Portrait
Leben, Arbeiten und Selbstversorgung
Camphill Dorfgemeinschaft Lehenhof
von Katrin Bader

Der Lehenhof liegt im Hinterland des Bodensees, im Deggenhausertal – hier leben rund 400 Menschen mit und ohne Behinderung. Neben den Wohngruppen gibt es verschiedene Handwerke wie Färberei, Weberei, Holz- und Verpackungswerkstatt, Bäckerei, Landwirtschaft oder Gärtnerei, in denen Menschen mit und ohne Assistenzbedarf nach anthroposophischen Impulsen arbeiten. Eine gesunde Ernährung spielt eine wichtige Rolle am Lehenhof und wird durch einen hohen Grad der Selbstversorgung mit Demeter-Produkten umgesetzt.

Teil der Gesellschaft sein
Camphill geht auf den Heilpädagogen Karl König zurück, der den Lehenhof 1964 als erste Camphill-Gemeinschaft in Deutschland gründete. Das sozialtherapeutische Konzept sieht ein inklusives Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung vor. Dabei leben die Betreuer:innen mit ihren Familien oft mit den Menschen mit Assistenzbedarf zusammen in einem Haus bzw. Wohngemeinschaft. Das Ziel der Dorfgemeinschaft ist es, durch ein intaktes Umfeld, gesunde Lebensmittel(produktion), Vielfalt und sinnhafte Tätigkeiten einen Lebensraum für Menschen zu schaffen, der sie bestmöglich in ihrer Entwicklung unterstützt –ganz im Sinne des One Health Ansatzes, der besagt, dass alles miteinander verbunden und in seiner Gesundheit voneinander abhängig ist, sich beeinflusst. Jede:r in der Gemeinschaft hat eine Aufgabe, ist Teil des großen Ganzen und trägt zum Gelingen der Gemeinschaft bei – diese Selbstwirksamkeit schafft Stolz, Anerkennung und Zufriedenheit, was sich wiederum positiv auf das Selbstwertgefühl, die Psyche und somit auch die Gesundheit der Menschen auswirkt. So wird Alltag zu Therapie.
Der Lehenhof ist aufgrund seiner topografischen Lage etwas abgelegen von den umliegenden Dörfern und Gehöften: Das Dorf, mit Wohnhäusern, Werkstätten, Käserei, Gärtnerei und Bäckerei, liegt auf 750 Metern Höhe; der Lindenhof als Zweigstelle für die Landwirtschaft, mit Kuhstall für die 50 Braunviehkühe und Melkstand ist durch eine Steilstrecke mit 30 % Steigung erreichbar. Weitere Felder der Gärtnerei liegen weiter unten im Tal auf 570 m. Trotz der abgelegenen Lage ist es den Dorfbewohnenden wichtig, nicht nur unter sich zu sein, und auch für andere Menschen etwas zu produzieren, obwohl die Selbstversorgung Priorität hat. Die Öffnung nach außen geschieht durch den Bioladen in Untersiggingen, etwa sieben km von der Hofstelle entfernt. Zentral an einer Durchfahrtsstraße gelegen, fällt der Laden sofort auf und ist mit seinem Café auch ein gemütlicher Treffpunkt für Einheimische und Touristen. Hier wird neben den eigenen Produkten ein breites Naturkostsortiment angeboten – und auch Menschen mit Assistenzbedarf arbeiten hier. Seit ein paar Jahren gibt es am Lindenhof einen 24h Verkaufsautomat, in dem Produkte des Lehenhofs und regionaler Biohöfe verkauft werden.


