Schwerpunkt

Betriebsindividualität Gestalten

Ein gesunder Bauernhof ist weniger ein Agrobusiness mit guten Erträgen des investierten Kapitals, sondern ein Betrieb mit den Funktionen eines gesunden, lebendigen Menschen. Dieses Bild des Menschen leitet die Inspiration zur Gestaltung des landwirtschaftlichen Betriebes in einer zusammenhängenden Einheit von Identität, Bedeutung und Selbstregulation. Dazu müssen Haut und Herz, zusammenwirkende Organe und wichtige Beziehungen mit der Außenwelt bearbeitet werden. Und man arbeitet zusammen mit dem Wesen des Betriebs, einer Art „Betriebshüter“. Auf einem solchen Betrieb bemerken Besucher die besondere Atmosphäre. Für Betriebsleiter und Mitarbeiter scheint es mehr und mehr von selbst zu laufen, Aufträge und Kunden kommen, es scheint, als hätte der Betrieb Flügel bekommen.

Nach dem Grund meiner Begeisterung für die biodynamische Landwirtschaft gefragt, nenne ich sofort das Konzept der Betriebsindividualität. Darin geht die biodynamische Landwirtschaft einen Schritt weiter in Richtung zukunftsfähige Landwirtschaft, als der biologisch-organische Landbau. Das Lebendige steht hierbei im Zentrum, der Mensch und die geistigen Welten haben eine explizite Rolle. Als Biologin bin ich daran gewöhnt, das Wunder lebendiger Organismen zu spüren und deren Vermögen zur Selbstregulation. Deren Vorgehensweise zur Abstimmung von Innen- und Außenwelt kann ich in meiner praktischen Arbeit als Betriebsgestalterin und landwirtschaftlicher Coach sehr gut umsetzen. Und: Dieses Prinzip von Abstimmung und In-Zusammenhang-bringen ist heutzutage topaktuell.

Beispiel der Beziehung zwischen räumlicher und sozialer Gestaltung

Arbeiten am Betriebsorganismus

Bauern fangen aus unterschiedlichen Gründen damit an, ihren Betriebsorganismus zu bearbeiten. Der Eine macht dies selbstständig, der Andere holt sich dazu Begleitung und der Dritte macht es in einer größeren Gruppe oder bei festlichen Gelegenheiten. Der Anstoß, sich dem Thema Betriebsorganismus zu widmen, ist oft eine Veränderung, betrifft ein neues Feld, einen neuen Mitarbeiter oder eine neue Betriebsaktivität. Oder, irgendetwas läuft nicht gut in den Arbeitsprozessen, zu wenig Einkommen, zu viel Arbeit, Streit zwischen jüngerer und älterer Generation. In meinem Arbeitsheft ‘Gezond landbouwbedrijf’ (Gesunder Landbaubetrieb) beschreibe ich diverse Methoden zur Betriebsuntersuchung. So ist es bei Vandalismus auf dem Betrieb zum Beispiel wichtig, an der Haut des Betriebs zu arbeiten.

Der Organismus als Basis der Betriebsgestaltung

Der Betriebsorganismus kann, wie der Organismus des Menschen, auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Gerne arbeite ich dabei mit folgender Einteilung:

  • räumlich: das Herz, die Haut (= Betriebsumrandung), die Organe (= Betriebszweige) und deren Verbindungen untereinander;
  • Lebensprozesse: Stoffwechsel (= In- und Outputs), Wachstum und Entwicklung (Betriebsbiografie), Selbstregulierung (Re­silienz);
  • Identität und Verbindung mit dem Betriebswesen.

Diese drei Ebenen sind verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Die räumliche Gestaltung wirkt auf die Lebensprozesse und umgekehrt. Wenn Unternehmer etwas ändern wollen, dann können sie mit der Ebene anfangen, die für sie am naheliegendsten ist. Alle drei Ebenen parallel zu bearbeiten ist natürlich besonders effektiv.

