Schwerpunkt
Die Ökonomie der Landwirtschaft
Kultivierung der Natur und des sozialen Organismus
von Ueli Hurter
Spricht man das Thema Wirtschaft in landwirtschaftlichen Kreisen an, wird schnell über zu geringe Preise geklagt. Es lohnt daher, über Ansätze eines nachhaltigen und gerechten Wirtschaftssystems nachzudenken und auch damit zu beginnen.
Wirtschaft ist verwirrend und intransparent
Werte und Preise haben oft wenig miteinander zu tun. Ein Beispiel: Auf unserem Hof führt der Weg zur Weide über die Dorfstraße. Kommen wir mit der Herde, müssen die Autos warten. Ein Nachbar mit seinem Audi A8 ist besonders ungeduldig. Bis die 25 Kühe vorbeigetrottet sind, ist er fast explodiert und sein Schnellstart besagt: Ich habe keine Zeit für Folklore, denn ich bin mit ganz großen Geschäften unterwegs. Gemessen am Wert hat er Recht: Die Kühe sind zusammen 50.000 Franken wert, sein Auto locker mehr. Wie kann es sein, dass eine Kuhherde, das Rückgrat eines biodynamischen Betriebes, weniger Wert aufweist als ein Serienauto? Andererseits bin ich erstaunt, dass ein neuer Vier-Farb-Drucker fürs Büro nur so viel kostet wie zwei Laib Käse.
Es ist alles andere als einfach, das Wirtschaftsleben zu durchschauen. Die Interaktionen sind so vielschichtig, dass es der gemeinsamen Urteilsbildung vieler bedarf, um die Wirtschaft einigermaßen zu steuern. Rudolf Steiner hat solche Plattformen gefordert und sie Assoziationen genannt. Dabei geht es um ein ständiges Beobachten und Justieren des Wirtschaftsgeschehens. Assoziation ist dabei keine fixe soziale Form, sondern eher ein Prinzip, das unterschiedlich realisiert werden kann: klein oder groß, für ein Produkt oder ganze Branchen, für Konsumgüter oder für Investitionsgüter etc. Wichtig ist, den Blick des Einzelunternehmens in den Gesamtblick einzubringen, und neben der Produktion und dem Handel auch den Konsum als Regulativ zu integrieren.
Landwirtschaft und Kapitalwirtschaft
In seinem nationalökonomischen Kurs von 1922 unterscheidet Rudolf Steiner zwei Arten der wirtschaftlichen Wertbildung (W1, W2). Erstens: Arbeit wird auf Natur angewendet, W1, und zweitens, Arbeit wird auf Geist angewendet, W2. Ersteres meint, dass erst die Bearbeitung der Natur im Hinblick auf Bedürfnisse einen wirtschaftlichen Wert schafft. Die Natur selbst gehört nicht zur Wirtschaft. Genau hier steht die Landwirtschaft als Bearbeiter der Natur im Wirtschaftsleben. Zweiteres meint die Organisation der Arbeit. Der Geist der Moderne hat sich aller traditionellen und religiösen Normen entledigt und das Arbeitsleben rein nach Rationalität organisiert. Es entstand die Industrie, wir befinden uns mitten in der vierten industriellen Revolution, am Übergang der Digitalisierung zur Robotik. In und durch diese arbeitsteilige Wirtschaft entsteht Kapital.
Langfristig kommt es so zu einer Polarität von Landwirtschaft und Industrie. Die Landwirtschaft fußt auf der Natur, die Industrie führt zum Kapital. Die Frage ist dann, wie das Wirtschaftsleben funktionieren kann, ohne dass die Industrie die Landwirtschaft vollständig verdrängt, bzw. die Landwirtschaft vollständig industrialisiert wird. Aber warum sollte man die Landwirtschaft nicht vollständig durchrationalisieren? Ein Blick in die Realität zeigt, dass gerade dies nicht geht. Einerseits wird die Naturgrundlage zerstört: Der heute ausgetrocknete Aralsee ist ein Paradebeispiel der Folgen planwirtschaftlicher, industrieller (Baumwoll)-Produktion. Andererseits kann Industriefood uns nicht ernähren und führt z. B. zu Fettleibigkeit und anderen Zivilisationskrankheiten.
Assoziative Zonen
Die Landwirtschaft ist also gut beraten, die Natur, auf der sie fußt, soweit zu pflegen, dass dauerhaft ein Mehrwert geschaffen werden kann.Und Nahrungsmittel zu erzeugen, die gut verdaulich sind. Dies erreicht sie, wenn sie sich in produktive Einheiten organisiert, die aus sich heraus in vernünftigem Maß und vernünftiger Qualität Produkte in die Gesellschaft abgeben: Landwirtschaft als Organismus. Diese Art des Produzierens fordert eine entsprechende Wirtschaft beim Übergang ihrer Produkte in den Wirtschaftskreislauf. Sie kann nicht existieren, wenn sie nur anonyme Rohstoffe für Terminbörsen produziert. Sie braucht eine assoziative Wirtschaft, die ihr entgegenkommt. Gleichzeitig fördert sie diese Art des Wirtschaftens, weil sie die Naturgrundlage in die wirtschaftliche Tatsächlichkeit, in die Preisbildung, bringt. Eine solche willentliche Herausbildung von respektierenden Wirtschaftsräumen um einen Hof oder für eine ganze Region nennen wir assoziative Zonen. Das bedeutet, dass wir in der Wüste der Marktwirtschaft, in der wir leben, Schutzzonen für ein neues, ein assoziatives Wirtschaften bauen können.
