Portrait

Die Bingenheimer Saatgut AG bringt biodynamische Züchtung zum Konsumenten

Von Michael Olbrich-Majer

 

Das Saatgutnetzwerk

Linda - von dieser konventionellen Kartoffelsorte haben schon viele Menschen gehört. Aber kennen Sie auch Pantos - die Paprika? Milan - die Möhre? Robuschka, die Rote Bete? Diese biodynamischen, von Gärtnern des Vereins Kultursaat eigens für den Ökolandbau gezüchteten Sorten tragen hierzulande das Saatgutthema bis auf den Teller. Schon probiert?

 

Bio-Gemüse boomt - noch mehr als der Biomarkt insgesamt. Doch sind wohl die meisten Bio-Möhren oder Bio-Salate aus konventionellem Saatgut gewachsen. Generelle Ausnahmegenehmigungen der EU-Öko-Verordnung machen es möglich. Fast alle Sorten, die im Bioanbau verwendet werden, wurden zudem unter konventionellen Bedingungen gezüchtet. Das soll und muss sich ändern, so die klare Ansage der biodynamischen Gemüsezüchter, die sich schon seit mehr als 20 Jahren um eigene Sorten kümmern. Denn erstens passen konventionelle Sorten und Samen nicht zum System des Ökolandbaus, jedenfalls vom biodynamischen Standpunkt aus. Zweitens geht Qualität so besser - der Verein Kultursaat beweist es mit Gemüsezüchtungen, die unter anderem nach Geschmack ausgelesen werden. Und drittens muss der Ökolandbau dieses Einfallstor für die Gentechnik schließen. In die Gemüsezüchtung zieht diese in Form bestimmter Hybridsorten (CMS) bereits ein. Viertens wäre noch zu erwähnen, dass konventionelles Saatgut weniger kostet: Wer 100 % Bio macht, muss mehr ausgeben.

Warum Sortenmarketing

Gute Sorten sprechen eigentlich für sich und der Anbau fragt sie nach. Doch "Wir sehen uns nicht als Saatgutunternehmen, sondern als Initiative. Sortenvermarktung ist ein Instrument, um auf die Kulturaufgabe des Erhalts und der Entwicklung von Sorten aufmerksam zu machen.", sagt David Egelmeers, der sich für die Bingenheimer Saatgut AG, bei der die biodynamischen Gemüsezüchter Aktien halten, um das Vermitteln in den Naturkostmarkt hinein kümmert. Denn "Am Produkt kann man was rüberbringen." Möhre ist nicht gleich Möhre - das ist auch ein pädagogisches Ziel. Dazu werden die Gemüsezüchter auf den verschiedensten Ebenen aktiv, nicht nur im Handel: auch Forschung, Fachwelt und Interessensvertretung gehören dazu, ebenso wie das Einwerben von Fördermitteln für die Züchtung. Die Bingenheimer AG ist dabei Mittel, nicht Zweck für die Gemeinschaft der biodynamischen Gemüsesaatguterzeuger, die zusammen 20 % der Aktien der AG halten.

 

Auf den Weg gebracht hat das Sortenmarketing 2004 ein vom Forschungsring unterstütztes Projekt, das beschrieb, wie das eher abstrakte Züchtungsthema bis zum Konsumenten verständlich gemacht werden kann. Die Vermarktung von Sorten mit je eigenen Merkmalen, die besonders herausgestellt werden, erwies sich dabei als praktikabel: der Unterschied in Geschmack und Form transportiert Vielfalt bzw. die Möglichkeiten einer Züchtung ohne Gentechnik und, dass der Ökolandbau eigene Kriterien dafür hat.

Angebot auf vielen Stufen

Die Bingenheimer setzen vor allem beim den Konsumenten an. Die sollen verstehen: Es gibt nicht nur Möhren, sondern die haben auch Namen und Nutzen und dahinter steht biodynamische Züchtung. Doch um mit der Botschaft anzukommen, sind viele Stufen einzubeziehen. Denn die AG verkauft nur die Samen, nicht das Produkt. Eine Art Food-Chain-Management ist nötig, Organisation entlang der Wertschöpfungskette von Züchtung über Saatgutvermehrung über Anbau bis zum Groß- und Einzelhandel - nur eben nicht aus einer Hand. Das macht es aufwändig. Die Bingenheimer müssen viele Partner für sich gewinnen, die Ökobranche ist zersplittert und es gibt viele Anlaufstellen.