Das Herz des Betriebes

Beginnen wir beim Herz, dem Zentrum unseres Körpers, dem Ort, wo wir uns am komfortabelsten fühlen und uns verbinden können mit den Menschen und mit dem Betrieb. Meist haben Bauernhöfe mehr als ein Herz. Auch können unterschiedliche Personen unterschiedliche Orte als Herz eines Betriebes bezeichnen: den Küchentisch, den Innen-Hof, den Kompostplatz, den Milchviehstall, die Sortierscheune, das Präparatehäuschen. Im Winter kann sich das Herz woanders befinden als im Sommer. Für all diese Herzen gelten mehr oder weniger die gleichen Regeln, um ein angenehmes Herz daraus zu machen. Ein angenehmes Herz

  • bietet Ruhe zur Verbindung mit den Menschen, zu dir selbst und dem Betrieb;
  • ist angenehm trocken, nicht zugig, schön;
  • ist ein versorgter Platz mit Aufmerksamkeit (braucht nicht geschmückt oder perfekt geputzt zu sein);
  • ist ein Raum um dich – für den einen mit Aussicht, für den anderen mit Hülle;
  • hat eine mehr oder weniger runde Form (sicher kein Korridor).

Die Haut des Betriebs

Auf gleiche Weise wie beim Herz können wir die Haut des Menschen betrachten und darin Inspiration finden für die Gestaltung der Haut des Betriebes. Die Haut des Menschen ist durchlässig für manche Sachen (Schweiß, Atmung) und für andere nicht (Regen). Mit den Menschen auf dem Betrieb bespreche ich, ob die Betriebshaut, die Umgrenzung durchlässig ist für das, was gewünscht wird oder eher nicht: Wind, Sonne, Pestizide, Vieh, Rehe, Besucher, Diebe, und so weiter. Daraus kann eine effektive Umrandung entstehen: zum Beispiel mit hohen Bäumen, Lücken zum Einblick, niedrigen Hecken, Gräben, Zäunen, Weiderost, Toren oder einem Willkommensschild. So wie die Haut samt Frisur und Kleidung eine Visitenkarte des Menschen ist, so zeigt die Betriebsumrandung die Betriebsidentität gegenüber der Außenwelt: Zieht sie die richtigen Menschen an? Wollen wir es anders?

Beispiel für die Versorgung des Herzens

Die Organe

Ein Betrieb als Organismus hat einen oder mehrere Betriebszweige als Organe, denken Sie an Milchkühe, Käserei, Bienen, Hofladen, Hecken. Die Organe sollten aufeinander abgestimmt sein, damit sie ihren Teil zum Gemeinsamen beitragen. Wenn ein Unternehmer überlegt, mit einem neuen Betriebszweig anzufangen, machen wir zuerst eine ‘Duo-Liste’ wie in der Abbildung Bienen. In dieser Liste bilden wir ab, was der neue Betriebszweig für den Gesamtbetrieb bedeuten wird. Welchen Beitrag liefert dieses neue Organ und, gleich wichtig, was erfordert dieses neue Organ vom Betrieb? Wenn die erste Spalte eine schöne Ergänzung des Betriebes ist und in der zweiten Spalte machbare Vorschläge aufgelistet sind, lohnt hinsichtlich des potenziellen Organs die weitere Recherche der technischen Details wie Kosten und Einnahmen. Wir beginnen also nicht mit einer Liste von Kosten und Einnahmen, sondern mit der Liste der Bedeutungen. Betriebsorgane an sich brauchen nicht unbedingt rentabel sein. Sie müssen aber ihren Beitrag liefern zur Zielsetzung des Gesamtbetriebes. Zum Beispiel sind Honigbienen oder Mastrinder als isolierte Organe selten rentabel, aber von großem Wert für den Gesamtbetrieb.