Landwirtschaft als Ferment für eine menschliche Wirtschaft

Steiner fragt außerdem, wie eigentlich die Wertbildung der „geistigen Arbeiter”, Lehrer, Beamten usw. wirtschaftlich in ein Verhältnis zur bäuerlichen Arbeit, von der ja alle ernährt werden, treten kann. Die Antwort ist einfach: Es müssen alle zu essen haben und diese Nahrung kommt vom Boden. Die Summe aller Werte einer Wirtschaft muss sich auf den fruchtbaren Boden beziehen. Weltwirtschaftlich gesprochen ist das die Summe des bearbeiteten Landes durch die Anzahl aller Menschen auf der Erde. Der Produktionswert einer solchen Durchschnittsfläche pro Person, ob für einen Hof oder eine Volkswirtschaft, kann ermittelt werden. Diese Zahl, zum Beispiel 5.000,– Franken landwirtschaftlicher Rohertrag pro Hektar für die Schweiz, ist das Maß für alle anderen wirtschaftlichen Werte. Wenn der Gesamtwert einer Wirtschaft die Relation zu diesem Grundmaß verliert, dann verbraucht sie Werte, die sie eigentlich nicht hat – sie ist nicht nachhaltig.
Das sehen wir an der heutigen Wirtschaft, sie ist weder nachhaltig, noch zukunftsstiftend, am deutlichsten zu spüren am Raubbau, den sie an der Natur betreibt. Raubbau wird aber auch sozial, kulturell und geistig begangen, und in weiteren Dimensionen, nur weniger gut dokumentiert. Die ökologische Dimension geht uns Landwirte besonders an, sind wir doch an der Nahtstelle von Wirtschaft und Natur tätig. Ich glaube, dies ist der Grund, weshalb heute eine Art Hypersensibilität in Bezug auf Landwirtschaft und Ernährung herrscht. Viele gesellschaftliche Fragen hängen irgendwie mit der Landwirtschaft zusammen.
Doch geht es dabei nicht um Landwirtschaft im engeren Sinne: Viele Menschen spüren heute, dass unsere Werte, insbesondere die wirtschaftlichen Werte, hohl und sinnlos sind. Dieses ungute Lebensgefühl findet eine Projektionsfläche in der Landwirtschaft. Wir spüren, dass die Landwirte eine Art Hüterfunktion haben im Verhältnis zur Natur, zur Schöpfung, zu der Dimension des Seins, die nicht in unserer vollen Verfügung steht. Es ist eine Sorge und Sehnsucht nach dem Unverfügbaren, die viele Menschen innerlich bewegt: Das Leben soll nicht der Wirtschaft gehören, sondern die Wirtschaft soll dem Leben dienen. Aus dieser Perspektive ist die Landwirtschaft nicht das Opfer der durchrationalisierten Wirtschaft, sondern der gesellschaftliche Ort, an dem das Ungleichgewicht spürbar wird, Landwirtschaft offeriert die Möglichkeit der Selbstbesinnung und des Umdenkens, hält der durchökonomisierten Gesellschaft den Spiegel vor.
Die Agrikultur geht heutzutage daher über die Kultivierung der Natur hinaus in Richtung Kultivierung des sozialen Organismus und des wirtschaftlichen Verhaltens. Assoziative Wirtschaft und ähnliche Ansätze können Maß und Sinn in unser wirtschaftliches Handeln bringen. Umsichtiges, den Gesamtzusammenhang berücksichtigendes Wirtschaften hat in der (Öko-) Landwirtschaft einen besonders günstigen Boden. Rudolf Steiner forderte daher zu Recht, die ganze Wertbildung der Wirtschaft auf die Ertragskraft des Bodens zu beziehen. Eine solche Ökonomie der Landwirtschaft wäre eine Art Leitbild für Wirtschaften überhaupt. Wir Landwirte haben nicht nur zu klagen und Preise einzufordern, sondern wir haben etwas zu entwickeln und zu geben, das wie ein Ferment für die Gesellschaft und Wirtschaft kultivierend wirken könnte.
Autor
Ueli Hurter, Leiter der Sektion für Landwirtschaft Goetheanum Dornach, Hügelweg 59, CH-4143 Dornach, Schweiz, landwirtschaft(at)goetheanum.ch