 

Die AG hat dafür ein dreistufiges Angebot entwickelt, berichten Petra Boie und David Egelmeers: Veranstaltungen informieren Ladner und den Großhandel, z. B. auf der Biofach oder bei Großhändlern, zusätzliches Infomaterial beantwortet die häufigsten Fragen. Für die Kisten bzw. die Produkte wurden Tüten, Kärtchen, Aufkleber in eigenem Design entwickelt, das modern und ansprechend auf die Sortengemüse aufmerksam macht. Und schließlich gibt es Poster und Infoblätter für die Verbraucher. Die Einzelhändler können all dies über den Großhandel bestellen und mit der AG eine Vereinbarung zur Sortenvermarktung abschließen, die einen einheitlichen Modus festlegt.

 

Wichtig ist neben der Erkennbarkeit vor allem, den Zusatznutzen klar zu machen: Geschmackvoll, samenfest, biologisch-dynamisch gezüchtet, besondere innere Qualität. Und wer selbst säen will, kann auch Samentütchen für den Hausgarten erwerben. Die Entscheidung der Kunden fällt im Laden: Was sieht gut und lecker aus? Denn Gemüse ist nun wirklich kein Thema, das Menschen vom Hocker reißt.

Im Laden: Sorten mit Namen

Für die Ladner heißt das, Gemüsealternativen mit Namen anzubieten - Extrabestellung, Extrafläche, Extrapreis. Doch der Service drumherum stimmt und sie haben mit den Sorten ein Produkt, das ihr Profil schärft, das Bio-Kompetenz vermittelt: Hier gibt es die besondere Möhre, Bio von Grund auf, ein Plus hinsichtlich Käufervertrauen und passend zu den Motiven des Naturkostfachhandels. Besonders die vier Möhrensorten zeigen, was biodynamische Züchtung kann und will: das Beste für die jeweiligen Ernährung, ob frisch, als Saft, zum Kochen oder für Kinder verwendet. Die Möglichkeit zur Verkostung - sei es von Frischmöhren oder sortenreinen Demeter-Säften weckt Interesse. Hier werden Partner-Händler vom Demeter-Verband unterstützt. Nicht alle Gemüse eignen sich als Stars im Marketing, aber die Bingenheimer bemühen sich, mit ihren Sorten das Thema das ganze Jahr warm zu halten: vom ersten Satz Kopfsalat (Briweri) bis zu Rote Bete und Kürbis im späten Herbst dehnen Spinat, die vier (von sieben) Möhren, Paprika, Weißkohl und Eissalat die Angebotspalette aus. Dennoch gibt es einen Knackpunkt: Was, wenn die Kundin fragt - ja sind denn die anderen Gemüse nicht ökologisch vermehrt oder gezüchtet?

Partner Großhandel und Hersteller

Dreh- und Angelpunkt für das Sortenmarketing sind der Naturkostgroßhandel und der filialisierte Handel. Einzelne Großhändler wie Bodan, Phönix, Rinklin listen die Sorten und das Marketingmaterial, hier könnte noch mehr laufen. Bei Tegut gibt es seit zwei Jahren regelmäßig Aktionen mit Sorten, z. B. mit Möhren in einer informativen Verpackung. Natürlich nicht ohne Vorarbeit. David Egelmeers führt dazu Gespräche mit der Handelsfirma, mit dem Einkauf, der Marketingabteilung, dem Verpacker - das ist der Bioland-Betrieb Schwab - und den Anbauern, z. B. dem Demeter-Gärtner Löhr. Von November bis Februar ist die Botschaft in immerhin 360 Filialen, beworben mit Aktionsschild und in der Kundenzeitschrift. Schwieriger ist es beim Frischegroßhandel, in dem zunehmend konventionelle Firmen mitmischen - da müsste der Anstoß per Nachfrage und vor allem von den Erzeugern kommen. Die sind die zweite Zielgruppe der Bingenheimer.

 

Auch Demeter-Hersteller steigen in das Thema Sorten ein. Beutelsbacher und Voelkel bieten sortenreine oder samenfeste Säfte von Möhren, Rote Bete oder Sauerkraut an. In Geschmackstests und hinsichtlich Bildekräfte schnitten die gut ab. Der Kunde kann erstmals, wie beim Wein, wählen, welche Art Saft er will. Sunval erwägt, die Demeter-Kindergläschen auf die Rodelika-Möhre umzustellen - das gibt der Babykost trotz intensiver Verarbeitung mehr Geschmack. Problem ist die Kontinuität bei der Liefermenge: das Sortenbewusstsein ist noch längst nicht bei allen Landwirten und Gärtnern geweckt, eine schlechte Ernte hieße, den Sortenhinweis wieder vom Etikett zu nehmen. Bauck oder Erdmannhauser im Getreidebereich z. B. zeigen, was geht. Doch es braucht genug Anbauer dazu.