Sinnstiftende Tätigkeiten im grünen Bereich
Die 161 Menschen mit Assistenzbedarf sind sehr individuell in ihren Bedürfnissen und Hilfebedarfen. Entsprechend unterschiedlich sind die Tätigkeiten, die sie in den verschiedenen Bereichen ausführen können: Manche übernehmen selbstständig Aufgaben wie Käse schmieren und verpacken, Beikräuter im Gemüse hacken, andere tragen Kisten mit geerntetem Gemüse zu einem Sammelplatz, wiederum andere füllen Erde in Töpfchen, in denen Basilikum für den Verkauf angezogen wird. Für jede:n wird eine passende Aufgabe gefunden, ganz nach den individuellen Möglichkeiten. „Dabei interessiert mich die Krankenakte auch gar nicht, ich schau einfach, was bringt der Mensch mit, und finde dann gemeinsam mit ihm eine sinnstiftende Tätigkeit.“ fasst Stephan Bauck, Leiter der Gärtnerei, seine Philosophie zusammen. Ihm ist, wie allen am Lehenhof, wichtig, dass die Menschen mit Assistenzbedarf nicht nur zum Zeitvertreib irgendeine Tätigkeit ausführen, sondern wirklich etwas zur Gemeinschaft beitragen. „Man merkt es den Menschen richtig an, wie stolz sie auf ihre Arbeit sind und wie sie sich damit identifizieren, wenn bspw. „ihr“ Blumenkohl oder Brot gut verkauft wird“ so Lea Sprügel, Ernährungsberaterin am Lehenhof.
Die Gärtnerei ist, genauso wie die Landwirtschaft mit Ackerbau und Milchvieh, die Bäckerei oder auch die Käserei ein eigener Betriebszweig und hat das Ziel, schwarze Zahlen zu schreiben. „Auf eine Fachkraft kommt ein Dörfler, trotzdem müssen wir wirtschaftlich arbeiten, denn nur so können wir die Vielfalt mit rund 50 Kulturen und über 120 Sorten anbauen, mit viel Handarbeit und guter Planung“ so Stephan Bauck. Daher wird sorgfältig geprüft, welche Arbeiten von den Mitarbeitern mit Assistenzbeadrf übernommen werden können. Es gibt auch Arbeiten, die nur von Fachpersonal geleistet werden: Traktor fahren, Präparate rühren oder Tomaten ausgeizen etwa.
Die Gärtnerei hat zwei Standorte – einen weiter unten im Tal auf 570 m, dort sind Folientunnel und Gemüseflächen zu finden, im Dorf selbst sind auf 750 m neben Gemüsefeldern die Gewächshäuser, das Präparatelager und die Kompostmieten angelegt. Die Biodynamischen Präparate werden alle selbst hergestellt und sowohl die Drogen, selbstverständlich der Mist, als auch die Hüllen kommen alle vom eigenen Hof. Die Bergkristalle stammen von einem Bewohner, der früher Minerale gesammelt hat und dessen Vorrat nun selbst vermahlen und für Hornkiesel genutzt werden kann. Von einem Jäger und aus den Schlachtungen der eigenen Rinder stammen die Hüllen für Hornmist und -Kiesel sowie die Kompostpräparate. Auch bei den Präparaten zeigt sich, wie auch bei den Gemüsekulturen, dass nicht jedes Jahr gleich ist: So gelang der Hornmist 2023 sehr gut, dieses Jahr eher weniger, daher kommt der 2023er weiter zum Einsatz. Am Anfang der Gemüsefruchtfolge steht eine Kleegras- und Blühpflanzenmischung, um den Humusaufbau und somit das Bodenleben und die Bodenfruchtbarkeit zu fördern. Ist der Boden fruchtbar, beherbergt er auch ein gesundes Mikrobiom, was sich auch auf dem Gemüse und Obst wiederfindet, das verzehrt wird und das menschliche Mikrobiom ebenfalls beeinflusst.
