Portrait

Landwirtschaft ist ein Sozialimpuls

Die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Weide-Hardebek

Von Michael Olbrich-Majer

 

Gezielt saust die Axt nieder, Michael macht Kleinholz. Zuvor hat er sich den Hackklotz aus der Gärtnerei mit dem Schubkarren geholt, jetzt heizt er den Kessel an, in dem er Futterkartoffeln für die Schweine kochen will. Freudig weiht er mich in sein heutiges Tagesgeschäft ein, während sein Kollege Martin noch Kartoffeln aus Kisten ausliest. Hinten, beim großen Glashaus sind sieben Leute damit beschäftigt, den Boden für neue Folienhäuser vorzubereiten und legen schon mal Steine und Metallbögen aus. Morgendämmerung in Hardebek, einer Landwirtschaft in der schleswig-holsteinischen Hohen Geest. Bis auf den begleitenden Gärtner sind die Tätigen allesamt betreute Mitarbeiter, von jugendlich bis längst erwachsen. Hier, in der Hofgemeinschaft Weide- Hardebek haben sie einen Ort, an dem sie ganz selbstverständlich mitleben und mitarbeiten, ob Gabelstaplerfahren oder "nur" die Glocke zu den Essenszeiten und Versammlungen läuten.

Teilhabe statt Rehabilitation

Der Gedanke ist überzeugend: nicht die Trennung in Betreuung bzw. Beschäftigung einerseits, und Feierabendleben anderseits, sondern Teilhabe am ganz normalen Leben nach Neigung und Fähigkeit, das ist der Grundgedanke, auf dem das Konzept der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft fußt. Konkret bedeutet das: mitarbeiten, aber auch mitfeiern – weil das ein Bedürfnis ist. Hier wird nicht geheilt und "arbeitsfähig" gemacht und dann entlassen. Die Landwirtschaft bietet viele verschiedene Arbeitsfelder mit unterschiedlichem Anspruch, darüber hinaus gibt es noch die Wäscherei, die Hauswirtschaft und Küche, den Bau- und Renovierungstrupp, die Bäckerei, die Vermarktung und die Tischlerei. Auch wenn in Betreute und Mitarbeiter unterschieden wird, Weide-Hardebek versteht sich nicht als Institution wie ein Heim, sondern als Gemeinschaft.

 

Auch Lernen muss man da gemeinsam – sich auf den Anderen einstellen, Fähigkeiten erwerben, manchmal verwischen die Grenzen zwischen Betreuer und Betreuten. Da hier vor allem Erwachsene leben, gibt es wenig Fluktuation und so sind manche dem Neuling voraus: schnell ist ausgetestet, wer was kann und wer nicht. Schließlich machen einige der betreuten Mitarbeiter den Trecker-Führerschein oder werden auf eine Fortbildung zur DEULA geschickt. Doch es gibt auch Analphabeten und dann ist da noch das Alter. Erstmals nach dem Dritten Reich gibt es wieder mehr betagte Behinderte. Pflegebedürftigkeit und Sterben gehört in Weide-Hardebek zum Leben der Gemeinschaft, alt wird man hier im Johanneskamp, einer Hofstelle mit Wohnhaus gegenüber von Hardebek, oder auf Hof Weide. Für die medizinische Begleitung sorgt eine Krankenschwester.

Lebens- und Arbeitsgemeinschaft

Morgens, noch am Tisch nach dem Frühstück: kurze Besprechung: wer macht was, hat was vor? Weniger Arbeitseinteilung, eher gegenseitige Information. Wer hier lebt, weiß was zu tun ist. Auch für den Abend gibt es Verabredungen, daneben natürlich auch therapeutische Termine und Aktivitäten wie Schwimmen, gemeinsam Einkaufen, Spieleabend. Die übliche Struktur in Gruppen gibt es hier nicht, man wohnt nicht unbedingt mit denen zusammen, mit denen man arbeitet und auch nicht angegliedert an Betreuerfamilien. Selbstorganisation ist gefordert.

 

Die Lebenssituation ist auch anders als in einer klassischen Werkstatt für behinderte Menschen: Wohnen und Arbeiten sind nicht getrennt. Denn auch ein Drittel der "Betreuer" lebt mit auf den Höfen und sieht diese als ihr Zuhause, dadurch entsteht Nähe und Kontinuität. Das erfordert die Bereitschaft dazu: die gedankliche Aufteilung von Job und Privatbereich ist in einer solchen Hofgemeinschaft nicht lebbar. Für Gründer Hartwig Ehlers sieht das anders aus – er ist hier zuhause. Und hält es mit dem Motto seines Vater: Er habe "nie gearbeitet" und sei nur seinen "Interessen nachgegangen".