Beispiel eines Betriebsstoffwechsels

Stoffwechsel

Mit dem Stoffwechsel des Betriebes meine ich die Umsetzung in den Betrieb eingeführter Produkte und Dienste in ausgeführte Produkte und Dienste. Damit erhält ein Betrieb seine Bedeutung in der Außenwelt und es wird Geld verdient. Ich verstehe Stoffwechsel auch im weiteren Sinne: zum Beispiel gehören Arbeitsglück, Wissen und Seelenleben (Astralität) dazu. Um für Studenten oder Bauern diesen Stoffwechsel abzubilden, gehe ich wie in der Abbildung zum Ziegenbetrieb dargestellt vor: Durch die Analyse des Stoffwechsels innerhalb des Betriebes können Sinnhaftigkeit, Bedeutung und ökonomische Gesundheit herausgearbeitet werden. Viele Betriebe verschenken unbemerkt viel an die Außenwelt, aber beschweren sich über eine hohe Arbeitsbelastung. Ich schaue dann zusammen mit den Menschen des Betriebes welche Organe wegfallen können, oder welche Gaben zu Einnahmen umgewandelt werden können. Gibt es Organe, mit denen ich auf mehrere Arten Geld verdienen kann, wie zum Beispiel Hühner? Sie bieten Eier, Fleisch, Insektenbekämpfung und sind Modell für einen Zeichenkurs. Sind die Werte beim Tauschhandel gleichwertig? Was erhält ein Praktikant an Kenntnissen, Erfahrung, Kost und Logis – was bietet er an Arbeit und Wissen? Ist es ausgeglichen, sollte eine der beiden Seiten eher etwas spenden. Muss Praktikantenlohn oder Lehrgeld bezahlt werden? Die Aufgaben angepasst werden?

Feinabstimmung

Ein gesunder Betriebsorganismus ist eine gut funktionierende Einheit der Organe untereinander und des Gesamtbetriebes in der Außenwelt. Abstimmung ist hier das Zauberwort. Dafür braucht es einen gegenseitigen Austausch einerseits zwischen den Organen inklusive der Betriebsleiter untereinander – und anderseits zwischen Betrieb und Umgebung. Ein Betrieb gewinnt erst Bedeutung im Kontext: durch Verkauf, durch Einkauf, durch Arbeitsplätze, durch Abfall, durch die gestaltete Landschaft. Es geht um die Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen. Über die Erstellung eines Betriebsschemas wie in Abbildung S. 18 kann man die jeweilige Bedeutung klären.

Von Organismus zur Individualität

Gesundheit ist mehr als nur ‘nicht krank sein’. Selbstregulation und Individualität sind wesentliche Bestandteile der Gesundheit im anthroposophischen Bild. Ein gesunder Mensch hat die Fähigkeit, sich an zahlreiche Umstände und Herausforderungen des Lebens anzupassen und dabei selber die Führung zu behalten (M. Huber 2014). Dies wird auch Resilienz genannt. Dies gilt genauso für einen gesunden landwirtschaftlichen Betrieb. Wie bei Menschen sieht man viele landwirtschaftliche Betriebe, die nicht ihr Potenzial nutzen, um zu einer Individualität zu kommen. Es fehlt Ihnen dann das Reflektierende, das Schöpfende und die bewusste Zusammenarbeit mit einem geistigen Wesen. Diese Merkmale eines gesunden, kreativen Menschen und die bewusste Zusammenarbeit mit einem Betriebswesen sind die entscheidenden Schritte, um von einem Organismus zur Betriebsindividualität zu kommen (Fuchs, 2014; Isler, 2014).

Betriebsindividualität als Resonanzraum

Wenn Rudolf Steiner den Begriff ‘in sich geschlossene Individualität’ verwendet, weist er für mich nicht unbedingt auf einen Gemischtbetrieb hin, mit möglichst geschlossenem Stoffkreislauf. Viel wichtiger ist ein Betrieb als klare Einheit von Lebendigem, eine eindeutige Betriebsumrandung, interne Zusammenhänge, und eine eindeutige Vorstellung, mit der sich ein Wesen verbinden kann. Innerhalb einer solchen Lebenseinheit können nicht materielle Handlungen, wie z. B. Ausbringen der biodynamischen Präparate oder Eurythmie die menschliche Hingabe zum ganzen Betrieb durchdringen. Christoph Willer hat in LE 5-2018 beschrieben, wie die Präparate eine wichtige Rolle spielen bei der Verselbstständigung und bei der Bewusstwerdung des Betriebs als Ganzes und bei der Verbindung zwischen Erde und Kosmos. Nicht materielle Handlungen und die Arbeit an der Betriebsindividualität gehen also Hand-in-Hand. Das Eine geht nicht ohne das Andere!