So wie der Boden ein eigenes Mikroorganismenmilieu aufweist, ist es auch im Käsekeller: Hier haben sich über die Zeit verschiedene Hefen, Pilze und Bakterien angesiedelt und formen so ein ganz eigenes, Lehenhof-typisches Biotop. Die Kunst des Käsens ist es, die frische Milch zu verarbeiten und die Käse in ihrer Reifung gut zu begleiten. „Die Inhaltsstoffe der Milch schwanken, auch in den Jahreszeiten, also wird auch jeder Käse etwas anders“ beschreibt Ellen Baier, Mitarbeiterin in der Käserei, die Eigenarten des handwerklichen Prozesses. Jährlich werden etwa 160.000 Liter Gras- bzw. Heumilch zu mindestens zehn verschiedenen Käsesorten verarbeitet. Authentizität und Verbundenheit mit dem Ort der Produktion spielt dabei eine wichtige Rolle – und das kann auch im Verkauf, im Gespräch mit den Kunden, vermittelt werden: Egal ob Gemüse, Brot, Fleisch oder Käse – jedes Produkt ist geprägt durch seine „Erfahrung“, durch den Boden, in oder auf dem es gewachsen ist, dessen Bewuchs die Kühe gefressen haben, woraus wiederum Milch wird, die zu Käse veredelt wird. Durch die Menschen, die in der Produktion tätig sind, die sich täglich um die Tiere kümmern und die, die sie schlachten und ihr Fleisch weiterverarbeiten. Hier wird das Zusammenspiel im Betriebsorganismus, wie die einzelnen Teilbereiche, Organe, sich gegenseitig beeinflussen, erlebar. Im Weinbau ist der Begriff Terroir längst gängig, doch gilt er eigentlich für alle anderen landwirtschaftlichen Produkte.
Gesundheit fördern
Gesunde Nahrung ist die Basis für einen gesunden Körper. Daher wird am Lehenhof besonders auf hochwertige Lebensmittel geachtet – die Selbstversorgung mit eigenen Demeter-Produkten steht im Vordergrund, was nicht vom Hof kommt, wird möglichst in Demeter- und Bio-Qualität oder regional-saisonal eingekauft. Natürlich greifen die Bewohner auch mal zu Schokolade oder einer Cola, doch der Großteil der Lebensmittel wird vor Ort produziert und frisch verarbeitet: Im Sommer stammen 90 % des verzehrten Gemüses aus der eigenen Gärtnerei, hinzu kommen Heumilch-Käse und Fleisch sowie die verschiedenen Brot- und Backwaren. Gesundheit braucht aber nicht nur frische, gesunde Lebensmittel: Auch die Zubereitung in den jeweiligen Wohneinheiten, das gemeinsame Kochen und Essen, trägt zu einer bewussten Ernährung bei, die das Wohlbefinden stärken kann. Das Thema Ernährung ist sehr präsent und es werden zum Beispiel auch immer wieder Workshops von Ernährungsberaterin Lea Sprügel dazu angeboten. „Ich liebe Käse und könnte täglich Käse essen, habe aber gelernt, dass zu viel nicht gut für mich ist“ berichtet zum Beispiel Daniela. Daniela ist seit Februar 2023 in der Käserei, und neben Sandra und Horst eine von drei betreuten Mitarbeitenden in der Käserei und sehr pflichtbewusst. Das ist wichtig, denn „Wir müssen in der Käserei auch wirtschaftlich sein und einen Mittelweg zwischen Produktivität und Betreuung der Menschen mit Assistenzbedarf finden – nicht jede:r kann bei uns arbeiten, ein Mindestmaß an Verständnis und Zuverlässigkeit ist zwingend nötig“ fasst Ellen Baier zusammen. Doch den Schritt dahin, auch Menschen mit Assistenzbedarf im Hygienebereich arbeiten zu lassen, hat das Käsereiteam nicht bereut. Die Freude der Menschen mit Assistenzbedarf ist innerhalb kürzester Zeit spürbar, ihre Gewissenhaftigkeit und wie stolz sie auf ihre Produkte sind, macht nicht nur gute Laune, sondern begeistert auch. „Sie sind so im Hier und Jetzt verhaftet, und nicht mit ihren Gedanken bei zig anderen Dingen, die noch zu tun sind, das ist eine gute Entschleunigung und bringt uns auch dazu zu prüfen, worauf wir unseren Fokus legen, was gerade wichtig ist, wie wir die Arbeit in einzelne Päckchen aufteilen können“ so Ellen Baier.