Sozialarbeit, Zukunft der Landwirtschaft?

Die Landbauforschungsgesellschaft hat mit Hartwig Ehlers vor 30 Jahren den einst sechs Hektar großen Hof Weide erworben. Schon von Haus aus bringt er sowohl den bäuerlichen als auch den pädagogischen Blick mit. Ehlers ist der jüngste von drei Brüdern, aufgewachsen auf dem 25 km entfernten Demeter-Betrieb Hasenmoor. Die Eltern Hans und Liselotte Ehlers waren die zweite Generation nach der Urbarmachung. Auf dem schon 1949 umgestellten biologisch-dynamischen Betrieb, gab es ständig Umbruchsituationen. Hartwig Ehlers erlebte die Anfänge der Sozialtherapie auf dem Land mit. In der Aufbruchszeit der 60er Jahre entstanden neue Ideen für die Landwirtschaft: Soziale Fragen standen an, denn mit dem Einzug der Traktoren leerten sich die Dörfer. Die Biodynamiker in Norddeutschland entdeckten die sozialen und gemeinnützigen Aspekte der Landwirtschaft. Gemeinsam mit den Vorläufern der heutigen GLS- Bank, unterstützt von Wilhelm Barkhoff und Nikolaus Remer entwickelten sie das Modell der Landbauforschungsgesellschaft als Träger für die Verknüpfung der Erzeugung mit gesellschaftlichem Nutzen, als Antwort auf die durch Spezialisierung auseinanderfallende Landwirtschaft. "Landwirtschaft ist ein geistiger Impuls" – so die Leitlinie, nicht Eigentum eines Bauern. Zeitgleich kamen Menschen auf die Höfe, die ja Kristallisationspunkte schaffen wollten für eine zukünftige Landwirtschaft. Und es ergaben sich neue Aufgaben, wie z. B. Therapieangebote. Der Hof im kargen Hasenmoor entwickelte sozialen Reichtum: die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft dort leitet Ehlers Bruder Hans.

Landwirtschaft als Arbeitsfeld – das Angebot

Eigentlich bietet die landwirtschaftliche Tätigkeit ideale Arbeitsfelder für die Sozialarbeit und -therapie. Einerseits reale Lebenssituationen, andererseits aber durch Organisation auch so gestaltbar, dass sehr unterschiedlich befähigte Menschen hier das, was sie tun, auch im Zusammenhang verstehen: der Hoforganismus ist ein sozialer Lebenskontext, der zur Beteiligung einlädt. Ein Landwirt kann sagen: "Komm, wir versorgen die Tiere. Komm wir gehen säen..." so formuliert es Ulrike Laubach, die für Verwaltung und Organisation verantwortlich ist. Der regelmäßige und gegliederte Tagesablauf, Arbeiten im Team, die Vielfalt an Kulturen und Arbeitsbereichen, Garten, Vieh, Verarbeitung – überall gibt es Angebote zum Mitmachen. In Weide-Hardebek gilt: hier stört keiner, die Grenzen werden wahrgenommen und danach gehandelt. Der Sozialaspekt wird so eingerichtet, dass er im inneren Zusammenhang mit der Landwirtschaft steht. Auch die Landschaftspflege und Waldwirtschaft (10ha) gehören dazu, ideale Winterarbeit. Oder die Bäckerei, die, noch im Nachtbetrieb, 1200 Brote in der Woche nebst Kleingebäck produziert. Der arbeitende behinderte Mensch wird zum Mitgestalter. Der Ansatz ist nicht am Heilen, am Defizit orientiert, sondern will Struktur und Mitleben anbieten.

 

Landwirtschaft ermöglicht da ein breites Angebot und regionale Versorgung mit Sozialtherapie. Diese Kombination ist durch schlanke Verwaltung preiswerte Sozialarbeit, die Tagessätze sind sparsam. Auf der anderen Seite bedeutet das Social farming auch transparente Landwirtschaft. Die hohe Qualität dieser Sozialarbeit ergibt sich natürlich nicht automatisch. Um das Konzept abzurunden, arbeitet Weide-Hardebek seit langem schon mit acht Demeter Höfen zusammen, die dezentral ebenfalls therapeutisch-soziale Plätze zum Mitleben anbieten. Dadurch ist eine Spezialisierung möglich und auch kleinere Lebensgemeinschaften: knapp 50 Menschen leben hier, drei bis elf je Hof. Ein regelmäßiger Austausch und die Betreuung durch Christine Wolf verbindet die soziale Arbeit. Das Management und den Schriftverkehr für die Leistungsträger erledigt Weide-Hardebek mit.

