Portrait

Essen ist Beziehungsarbeit

Dorothee Brosi-Burmann und die Küche der Waldorfschule Kreuzberg

Von Michael Olbrich-Majer

 

Es ist kurz nach halb zwölf, die ersten Schüler und Lehrer trudeln langsam im Speisesaal ein und reihen sich vor der Glastheke auf. „Was gibt´s denn heute?“. Nicht jeder große oder kleine Hungrige studiert erst den Speiseplan, bevor er oder sie sich an die zwei asiatischstämmigen Frauen in der Ausgabe wendet. Lieber mal gucken und riechen, was da so steht. Heute, am Freitag sind es Kartoffeln mit Quark und Pizza – die gibt es jeden Tag in einer anderen Variante. Dazu Salat und Nachtische in verschiedenen Größen, Suppe, Brötchen oder Hörnchen, Obst. Freie Auswahl, drei verschiedene Portionsgrößen, was auf dem Tablett landet, entscheiden die jungen oder erwachsenen Besucher der Schulküche der Waldorfschule Kreuzberg selbst, nach Appetit und Budget. Tee und Wasser stehen gratis auf den Tischen. An der Kasse am Ende der großen, L-fömigen Theke wird addiert und bezahlt.

Man sieht sich im Speisesaal

Heute steht da Dorothee Brosi-Burmann, die Küchenchefin selbst, es fehlt Personal wegen Krankheit. Eben war sie noch zu einem Jungen geeilt, dem etwas heruntergefallen war und hat ihn liebevoll getröstet, ein Kind aus den integrativen Kooperationsklassen der Schule. Inzwischen kam ein Dutzend Erwachsene von außerhalb, für die die Küche der benachbarten Waldorfschule wie eine Kantine ist und wenig später steht ein Trupp koreanischer Lehrer Schlange, behängt mit Taschen und Kameras, Gäste der Schule.

 

In der angrenzenden Küche wird derweil noch Gemüse gebraten, Pizza geschnitten und neue in den Ofen geschoben, werden warme Lebensmittel umgefüllt, Möhren geschält, Salatschälchen verziert, werden Rollwagen mit Essen oder Geschirr geschoben, wird der erste Spülgang begonnen, Kartoffelnachschub aus dem Keller geholt, während am Kücheneingang Thermokisten zurückkommen und Demeter-Gemüse angeliefert wird. Alles flink und in konzentrierter Ruhe, jeder Mitarbeiter weiß, was zu tun ist.

Ernährung im Unterricht?

Speisesaal und Küche liegen ganz am Rand der vielen Gebäude der Waldorfschule Kreuzberg. Ungefähr 660 Schüler lernen hier mit knapp 70 Lehrern. Der mittlerweile bis Klasse neun aufgebaute zweite Zug ist mit kleineren Klassen als Integrationsbereich für je sechs Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf konzipiert, hier wird der Lehrer von einem zweiten Pädagogen unterstützt. Auf dem weitläufigen Schulgelände – eine kleine Stadt auf 3,5 Hektar – verteilen sich der ursprüngliche Schulbau in typischem Waldorfstil, die raumschiffähnliche rote Aula und nüchtern gekachelte denkmalgeschützte Nachkriegsbauten, begrünte, gestaltete oder als Spielfläche eingerichtete Innenhöfe und ein kleiner Schulgarten mit Komposthaufen und frisch angesäten Beeten. Zum Unterricht gehört in der Mittelstufe jeder Waldorfschule auch Gartenbau – handfeste Ergänzung des Biologieunterrichts. Bereits in der dritten Klasse haben die Kinder selbst gesätes und geerntetes Getreide zu Brot verbacken, in der 10. Klasse folgt ein dreiwöchiges Landwirtschaftpraktikum. Alles einmalig in der deutschen Bildungslandschaft. Ob die Schüler das zu schätzen wissen? Auf jeden Fall wissen wie, wo und wie Lebensmittel entstehen, welcher Aufwand dafür betrieben werden muss. Steve Tromsdorf, Gartenbaulehrer der Kreuzberger Schule, hat seine Schüler zum Erntedank eine Suppe aus den Gartenfrüchten kochen lassen, die nun gemeinsam in der Gartenbauhütte verzehrt wird.

