Schwerpunkt

Lernen, Landwirtschaft gesund zu gestalten

Diagnostisch-Therapeutisches als Grundmotiv des Biodynamischen

von Dr. Andrew Lorand

 

Stellt man die Frage nach dem Kern des biodynamischen Konzeptes von Landwirtschaft, so lässt sich dieser kurz als „spirituell-physische Matrix” oder „lebendiges Grundgerüst“ benennen. Darunter ist ein umfassendes Konzept mit weitreichenden theoretischen und praktischen Konsequenzen zu verstehen. Während die aktuelle Agrarwissenschaft sich im Wesentlichen auf den quantifizierbaren materiellen bzw. physischen Bereich beschränkt, gründet biodynamische Agrikultur auf Elementen, Prinzipien, Kräften und Wesen, die nicht einfach erblickt, angefasst, gewogen, gemessen oder gezählt werden können. Rudolf Steiner nannte die Komponenten dieser zusätzlichen Dimension des Lebens „geistig“.

 

Für den biodynamischen Praktiker besteht so die Aufgabe, Phänomene mit diesem erweiterten Blick auf die Realität wahrzunehmen und zu deuten. Realität stellt sich als miteinander verwobener, gegenseitig voneinander bedingter Wirkenszusammenhang von Substanzen, Kräften, Rhythmen, Wesen, Entwicklungen und Veranlagungen dar. Nach Steiner werden diese Strukturen der geistigen Dimension mit einem entsprechend konsequenten Training, das Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten erweitert, erkennbar. Wer also die biodynamische Landwirtschaft beherrschen möchte, kommt nicht darum herum, sich ernsthaft darum zu bemühen, seine Wahrnehmungsfähigkeiten zu erweitern.

Dabei muss man von folgenden Grundvoraussetzungen hinsichtlich des Wesens der Biodynamischen Landwirtschaft ausgehen:

  • Die Erde ist ein lebendiges, empfindsames, bewusstes Wesen in einem lebendigen Universum, charakterisiert von einem spirituellen-physischen Urgrund.

  • Substanzen sind Träger von Kräften, die Leben hervorrufen (physische Dimension).

  • Rhythmen der Gestirne beeinflussen direkt das Leben auf der Erde (lebendige Dimension).

  • Tiere und Menschen emanzipieren sich von diesen kosmischen Rhythmen. (seelische Dimension).

  • Eine Landwirtschaft ist eine lebendige, dynamische, spirituelle Individualität. (Persönlichkeits-Dimension).

Erkenntnistheoretisch betrachtet, geht es bei der Beziehung zwischen Praktiker und Agrikultur, im Kern des Biodynamischen, um ein diagnostisch-therapeutisches Verhältnis des Landwirtes zur Gesamtheit des landwirtschaftlichen Betriebes. Die Gesamtheit des Betriebes wird biodynamisch „landwirtschaftliche Individualität“ genannt, ein Begriff, in dem ein umfassendes Bild von Gesundheit der jeweiligen Landwirtschaft mitschwingt. Steiner macht in seinen Vorträgen den Menschen zur Grundlage der Landwirtschaft: Menschliche Gesundheit ist weitaus komplexer als nur physische Unversehrtheit. In der gleichen Weise betrifft die Gesundheit einer Landwirtschaft nicht nur die physischen Aspekte. So liegt die Aufgabe des biodynamischen Praktikers darin, in den materiell-physischen Vorgängen der Landwirtschaft geistige Kräfte und Wesen zu erkennen und Methoden einzurichten, welche die Balance und Integration beider, geistiger wie physischer Aspekte aufbauen, unterhalten und wenn nötig wiederherstellen. Das führt zu einer eindeutig vorbeugenden, an den Widerstandskräften orientierten Praxis vergleichbar den Methoden in der ganzheitlichen Medizin. Die Fähigkeit des Organismus zur Gesundheit, ob Pflanze, Tier oder Mensch bildet den zentralen Pfeiler des biodynamischen Systems.

 

Biodynamische Verfahren lassen sich in zwei Kategorien gliedern. „Biologische“ Verfahren sind in der Bio-Beratung gut bekannt und umfassen Mulchen, Dammkultur, Mischkultur und Begleitpflanzen, ausgefeilte Fruchtfolge, Zwischenfruchtanbau, Gründüngung, Wasser konservierende und belebende Techniken, Diversität bei Tieren und Düngern, Vielfalt bei den Früchten, biologischen Pflanzenschutz und diversifizierte Betriebe, die auch Gartenbau, Milchvieh und Obstgärten integrieren.

 

Die dynamischen Aspekte der Biodynamischen Landwirtschaft sind landwirtschaftlichen Ausbildern und Beratern weit weniger vertraut. Sie umfassen Methoden wie Kompostpräparate, Feldspritzpräparate, Tees zur Blattspritzung bzw. zur Kontrolle von Schaderregern und Beikraut sowie das Arbeiten mit kosmischen Rhythmen in Pflanzen­bau und Tierhaltung, Homöopathie für Nutztiere und die angestrebte Ausprägung eines Betriebs als „Indi­vidualität“. Mit Hilfe dieser Verfahren wird der Landwirt zum diagnostisch und therapeutisch Handelnden für die Gesamtheit einer Landwirtschaft.