Die Landwirtschaft

Weide-Hardebek, das sind zwei Betriebe, die zwölf Kilometer auseinander liegen, aber als Einheit bewirtschaftet werden. Während in Hardebek eher die Verarbeitung und Vorbereitung für die Vermarktung im Vordergrund steht, ist es in Weide die Viehhaltung: zwei kleine Rinderrassen, schwarze Dexter und rotbraune Hinterwälder werden hier erfolgreich auf dem armen Boden gehalten. Ute Andresen züchtet die Dexter und Hinterwälder für den Verkauf und mästet die verbleibenden Tiere, vor allem Ochsen, auf der Weide. Besonders die Dexter sind äußerst umgänglich und ruhig, neben ihrer geringen Größe – halb so schwer wie z.B. Schwarzbunte – ein weiterer Vorteil in der Sozialarbeit. Gemolken wird "nur" für den Bedarf der ungefähr 100 Menschen der Gemeinschaft. Auch Angler- Sattelschweine werden selbst erzeugt und gemästet, dienen als Resteverwerter.

 

Auf den sandigen Äckern, maximale Bodenpunkte 25, wachsen Getreide, Klee, Kartoffeln. Erträglicher ist da die Gärtnerei: zwar wird die Vielfalt gerade konzentriert, aber eigene Jungpflanzenaufzucht, Feingemüse und Sonderkulturen wie Spargel, Chicoree, Heidelbeeren, Kräuter bieten verschiedene Ansätze zur Vermarktung. Weitere Wirtschafter in der Landwirtschaft sind Dietrich Drath und Victor Metzger. Die Gesamtverantwortung für die Gemeinschaft haben die Landwirtin und Erzieherin Ute Andresen, die Bankkauffrau Heike Harms, der Innenarchitekt und Leiter der Tischlerei Hans Weber, der Landwirt und Lehrer Hartwig Ehlers sowie die Verwaltungsleitern Ulrike Laubach, Agraringenieurin.

 

Der Naturraum, entlang des Flüsschens Osterau, das das Gelände des Hofes in Weide durchzieht, eignet sich gut für extensive Weidewirtschaft mit begleitenden Naturschutzmaßnahmen. 40 Hektar im potenziellen Wasserschutzgebiet, umgeben nur von Wald und den biodynamischen Flächen: das Konzept sah eine halboffene Weidelandschaft vor, die Stiftung Kulturland finanzierte die Planung. Laichgewässer anlegen, Fledermauskästen, Storchennester und Nisthilfen für Eisvögel anbringen und ein Jahr Zäune bauen für die z. T. nur einen halben Hektar großen Flächen – gute Tätigkeitsfelder für die Hofgemeinschaft. Doch öffentlicher Naturschutz und der Wunsch, diesen aus dem Hoforganismus heraus zu entwickeln, passten nicht zusammen: Nun liegt der Schwerpunkt auf der Pflege eigener Flächen, Landschaftspflege soll in Symbiose mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft stehen.

Balance zwischen Markt und Sozialarbeit

Nicht nur, was die Erweiterungen in Weide angeht ist die Hofgemeinschaft im Umbruch. Das im Sommer dort eröffnete Café mit 40 Plätzen drinnen und 30 draußen hat sich schnell zum Renner entwickelt: Für die neue Saison muss das neu organisiert werden. Die Vermarktung insgesamt wird zur Zeit überdacht. Die Marktstände wurden eingestellt, bzw. an andere weiter gegeben. Eigentlich sind das klassische Vermarktungswege für einen Familienbetrieb, so beschreibt es Tony Ehlers. Der gelernte Rechtsanwaltsgehilfe und Marketing- und Vertriebskaufmann ist vor vier Jahren in die Gemeinschaft eingestiegen und jetzt in der Schlüsselrolle, die Vermarktung der Hofgemeinschaft auf zeitgemäße und zu ihr passende Füße zu stellen. Nicht nur der rasch sich wandelende Biomarkt ist da ein Thema, auf das er mit neuen Ideen reagiert. Auch die rechtlichen Anforderungen, Landwirtschaft, Sozialtherapie, Gewerbe und Gemeinnützigkeit auseinander zu halten und die Bereiche dennoch so zu organisieren, dass sie sich gegenseitig fördern, das verlangt eine heikle Balance. Schließlich gehören zum Konzept alle Bereiche gleichberechtigt, was sich auch in den Zahlen ausdrücken soll. Aber wie rechnet man die Wirtschaftlichkeit – was heißt eine AK, wenn betreute Mitarbeiter in der Verarbeitung tätig sind – wie legt man interne Verrechnungspreise fest? Und was bedeutet Entlohnung in einer Gemeinschaft in der man sich gegenseitig trägt?

