahl. Die englische Tierzucht wurde weit rascher und intensiver entwickelt als jene auf dem Kontinent. Sie baute auf praktischen Erfahrungen hervorragender Züchter (wie z. B. Robert Bakewell), auf konsequenter Beschreibung der Tiere und ihrer Ahnenreihen und entsprechender Auswahl und auf Inzucht mit den besten Tieren auf. Sie orientierte sich an der alten Araberzucht. Im 19. Jahrhundert wurden die englischen Methoden auch auf dem Kontinent eingeführt (Nathusius, 1864).

 

Der dänische Tierzuchtprofessor Ferdinand v. Prosch propagierte Mitte des 19. Jahrhunderts eine an die Umgebungsverhältnisse gebundene, bodenständige Tierzucht: Er vertrat die Ansicht, dass alle Tiere sich an die Umwelt, in der sie leben, anpassen und die entsprechenden neu entwickelten Eigenschaften vererben können. Seine Ideen waren damals nicht nur in Skandinavien sehr populär (Berge, 1959; Prosch, 1888). Diese Bewegung förderte die Entstehung vieler lokaler Landrassen. Sie wurden anhand ihrer Farben und einzelner Eigenschaften exakt definiert, was zum Teil auch zu einem übertriebenen Formalismus führte: es zählten manchmal nur noch die Rassenmerkmale und die individuellen Eigenschaften der Tiere wurden teilweise vernachlässigt.

Genetik zählt

In der einschlägigen (Lehrbuch-) Literatur der letzten 120 Jahre zur praktischen Rinderzucht lässt sich eine sukzessive Veränderung der Blickrichtung und der Schwerpunktsetzung feststellen, die von der Beachtung des Rindes in seiner Umgebung als Einheit für die Züchtung bis zur Fokussierung auf einzelne Gene als Einheiten und Grundlagen der Züchtung führt. Diese Entwicklung verläuft in einer vom Reduktionismus geprägten Richtung.

 

Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts wird die unterschiedliche Entwicklung der Tiere in verschiedenen Umwelten in den Lehrbüchern genau beschrieben und deren Zusammengehörigkeit betont. Am Anfang des 20. Jahrhunderts werden zahlreiche einzelne Rassen mit ihren Ausprägungen beschrieben. In dieser Zeit wird Mendels Vererbungslehre neu aufgegriffen, die Chromosomen werden entdeckt und die Vorstellung von perlenkettenartig aneinandergereihten, fixen Erbfaktoren (Genen) wird entwickelt. Die Gesamtheit dieser Erbfaktoren wird als Genom bezeichnet und die sich daraus ergebenden Vererbungsmöglichkeiten als Genotyp. Die am lebenden Individuum erscheinenden Eigenschaften werden als Phänotyp bezeichnet. Aufgrund der neuen Erkenntnisse über Chromosomen und Gene werden Methoden entwickelt, um die „Zuchtwerte” der Tiere zu schätzen. Diese geben die Möglichkeit eines Tieres an, bestimmte Eigenschaften mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit an seine Nachkommen vererben zu können. Sie beschreiben annäherungsweise den Genotyp des Tieres für bestimmte Merkmale.

Auf dem virtuellen Weg zur Züchtung

In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wird aufgrund dieser Zuchtwertschätzungen die genombasierte Selektion eingeführt: selektiert wird anhand genotypischer Daten: der Blick ist nun ganz auf das individuelle Tier und auf einzelne seiner Merkmale gerichtet. In den ab 1950 erscheinenden Lehrbüchern werden die Produktionsleistungen der Tiere stark betont, aber die Beziehung der Tiere zu ihrer Umwelt und der Zusammenhang zwischen den Produktionsleistungen und der Umwelt wird nur am Rande oder gar nicht mehr erwähnt. Vor allem metrisch messbare Merkmale sind für die neu entwickelte Zuchtwertschätzungsmethodik interessant, weil sie leicht zu erfassen sind und eine bessere Erblichkeit aufweisen als qualitative Merkmale. Dazu gehören vor allem Produktionsleistungs- und Exterieurmerkmale. Dadurch wird die Konstitutionsforschung und -förderung im 20. Jahrhundert immer mehr vernachlässigt. Die Produktionsleistungsmerkmale der Milchrinder wurden in den letzten 50 Jahren durch die Massenselektion, die erst durch künstliche Besamung in großem Stil möglich wurde, intensiv gefördert. Diese Entwicklung führte zu großen Leistungssteigerungen, auch bei den anderen Nutztierarten, aber die Lebensdauer der Tiere nahm gleichzeitig kontinuierlich ab (Knaus, 2009).