Praktische Hilfe: Anbauberatung

Um die kümmern sich die Bingenheimer intensiv, denn auf dem Feld und im Gewächshaus müssen die Sorten funktionieren. Die im Gemüsebau weit verbreiteten Hybriden sind im Anbau meist etwas einfacher, "leisten" meist mehr und sind uniformer. Samenfeste Sorten dagegen brauchen mehr Know-how, besonders hinsichtlich der Kulturführung. Denn industrielles Denken und entsprechende Praktiken machen sich auch im Öko-Gemüsebau bemerkbar. Doch gilt generell im Pflanzenbau: weniger Ertrag bietet das Potenzial für mehr Qualität. Gärtner sind also gefragt, einmal etwas Neues zu probieren, am Anfang auf kleiner Fläche. Dafür bietet die AG Anbauberatung an, durch den erfahrenen Gärtner und Berater Klaus Kopp. Die gesammelten Erfahrungen und Rückmeldungen werden in einer Sortendatenbank gespeichert, um für jeden Fall einen Tipp parat zu haben, aber auch um die Sorten wo nötig, zu verbessern. Die Gärtner brauchen allerdings einen Aufpreis beim Verkauf.

Qualität im Focus - vom Saatgut an

Höchste Anstrengungen verwenden die Mitarbeiter der Saatgut AG auf die Qualität des Saatgutes. Die Partien werden schon im Anbau in Augenschein genommen. Eine ausgefeilte Qualitätssicherung nach internationalem Standard, geleitet von Ragna Hink, garantiert hochwertige, dokumentierte Saatgutqualität. Jede Partie der knapp 100 Vermehrungsbetriebe wird untersucht, Keimfähigkeit und Triebkraft auch unter erschwerten Bedingungen (Kühle, grober Boden) festgestellt. Drei bis vier Mitarbeiter sind im Diagnostiklabor in der Saison damit beschäftigt. Gegen viele Krankheitserreger, die am Samen haften, hilft das temperaturgesteuerte Warmwasserbad: für jede Sorte und Herkunft neu ausgetüftelt.

 

Damit Reinigung, Kühllager und Versand Platz haben und neuestem Standard entsprechen, haben die Bingenheimer investiert: Im September wurde die neue Saatguthalle eingeweiht, mit Kühlhaus, Abwärmenutzung und Photovoltaik auf dem Dach. Für die Mitarbeiter wie Dirk Gärtner ein Gewinn am Arbeitsplatz: statt Staub liegt nun feines Pflanzenaroma in der Luft. Das Saatgut wird kalibriert, denn je größer der Samen, desto besser ist meist die Keimfähigkeit und je einheitlicher die Samengröße, desto leichter die maschinelle Aussaat. Saatgut gibt es auch pilliert und im Saatband, um die Aussaat zu erleichtern. Auch die Versandabteilung wurde vergrößert, so können die Arbeitsabläufe optimiert werden. Seit Januar 09 sind die Bingenheimer mit ihrem Verkauf im Internet.

Züchter mit Leitbild

Saatgutunternehmen müssen die Nachfrage vier bis fünf Jahre im Voraus abschätzen. Mal eben zusätzliche 30 Kilo Kamillesamen liefern geht nicht, wenn sie vorher keiner vermehrt hat. In der heutigen Welt des Lebensmittelhandels, wo nach Tagespreis gekauft wird, kaum verständlich. Doch beim Saatgut muss man lange vorausplanen: Es muss zunächst Elitesaatgut erzeugt werden, das dann wiederum für die Produktion von Verkaufssaatgut dient. Die Vermehrungsbetriebe, vor allem Demeter, aber auch Bioland, liegen in Deutschland und den umliegenden Ländern, einer sogar in Ägypten. Die europäischen Öko-Saatgutinitiativen in Österreich, der Schweiz, Frankreich und England arbeiten eng zusammen.

 

Denn neue biologisch-dynamische Sorten zu züchten, das gelingt besser mit Erfahrungsaustausch. Geht es bei der Erhaltung alter Sorten um genetische Vielfalt, Biodiversität und liebgewonnene Raritäten, so zielt die biodynamische Neuzüchtung auf Sorten, die an Öko-Verhältnisse angepasst sind und Geschmack wie Ernährungswert verbessern bis hin zur harmonischen Bildekräfteausstattung. Das Leitbild der biologisch-dynamischen Züchter schließt lebensfremde Manipulation aus, Züchtung findet im landwirtschaftlichen Organismus statt: standortbezogen, menschengemäß, Vielfalt fördernd, nachbaufähig. Neue Sorten entstehen aus den Anregungen im Austausch von Züchtern, Gärtnern, Händlern und Verbrauchern. Forschung und Öffentlichkeitsarbeit werden im Verein Kultursaat koordiniert.