Gemeinschaft leben ist Therapie
Als Besucher am Lehenhof und im Bioladen fällt schnell auf, wie Inklusion gelebt werden kann. Die Arbeit, das Dorfleben wurde darauf ausgerichtet, dass möglichst jede:r teilhaben kann, die Menschen nehmen Rücksicht und unterstützen sich gegenseitig, sinnhafte Tätigkeiten stärken das Selbstbewusstsein, die Gesundheit und Resilienz der Menschen. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte eines Bewohners, der mit psychischen Problemen an den Lehenhof kam, und dessen Zustand stabiler wurde, sobald er in der Gärtnerei mit seinen Händen in der Erde arbeitete.
Teil der Gesellschaft sein – das ist ein wichtiger Aspekt für die Lehenhöfler. Einerseits besteht eine Öffnung durch den Bioladen und den 24h Verkaufsautomaten. Dadurch erfährt der Hof eine Präsenz im Alltag, wird immer wieder in Erinnerung gebracht. Ein besonderes Produkt ist dabei das Brot: Täglich werden bis zu 500 Brote hergestellt, die für den eigenen Verzehr gedacht sind, aber auch über den Bio-Großhändler BODAN bis nach München geliefert werden. So strahlt die Lehenhof-Qualität weit über den Hofumkreis hinaus. Der verwendete Backferment-Ansatz macht das Brot milder als Sauerteig und besser verträglich. Backferment geht auf Hugo Erbe zurück, der es nach Angaben Rudolf Steiners entwickelte: Honig, Weizen- und Erbsenmehl werden gemischt und mit Wasser und Mehl angesetzt. Dabei entsteht lediglich Milchsäure, keine Essigsäure wie beim Sauerteig, daher ist das Brot bekömmlicher. Auch in der Bäckerei sind die Menschen mit Assistenzbedarf unglaublich stolz auf ihre Arbeit und ihr Brot – eine Qualität, die sich nicht messen lässt, aber dennoch spürbar ist.
Der Lehenhof ist ein gutes Beispiel dafür, wie in einer Dorf-, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft ein gesunder Ort für Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen werden kann. Es ist kein Paradies, auch hier gibt es Meinungsverschiedenheiten, finanzielle Aspekte und mal schlechte Laune. Doch das Bewusstsein für die Gemeinschaft, für die gemeinsame Gesundheit und die Verantwortung für diesen Ort ist spürbar. Gesundheit zu fördern ist ein stetiger und vielfältiger Prozess, der Entwicklung und Wandel unterliegt, und der niemals endet.
Katrin Bader
Redaktion Lebendige Erde
katrin.bader(at)demeter.de
Camphill Dorfgemeinschaft Lehenhof
- gegründet 1964
- ca. 400 Menschen mit und ohne Behinderung leben und arbeiten am Lehenhof Arbeitsbereiche: Landwirtschaft mit Ackerbau & Tierhaltung, Gärtnerei, Landschaftspflege, Bäckerei, Käserei, Holzwerkstatt, Färberei, Weberei, etc.
- Tiere: ca. 50 Braunviehkühe plus Nachzucht, ca. 20 Schweine, 10 Schafe
- Flächen: 140 ha landwirtschaftliche Fläche (90 ha Dauergrünland, 15 ha Ackerfutter, 35 Getreide); 3,7 ha Freilandgemüse, ca. 2300m² geschützter Anbau
- Produkte: Gemüse, Streuobst, Käse, Fleisch- & Wurstwaren, Brot und Gebäck, Garne, Stoffe, Textilien, Schulhefte, Holzkisten und Anzünder
- Vermarktung: Eigenbedarf, Überschüsse gehen in den Bioladen mit Café in Untersiggingen, regionale Bio- & Hofläden, tlw. Großhändler BODAN