 

So ist geplant, stärker als bisher auf Verarbeitung zu setzen, einerseits. Da trifft es sich gut, dass mit Gunter Schurbohm ein gelernter Metzgermeister vor einem halben Jahr zur Gemeinschaft stieß. Andrerseits geht Ehlers aktiv auf den Groß- und auch den Einzelhandel zu. Mit dem Naturkostgroßhändler Grell und einem Sternekoch werden Produkte entwickelt, vor allem um das Vieh besser zu nutzen. Die Ausgangsbasis ist gut: Der Schinken ist DLG-prämiert, das Brot von der Zeitschrift Feinschmecker empfohlen. Und mit einer Agentur arbeitet er an der Werbung für die Marke Weide-Hardebek. Auch der Geflügelbereich könnte noch ausgebaut werden, ebenso die Verarbeitung von Obst.

 

Die Landwirtschaft soll nicht "Dienstleister" für die Sozialarbeit sein, genauso wenig, wie die Sozialarbeit die Landwirtschaft mitfinanziert, wie oft unterstellt wird. Aber die Balance zwischen den Bereichen wird mit der Vermarktungsintensität und steigenden Anforderungen, z. B. im Gemeinnützigkeitsrecht, zunehmend komplizierter. Die Landwirtschaft ist ja Voraussetzung für die Sozialtherapie und beides eng miteinander verwoben. Unternehmerisch gedacht, kommt es darauf an, die Entwicklungsfähigkeit zu erhalten, aber auch darauf, die Urproduktion vor dem Markt zu schützen. Wie positioniert man sich künftig?

Ein neuer Beruf

Andere Modelle entwickeln und leben ist eines. Sie bei Behörden und Politik auch durchsetzen, dafür werben, das fordert langen Atem. So gibt es diese Form der Sozialarbeit in Deutschland bisher nur in Schleswig-Holstein. Die Situation des Mitlebens und Mitarbeitens stellt besondere Anforderungen an die Menschen, die hier begleitend, betreuend, organisierend tätig sind. Eine Ausbildung, die Arbeit und therapeutisches Wirken integriert, gab es nicht. Eigentlich braucht es ein neues Berufsbild, meint Hartwig Ehlers. So rief er vor neun Jahren zusammen mit der Sozialakademie Wuppertal eine sozialtherapeutische Zusatzqualifikation ins Leben: Fachkraft für Milieubildung und Teilhabe, berufsbegleitend. Neben Fachwissen ist für die Verbindung von Lebenspraxis und Pädagogik vor allem Initiativkraft im Alltag und Bereitschaft zur Verantwortung gefragt. 75 Teilnehmer haben die dreijährigen Kurs bereits absolviert, der nächste beginnt in diesem Jahr. Daneben betätigt sich Ehlers als Mentor für eine Reihe von Initiativen im In- und Ausland und engagiert in Verbänden und im Austausch zur anthroposophischen Sozialtherapie: immer mit dem Blick, den Sozialimpuls der Landwirtschaft weiter zu entwickeln.

Betriebsspiegel Hofgemeinschaft Weide-Hardebek

  • 170 ha auf Sand mit bis 25 Bodenpunkten; 70 Acker mit Getreide, Kleegras (3j) und Feldgemüse;

  • 10 ha Gärtnerei mit 4 Glashäusern plus Folientunnel mit Jungpflanzenaufzucht, Gemüse, Kräutern und Beerenobst;

  • 100 ha Grünland mit 100 Dexter-Tieren und 60 Hinterwäldern beweidet, Zuchttierverkauf, Ochsenmast, 70 Mastschweine (Angler-Sattelschwein) aus eigenen Ferkeln sowie 200 Enten, 80 Gänse, Hühner;

  • Bäckerei, Fleischverarbeitung im Aufbau, Hofladen, Café, Vermarktung über Großhandel, Lebensmitteleinzelhandel, Märkte;

  • Bauabteilung, Tischlerei, Hauswirtschaft/Gemeinschaftsküchen; Blockheizkraftwerk mit Holzschnitzeln, Ausbildung in verschiedenen Arbeitsbereichen;

  • Vier Standorte als Lebensort für 68 betreute und 42 nicht betreute Mitarbeiter, neben den 2 Höfen noch Tischlerei (Weider Werkstätten) und Wohnhaus Johanneskamp.

  • Zusammenarbeit in der Sozialtherapie mit acht weiteren Demeter-Höfen (Die Höfegemeinschaft); Lebensorte für 50 Menschen mit Hilfebedarf

Gemeinnützige Landbauforschungsgesellschaft Weide-Hardebek,

Hauptstr. 32, 24616 Hardebek, 04324-88 27 90, http://www.weide-hardebek.de