 

Kurz gefasst: Gehen wir davon aus, dass die Erde ein komplexer physischer, ein lebendiger physiologischer und empfindsamer Organismus ist, mit einer Art Bewusstsein und eingebettet in ein lebendiges, empfindendes und bewusstes Universum. Dann ist jede einzelne Landwirtschaft, jeder Garten ein integrierter Teil dieses Erdorganismus, und ebenso physisch komplex, physiologisch lebendig, empfindsam und bewusst. Gesunde, produktive und erfolgreiche Betriebe oder Gärten aufzubauen und zu managen ist somit zunächst eine eher „medizinische“ Frage, der Klient bzw. Patient, um den wir uns kümmern, ist die Farm oder die Gärtnerei. Was ist gesund? Was ist ungesund? Wie können wir, wo nötig, Gesundheit und Produktivität wieder herstellen? Das sind unsere Leitfragen.

 

Verstehen wir nach Steiner so das Biodynamische als anthroposophisches Heilmittel für die Erde, ermöglichst dies den landwirtschaftlichen Praktikern zunehmend unabhängiger in ihrer Diagnose und der Wahl ihrer Maßnahmen zu werden. Grundlage für ein solches Verständnis von produktiver Gesundheit oder Krankheit ist das Erlernen der anthroposophischen Begriffe dazu und wie daraus Therapien zum Ausgleich von Ungleichgewichten, zum Kräftigen von Organen bzw. Organsystemen und der Widerstandsfähigkeit der gesamten landwirtschaftlichen Individualität hergeleitet werden.

 

Wenn wir uns für ein Managementsystem entscheiden, das vorrangig auf gesundheitsfördernde Maßnahmen zielt, die Grundlage für wirklich nachhaltige Produktivität, dann ist das etwas ziemlich anderes, als wenn wir uns nur um die maximale Produktionsmenge im Augenblick sorgen, egal welche Folgen diese Begrenzung auf den Moment hat. Wenn wir uns bewusst machen, dass unsere Lebensanschauung unsere Wirtschaftsweise und unsere tägliche Arbeit maßgeblich beeinflusst, erkennen wir die Bedeutung des Nachdenkens und Meditierens über unsere Arbeit: Welche Aufgabe hat meine Arbeit, wie entwickle ich Verfahren, die mit meinen Werten übereinstimmen?

 

Die Biodynamische Wirtschaftsweise bietet hier praktische Methoden, da ihr Gesundheit und Fruchtbarkeit der Gärten und Betriebe ein echtes Anliegen ist, zum Wohle der Böden, Tiere und Menschen und in der Langzeitperspektive auch der Menschheit und der Erde. Spiritualität in diesem Kontext kennzeichnet die ernsthafte Bemühung, seine authentischen Werte, sich selbst mit den authentischen Substanzen, Kräften und Wesen in Natur und Kosmos zu verbinden.

 

(Übersetzung: Michael Olbrich-Majer)

 

Erkenntnistheroretische Unterschiede zwischen verschiedenen Landwirtschaftsweisen

traditionell

industriell

organisch

biodynamisch

Der traditionelle Bauer steht in einer Beziehung zur Landwirtschaft, die durch Gebräuche, Rituale, Generationenwissen, Stammesregeln, Aberglaube, religiöse Sitten und andere externe Werte geprägt ist.

Der industrielle Praktiker steht zur „Fabrik“ Landwirtschaftsbetrieb in einer verwertenden Geschäftsbeziehung. Beobachtung, Analyse und strategische Entscheidungen werden auf Grundlage eines linearen Verständnisses getroffen. Ein technologischer Rahmen formt und begrenzt Denken, Problemerkennung und Interpretation durch den Landwirt.

Der organische Praktiker pflegt eine wohlwollende Wertschätzung der Komplexizität der Ökosysteme und versucht, in diesem ökosystemaren Rahmen nachhaltig zu arbeiten.

Der biodynamische Praktiker steht in einem fördernden und helfenden Verhältnis zur komplexen, lebendigen und dynamischen landwirtschaftlichen Individualität. Beobachtung, Diagnose und Entwicklung von Therapien sind die zentralen Themen des Landwirts in seiner Beziehung zum Betrieb.

Dr. Andrew Lorand

Jahrgang 1957, Ausbildung und Praxis als Landwirt in der Schweiz, Studium in Deutschland und den USA.

Promotion in der Agrarpädagogik über die Biodynamik.

Ehemaliger Direktor des Nordamerikanischen Biodynamischen Ausbildungsprogramms.

Seit vielen Jahren Berater für den Biodynamischen Land-, Garten-, und Weinbau in Nord Amerika und Europa.

http://www.andrewlorand.com, und http://vitisbiodynamica.blogspot.com