David gegen Goliath

Natürlich reicht das Saatgut der Bingenheimer längst nicht für alle Ökobauern. Doch um den Ökolandbau voran zu bringen, braucht es kritisches Bewusstsein und praktische Angebote. So hat erst der Ausschluss von CMS-Hybriden durch den Demeter-Verband klar gemacht, dass sich hier die Gentechnik einschleichen will. Dem Verbot der CMS-Sorten sind inzwischen auch Naturland und der Verbund Ökohöfe gefolgt - so wird durch Nachfrage die Suche nach Alternativen angeregt. Aber wer Öko-Gemüse für Discounter anbaut, wird solange zu CMS-Hybriden greifen, wie nicht alle Verbände und die EU-Ökoverordnung diese verbieten.

 

Mit geringem Budget arbeiten sich die Bingenheimer voran, ihr Thema muss auch von anderen mitgetragen werden. Zum Beispiel von Elke Röder vom Bundesverband der Naturkosthändler, die Botschafterin für Kultursaat e.V. ist. Und es geht auch anders herum: Die Händler der Naturata e.G. unterstützen mit ihrer Aktion "fair breeding" die Züchtung von Blumenkohl, auch wenn der Nutzen für die Läden weit in der Zukunft liegt und nicht monetär kalkulierbar ist. Das Sortenmarketing ist kein Selbstläufer, aber es läuft überdurchschnittlich gut. David Egelmeers und Petra Boie sagen, sie erleben hier die Kraft der biologisch-dynamischen Bewegung und der Bioszene. Nach mehr als zehn Jahren auf dem Saatgutmarkt sind die Biodynamischen inzwischen der größte unabhängige Anbieter von Bio-Saatgut. Alle größeren deutschen Unternehmen wurden inzwischen von ausländischen Konzernen geschluckt. Da arbeiten an nur einer Sorte so viele Menschen, wie im Verein Kultursaat an allen Arten züchten. So sind die Bingenheimer und der Initiativkreis zu Recht stolz auf das Erreichte, auch wenn noch viel zu tun bleibt.

 

Perspektive: Profil für die Branche

Die Instrumente für das Sortenmarketing sind da, doch wie kann das Thema breit kommuniziert werden? Was wollen die Kunden wirklich? Wie können mehr Gärtner und Bauern mitziehen? Wie wird Gemüse zum Thema für Feinschmecker? Zusammenarbeit ist das Schlüsselwort und das Saatgutthema hierfür ein gutes Übungsfeld für die Demeter-Gemeinschaft: die gewachsenen Strukturen müssen reaktionsfähiger werden, vor allem am Markt.

 

Die Bingenheimer sind auch hier fleißig, haben die IG Saatgut mitgegründet, die Info- und Lobbyarbeit leistet, und haben mit den anderen biodynamischen Züchtern an den frisch verabschiedeten Demeter-Richtlinien zur Züchtung mitgearbeitet. Die dürften ein positives Signal an Landwirte und Gärtner setzen und die Rolle von Demeter als Pionier des Ökolandbaus festigen. Die biodynamischen Züchter sind daran nicht ganz unschuldig.

Informationen bzw. Saatgut:

Unternehmenssteckbrief Saatgut AG

  • Entstanden aus dem Initiativkreis für Gemüsesaatgut aus biologisch-dynamischem Anbau (seit 1987)

  • seit 1990 Saatgutwerkstatt und Vertrieb im Rahmen der Lebensgemeinschaft Bingenheim

  • 1994 Gründung Kultursaat e.V.

  • 2001 Gründung Bingenheimer Saatgut AG mit 80 Aktionären (Namensaktien)

  • Umsatzwachstum in den letzten Jahren zwischen 5 und 10 %

  • 360 Sorten, die meisten vermehrt auf Demeter-Betrieben

  • Auch Kräuter, Blumen, Bienenweide, Gründüngung

  • 35 Sorten biologisch-dynamisch gezüchtet, darunter sieben Möhren

  • 11 Sorten im Sortenmarketing

  • Kunden : ca. 2.100 Bio Erwerbsgärtner, ca. 5.700 Hausgärtner

    Bingenheimer Saatgut AG, Kronstr. 24, 61209 Echzell-Bingenheim,
    06035-1899-0, fax: -1899-40, http://www.oekoseeds.de