 

Die Ende des 20. und anfangs des 21. Jahrhunderts entwickelte und teilweise bereits angewendete markergestützte Selektion (MAS) oder die „genomische Selektion” (GS) machen es möglich, dass einzelne, für die Züchtung wichtige Merkmale nicht mehr an jedem lebenden Tier beobachtet werden müssen, sondern anhand von DNA-Analysen an Gewebeproben von einzelnen Tieren beurteilt werden können. Mit diesen Methoden werden erstmals die Voraussetzungen geschaffen, dass nur noch aufgrund der Informationen über den Genotyp selektiert werden kann und die Beobachtung und Beurteilung des Phänotyps nicht mehr immer bzw. nur noch in Nucleusherden nötig sein wird. Hier erfährt der reduzierende Trend in der Entwicklung der Züchtungsmethoden seine höchste Steigerung. Diesem Trend im 20. Jahrhundert standen immer einzelne, stärker holistisch geprägte Ansätze und Bestrebungen gegenüber (z. B. Bakels, 1960; Haiger et al., 1988), aber sie blieben Randerscheinungen in der globalen Tierzuchtwissenschaft und -praxis.

Epigenetik erfordert ein komplementäres Verständnis der Tierzucht

Als Züchtung bezeichnet man heute die Kombination von Erbanlagen oder „genetischen Ressourcen” durch Anpaarung und Selektion mit dem Ziel, Tiere wie auch Pflanzen zu erhalten, die erwünschte Eigenschaften zeigen und auch vererben und die unerwünschten Eigenschaften weder phänotypisch zeigen noch in ihrem Genotyp tragen. Dabei geht man davon aus, dass alle erblichen Eigenschaften genetisch festgelegt sind und dass Variationen im Erbgut nur durch zufällige Mutationen, durch Rekombination bei der Anpaarung oder durch induzierte Mutationen und Gentechnik entstehen können. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass die Erbanlagen nie für sich allein existieren, sondern immer nur in einem Organismus, der immer in einer bestimmten Umwelt lebt und sich aktiv damit auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung geschieht nicht willkürlich, sondern so, wie es ein Organismus dieser bestimmten Art kann; gemäß den Gesetzen der Organismen allgemein und der Art.

 

Manchmal kann eine solche Auseinandersetzung einzelne Eigenschaften des Organismus verändern. Nach der gängigen Theorie sind so erworbene Eigenschaften aber nicht erblich. Nur genetische Veränderungen, die nicht gerichtet, sondern nur zufällig entstehen können, sind gemäß dieser Ansicht erblich. Diese Aussage wird auf die Arbeiten der beiden Nobelpreisträger S. Luria und M. Delbrück gegründet, die 1943 aufgrund ihrer Experimente mit Virusresistenz-Mutationen im Genom von Kolibakterien die Theorie aufstellten, dass Mutationen immer nur spontan und ungerichtet (also zufällig) auftreten und dass diejenigen Organismen, die dadurch Selektionsvorteile haben, überleben und sich schneller vermehren können (Luria et al., 1943). Damit wird dem Organismus in der modernen Vererbungslehre die Relevanz seiner Eigenaktivität für die Gestaltung seiner erblichen Eigenschaften vollständig abgesprochen.