Schulküche? Meist eine Elterninitiative

Eine Küche, oder gar Ernährungsunterricht gehören allerdings nicht zur anthroposophischen Pädagogik. Eine Art Hinführung zum Thema Ernährung findet in Form eines einwöchigen Küchenpraktikums in der Mittelstufe statt. Die Versorgung mit Lebensmitteln, seien es Frühstücksbrötchen oder warme Mahlzeiten, entsteht meist auf Initiative der Eltern. So war es auch hier in Kreuzberg. Dorothee Brosi-Burmann sagte als Mutter ja, als die Eltern in der Hortgruppe ihrer Tochter sich entschieden, dass jemand regelmäßig für die Kinder kochen sollte. Eineinhalb Jahre kochte sie für 20 Kinder zuhause und fuhr das Essen in die Schule. Als im Folgejahr die zweite Gruppe dazu kam, ging das nicht mehr lange so: 1987 wurde ein Küchenraum in der Schule bereitgestellt und mit geschenktem Gerät bestückt. Aus vierzig wurden achtzig Essen an Gruppentischen, nach und nach kam der der ganze Hort dazu, dann weitere Klassen. 1997 wurde schließlich ein ganzer Gruppenraum zur Schulküche für 250 Essen umgebaut mit einem Speiseraum von 100 Plätzen. Auch die Situation der Küchenmitarbeiter ändert sich: sie wurden von der Schule angestellt. Zwischendrin machte die Küchenleiterin eine Ausbildung zur Hauswirtschaftsmeisterin, denn gelernt hatte sie Steuerfachgehilfin bzw. Sozialpädagogik. Doch nach wie vor blieb die Situation provisorisch und die Zahl der Essenden wuchs weiter. Das Lager war teilweise auf dem Flur, der Raum gewährte keinen Überblick, es gab Gruppenessen in Schüsseln. Im Rahmen der Schulerweiterung wurde dann 2006 die Küche im hinzugekommen Max-Taut-Bau nach heutigen Erfordernissen umgebaut und ein neuer Speisesaal ging 2007 in Betrieb. Der schafft Atmosphäre, durch sein erhöhtes Dach über der Essensausgabe und das teils von oben einfallende Tageslicht. Elementar war die Bedeutung einer guten Schalldämmung – bei Lärm isst niemand gerne.

Die Küche, das Team, die Menüs

Damit es den knapp 1100 Bekochten schmeckt, ist straff organisierte Arbeit nötig: Morgens um sechs beginnt der Küchenbetrieb mit Teekochen und der Chefkoch bereitet das Gemüse vor. Ab sieben läuft die Yoghurtbereitung aus Demeter-Milch, werden die Saucen gekocht, ab acht werden Kuchen Brötchen und Pizzaböden gebacken. Gegen neun beginnt das integrative Team, zwei Betreute und die Arbeitsassistentin, die tägliche Warenanlieferung, einzuräumen. Jetzt muss auch die Ausgabetheke aufgebaut werden, Wäsche kommt, zwei Drittel des Essens muss noch gekocht werden. Ab halb zehn stehen die ersten Außer-Haus-Portionen bereit, die das Fahrerteam bis halb elf abholt und an zwölf Kindereinrichtungen ausliefert. Kurzes Luftholen, bevor die nächste Kochrunde für die Schüler und Lehrer beginnt, Gemüse wird ohnehin in Etappen nachgegart. Um 11:30 Uhr beginnt die Essens­ausgabe, zwischen zwölf und vierzehn Uhr herrscht reger Betrieb, dann läuft es bis um drei aus. Längst schon laufen die Spülschichten, der letzte Boden ist um zehn Uhr abends gewischt. Dreieinhalb Arbeitsplätze fürs Spülen, drei in der Ausgabe und sieben beim Zubereiten bietet die Schulküche, mit Fahrern und drei Integrationsstellen für Menschen mit Behinderung verteilt sich das aufgrund einiger Teilzeitstellen auf dreißig Personen mit verschiedenen Arbeitszeiten.