 

Seit wenigen Jahren mehren sich aber die wissenschaftlichen Arbeiten, die zeigen, dass Organismen einzelne durch Erfahrung und Anpassung an die Umweltbedingungen modifizierte oder erworbene Eigenschaften doch an ihre Nachkommen weitervererben können. Diese Beobachtungen werden auf die Epigenetik1 zurückgeführt, die einen Erbgang beschreibt, der nicht auf die Gene selbst oder die DNA zurückzuführen ist, sondern auf eine vererbbare Veränderung der Genregulation und Genexpression. Da physiologische Prozesse während der individuellen Entwicklung der Organismen eng mit diesen Regulationsprozessen verknüpft sind, ist es möglich, dass neu erworbene physiologische oder verhaltensbezogene Eigenschaften dafür eine Rolle spielen. Die alte Vorstellung von gleich bleibenden, immer für die gleichen Proteine codierenden, nur zufällig veränderbaren Genen wird heute in der genetischen Grundlagenforschung weitgehend verworfen. Aber in der Züchtungstheorie und in der Evolutionstheorie wird immer noch davon ausgegangen.

Darwin hat die Vererbung erworbener Eigenschaften „durch die Änderung von Gewohnheiten” im Tierreich beschrieben als eine Möglichkeit der Bildung von Variation. Obwohl Darwins Evolutionstheorie noch heute anerkannt ist, wird dieser Aspekt im „Neodarwinismus”, dem modernen Darwinismus, verworfen mit der Begründung, Darwin habe noch nichts über die Vererbung gewusst; die moderne Genetik habe gezeigt, dass es nur zufällige Variationen im Genom gibt. Auch Rudolf Steiner geht in seinem „Landwirtschaftlichen Kurs” davon aus, dass die Erfahrungen und Erlebnisse der Tiere für das, was sie an ihre Nachkommen vererben, eine Rolle spielen (Steiner, 1924; S. 200; 207). Zu der Zeit, als der Landwirtschaftliche Kurs gehalten wurde, war diese Auffassung noch üblich (siehe oben: Prosch, 1888).

Voraussetzungen, damit „Bedingungszucht“ beim Rind gut gelingt:

  • Gute, möglichst konstante Umweltbedingungen auf dem Betrieb

  • Wenig Zukauf von Tieren und nur von Betrieben mit ähnlichen Umweltbedingungen

  • Einsatz von Natursprungstieren aus ähnlichen Umweltbedingungen

  • Möglichst wenig künstliche Besamung (nur von Stieren aus ähnlichen Umweltbedingungen)

  • Bestes, betriebseigenes Futter, viel Zuwendung und Anregung für Jungtiere.

  • Züchtung mit Kuhfamilien anstatt mit Vaterlinien.

  • Zuchtziele (bei Stierenmüttern sollten möglichst alle erreicht sein):
    - gute Gesundheit, Fruchtbarkeit und Lebensleistung
    - angemessene Produktionsleistungen, passend zur Futtergrundlage
    - viel Platz für Verdauungsorgane, Lunge und Herz
    - gute Fressaktivität (Fressfreude) und gute Futterverwertung
    - geringe Schwankungen der Körperkondition
    - starke Klauen und Gliedmaßen
    - guter, ruhiger Charakter

Biologisch-dynamische Tierzucht

In einem biologisch-dynamischen oder komplementären Tierzuchtverständnis ist also mit der Eigenaktivität der Tiere in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und mit deren Relevanz für die Vererbung zu rechnen. Dementsprechend ist großes Gewicht auf die gute Gestaltung dieser Umwelt und auf die Beobachtung der Aktivität der Tiere zu legen. Die biologisch-dynamische Tierzucht konzentriert sich deshalb zunächst auf das Schaffen optimaler Bedingungen für die Tiere (Werr, 1953). Man kann darum auch von „Bedingungszucht” sprechen (Spengler Neff, 1997). Die Bedingungen für die Tiere sind im physischen Bereich (Haltung), im physiologischen Bereich (Fütterung, Bewegung) und im seelischen Bereich (Betreuung, Zuwendung) zu optimieren. Bei gleich bleibenden, guten Bedingungen und einer langjährigen Züchtung mit guten, hofeigenen Tieren ist davon auszugehen, dass die Tiere mit der Zeit immer besser zu dem Betrieb passen, auf dem sie leben und dadurch standortangepasste Produktionsleistungen, gute Gesundheit und Langlebigkeit entwickeln können (siehe Kasten).

In einem komplementären Tierzuchtverständnis sind also die Erbanlagen (Gene) nicht mehr als relativ stabile, kombinierbare Ursachen der Eigenschaften von Lebewesen anzusehen, sondern als flexible innere Bedingungen der Entfaltung von Organismen, welche durch die Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt von ihm selbst sinnvoll beeinflusst werden können. Es sind drei Bereiche, die das Entstehen eines individuellen Lebewesens mit all seinen Eigenschaften ermöglichen und mit denen man es in der Züchtungsarbeit zu tun hat: nämlich die übergeordneten Gesetzmäßigkeiten der Art (und der Organismen), deren Verwirklichung als Einzelindividuum durch die Erbanlagen (von den Eltern) und die Umwelt eingeschränkt, modifiziert und ermöglicht wird.

In einem komplementären Tierzuchtverständnis ist mit den Tieren selbst, mit ihrer Eigenaktivität und mit ihren Erfahrungen zu rechnen. Sie sind entsprechend in ihrem Verhalten zu beobachten. Tiere, die besonders gut mit ihrer Umwelt zurechtkommen, vorausgesetzt, diese ist artgerecht, und die dies durch physiologische Eigenschaften oder durch ihr Verhalten zeigen (siehe Kasten: Zuchtziele), sind für die Zucht auszuwählen. Entsprechend ist es weltweit wichtig, unterschiedliche Linien für unterschiedliche Umwelten zu züchten und damit die Biodiversität bei allen Haustierarten zu fördern.

Quellen

  • Bakels F., (1960): Ein Beitrag zur tierzüchterischen Beeinflussung der Nutzungsdauer und Lebensleistung des Rindes, Universität München

  • Berge S., 1959: Historische Übersicht über Zuchttheorien und Zuchtmethoden bis zur Jahrhundertwende. In: Hammond J., Haring, F., Johansson, I. (ed) Handbuch der Tierzüchtung. Verlag Paul Parey, Hamburg und Berlin, pp 9 - 17

  • Haiger A., Storhas R., Bartussek H., (1988): Naturgemäße Viehwirtschaft. E. Ulmer Verlag, Stuttgart, 1. Aufl.

  • Knaus W., 2009: Dairy cows trapped between performance demands and adaptability. Journal of Science in Food and Agriculture 89:1107 - 1114

  • Luria S. E., Delbrück M., 1943: Mutations of bacteria from virus sensitivity to virus resistance. Genetics 28:491

  • Nathusius H., (1864): Vorstudien für Geschichte und Zucht der Hausthiere zunächst am Schweineschädel. Wiegandt und Hempel, wissenschaftliche Verlagsbuchhandlung, Berlin

  • Prosch F. V., (1888): Zucht und Pflege des Rindviehes. Heinsius, Bremen, 2. Aufl.

  • Schwendimann J., (1945): Der Bauernstand im Wandel der Jahrtausende. Benziger & Co., Einsiedern und Köln

  • Spengler Neff A., 1997: Studien zur biologisch-dynamischen Rindviehzucht. Schriftenreihe der J. Kreyenbühl Akademie, Dornach; siehe: www.biorindviehzucht.ch/grundlagen/biologisch-dynamisch.html

  • Steiner R., (1924): Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft. Rudolf Steiner Verlag, Dornach, 6. Aufl., 1979; GA 327

  • Werr J., (1953): Tierzucht und Tiermedizin im Rahmen biologisch-dynamischer Landwirtschaft. Schriftenreihe Lebendige Erde, Stuttgart