 

Die Menüplanung folgt dem jahreszeitlichen Angebot, aber auch den Wochentagen: Montags Getreide, Dienstags Nudeln, Mittwochs Eintopf, Donnerstags Bratlinge, Polentasticks oder ähnliches, Freitags ist Kartoffeltag. Im Speisesaal gibt es nicht das Gleiche wie für die Hortgruppen, aus Kapazitätsgründen. Jeden Tag werden drei Hauptgerichte angeboten, vegetarisch oder vegan. Alle zwei Wochen gibt es sogar Pommes, Pizzastücke jeden Tag. Nachtisch gibt es immer zwei verschiedene, dazu noch Joghurtbecher oder Obst. Und immer Tagesalat und Tagessuppe. Es findet jeder etwas, auch bei den Getränken: Demeter-Säfte, Bionade oder Bio-Cola und Latte Macchiato kosten jedoch extra. Catering macht die Schulküche allerdings nicht für jedermann, „das soll schon einen Bezug zu uns haben“, so die Küchenchefin. So hat das Küchenteam im Mai beispielsweise das einfallsreiche Buffet für den gemeinsamen parlamentarischen Abend dreier anthroposophischer Verbände, darunter Demeter, gestellt. Hier wie bei Tagungen im Haus helfen auch Studenten aus.

Vom Wert des Essens

In der Schulküche hat das ein oder andere Kind wieder Freude am Essen gefunden. Manche haben auch großes Vertrauen, wie eines, das mal sagte: „Unsere Küche kocht das, was für uns gut ist.“ Denn es macht keinen Sinn, nur die Lieblingsessen zu kochen, dann gäbe es jeden Tag Spaghetti mit Tomatensoße. Der Döner­imbiss im Block gegenüber wird ohnehin besucht. Die Schüler dürfen das Erworbene aber im Speisesaal essen.

„Was ist gut, wohin ernähre ich die Kinder, das ist die Aufgabe“, so die Küchenleiterin. „Das spüren sie durch die Haltung der Zubereitenden“, sagt sie „und die drückt sich auch im Essen selbst aus.“

 

Daher ist Dorothee Brosi-Burmann ein gutes Arbeitsklima in der Küche besonders wichtig. „ Ich finde das schmeckt man“. Sie begrüßt jeden Mitarbeiter mit Handschlag, ist offen für deren Probleme hat auch schon mal zur gemeinsamen Meditation angeleitet, um eine Krisenstimmung aufzulösen. Nicht zu enge Vorgaben machen, aber die Zusammenhänge erläutern, so dass sich die Mitarbeiter selbst einordnen können, das wecke auch kreatives Potenzial.

 

„In puncto Essen sind alle Kinder“ stellt die erfahrene Küchenchefin fest und berichtet über die Schwelle, sich auf Neues einzulassen. Das sei für manche eine Zumutung. „Und dann noch dafür bezahlen?“. Sie hat festgestellt: Es schmeckt den „Kunden“ besser, wenn sie nicht in Eile entscheiden müssen, was ist teuer und was nicht, was darf oder kann ich mir leisten? Das Finanzierungsystem muss flexibel und dennoch einfach sein. Gegen diese und weitere psychologische Barrieren bei Gemeinschaftsverpflegung – nicht jeder isst übrigens gerne in großen Räumen – unterlässt sie alles, was nach Zwang aussieht. „Je weniger Reglementierung, desto höher ist die Bereitschaft, sich einzulassen“. Keine Anmeldung, keine spezielle Aufsicht, variable Portionen, Auswahl und Entscheidung an der Theke, dann funktioniert Schulessen ohne Meckern und Reste. Die gibt es nur vom Zubereiten – rohe Gemüseabfälle für den Garten-Kompost oder Rücklauf von den Hort-Essen, der wird von einem Biogasbetrieb abgeholt. Auch das einwöchige Küchenpraktikum in der 7. Klasse verändert die Perspektive. Schüler probieren unvertrautes, entdecken ihren Stolz aufs Mitwirken und werben plötzlich an der Theke:„ Probier das mal!“. Essen ist die Beziehungsarbeit schlechthin, kommentiert Dorothee Brosi-Burmann. Also muss man sich darauf einlassen, was das Bedürfnis ist, ein entsprechendes Angebot schaffen und dann rechnet es sich auch.

Muss es denn Bio sein?

Bio ist eine Frage nur für Erwachsene, hat Brosi-Burmann gemerkt. Schüler fragen da nicht, ihnen muss es schmecken, während Erwachsene das Für und Wider bzw. Preise diskutieren. Sie kochte von Anfang an möglichst Bio, in den 80er Jahren war aber noch vieles nicht verfügbar, seit Jahren sind es nun 100% mit saisonalem Demeter-Anteil von bis über 50 %. Wenn ihr es als Waldorfschule nicht macht, wer denn dann? hört sie oft als Argument. Die Kinder an ein natürliches Geschmacksempfinden heranzuführen, ist eines der Ziele, die mit dem Einsatz von Bio-Produkten verbunden sind. Erstmals 2003 wurde die Schulküche Öko-zertifiziert, um am Wettbewerbs „Bio-Star“ des BMVEL teilzunehmen, wo sie prompt den zweiten Preis für Ökoküchen gewann. Zur Verantwortung für die Kinder gehört für die engagierte Hauswirtschaftmeisterin auch die Verantwortung für die Pflege der Erde. Nur ein hohes Niveau in der Qualität der Nahrung garantiere eine Ernährung der Physis so, dass sich die Chance für seelisch-geistige Impulse ergibt, wesentlich für die pädagogische Aufgabe einer Schule. Daher kauft sie viel von Bio-Bauern und Erwerbsgärtnern der Region, denen das ein Anliegen ist. Die Demeter-Betriebe Vietmannsdorf, Löwengarten und Bienert liefern den größten Teil des Gemüses, oft auch zweite Wahl wie aussortierte Größen, zum Sonderpreis. Daneben bezieht die Schulküche vom regionalen Bio-Großhandel, und Tiefkühlware. Fleisch und Wurst werden nicht angeboten.

Immer im Focus: die Küchenleitung

Man könnte also rundum zufrieden sein mit der Schulküche, vom Angebot bis zur differenzierten Preisgestaltung, von der Stimmung und der Professionalität bis zum guten Ruf und zur vorbildlichen Bio-Gemeinschaftsverpflegung. Von außen betrachtet. Intern muss sich eine Gemeinschaftsküche immer auch Fragen stellen: Muss es Bio sein? Ist sie wirtschaftlich? Gehört sie pädagogisch überhaupt zum Schulangebot? Lehrer, Eltern, Schüler und Management müssen dies als Gemeinschaft grundsätzlich und für lange Zeit klären. Wenn das Speiseangebot nicht nur zur Nährstoffversorgung da sein, sondern ein bisschen die Besonderheit der Schule mitprägen soll, muss auch die Haltung gegenüber der Küche stimmen. Denn die Wahrnehmung von Essen und das Urteil darüber ist immer spontan und subjektiv. Die Kreuzberger Küche ist ein großer Brocken im Schulhaushalt. Brosi-Burmann achtet daher auf Kostendeckung und diskutiert intern die Möglichkeit von Mehreinnahmen durch Catering und ein Frühstücksangebot in der Schule. Denn anders als andere Gemeinschaftsverpfleger fährt eine Schulküche wegen der vielen Ferien, Praktika und Klassenfahrten nur vier Monate Volllast. Ausdauer gehört genauso zur Sicherung einer Schulverpflegung wie sanfte Überzeugungskraft.

 

Beruflich bildet sich Brosi-Burmann im Verein für menschengemäße Gemeinschaftsverpflegung fort, wo sich Küchenleiter anthroposophischer Einrichtungen austauschen und gegenseitig beraten. Auch sie hat schon Kollegen beraten, oder durch ihre Küche geführt. Damit eine Verpflegung für die Gemeinschaft erfolgreich ist, muss sie auch bewusst gewollt sein: Im Falle der Schulküche heißt das: ist sie ein Qualitätsmerkmal der Schule oder ein kostenträchtiges Anhängsel? Am Tag der offenen Tür Ende September machte die Küche selbstverständlich beste Werbung für die Schule.

Schulküche Kreuzberg:

  • Geschäftsbetrieb der Waldorfschule Kreuzberg, Umsatz ca. 600.000 Euro

  • Leiterin: Dorothee Brosi-Burmann

  • Täglich 1100 Essen für Schüler, Lehrer, Hortgruppen, auswärtige Gäste sowie Lieferung an 12 Kindergruppen, Catering für schulische und außerschulische Veranstaltungen

  • Ca 30 Mitarbeiter mit Auslieferung, viele in Teilzeit

  • Speisesaal mit ca. 150 Plätzen

  • Breites Angebot und flexible Preisgestaltung

  • 100 % Bio-Lebensmittel mit hohem Demeter-Anteil

  • Öko-zertifiziert , ausgezeichnet mit dem Bio-Star 2003

  • Waldorfschule Kreuzberg, Ritterstraße 12, 10969 Berlin, http://www.biotafel.de