Beispiel einer Duo-Liste für ein neues Betriebsorgan

In diesen zwei Listen wird untersucht, was ein neuer Betriebszweig zum Gesamtbetrieb beitragen kann, und, was er vom Gesamtbetrieb braucht. Wenn die linke Spalte gewünscht wird und die rechte umgesetzt werden kann, dann ist der neue Betriebszweig eine gute Idee. Diese Methode ist ebenfalls dafür geeignet, Betriebsorgane zu erkennen, die eventuell eingestellt werden können, wenn Betriebe zu viele Aktivitäten haben.Bienen auf dem Hof:

Was bringt es? Was braucht es?
Honig Pflegezeit
Wachs Bienenkenntnisse
Bestäubung Bienenstand
Verbindung Jahrrund Blumen mit Nektar / Pollen
Astralität Trinkwasser
Arbeitsfreude ...

 

Wie begegne ich dem Wesen des Betriebs?

Das Betriebswesen sehe ich als einen Betriebshüter und vergleiche dessen Rolle mit einem Schutzengel oder einer lokalen Göttin, so wie im alten Griechenland jede Stadt eine Göttin (Genius Loci) als Beschützerin hatte. Man konnte ihr danken, wenn das Feuer begrenzt geblieben war oder man konnte um fruchtbares Land bitten. Das gab Unterstützung. Wenn ich einen Betrieb besucht und mich umgesehen habe, den oder die Betriebsleiter getroffen habe, dann suche ich danach die Ruhe der Meditation. Ich überschaue, was mir gerade begegnet ist und frage mich, ob es ein Betriebswesen gibt, dass sich mit dem verbunden hat, was hier auf dem Betrieb gewollt wird. Häufig meldet sich dann ’jemand’, und ich führe ein inneres Gespräch: darüber wie es läuft im Betrieb, darüber, was gebraucht wird, darüber, was die Menschen tun könnten.

Ich habe bemerkt, dass diese „Betriebswesen“ einer gewissen Klarheit bedürfen, bevor sie mitmachen können: Klarheit über die Abgrenzung der verantworteten Einheit, über die Bedeutung des Betriebs in der Gesellschaft, über die Richtung, in die der Betrieb sich entwickeln soll, darüber, welche Menschen sich dafür einsetzen möchten. Klarheit über den Wunsch Kontakt zu haben, oder eher nicht. Wenn einer oder mehrere dieser Aspekte unklar sind, wird das Wesen verwirrt und steigt aus: Ich verliere den „Gesprächspartner“, finde lediglich vage Fragmente.

Ich habe Beispiele erlebt, bei denen es wichtig war, die Veränderungen, zum Beispiel einen neuen Betriebsleiter, mit dem Betriebswesen zu kommunizieren und es zu bitten, weiter mitzumachen. Die Betriebsleiter informieren also bei Veränderungen nicht nur die Beziehungen in der Gemeinschaft, sondern auch das mit dem Betrieb verbundene Wesen.

Bei der Gestaltung eines Betriebes unterstütze ich die Suche nach einem Platz, an dem es dem Betriebsleiter leicht fällt, in Kontakt zu treten mit dem Betriebswesen. Hier und da ist dies im Herzen des Betriebes, aber genauso oft an einem entfernten, stillen Platz, an den man eine Bank stellt: eine Art Nabelschnur-Platz zwischen dem physischen Betrieb und dem Geistigen.

Begriffsverwendung

  • Betriebsidentität = das Besondere, das Charakteristische, das Eigene des Betriebes.

  • Betriebsorganismus = der landwirtschaftliche Betrieb als zusammenhängende Einheit, mit Merkmalen eines lebendigen Organismus mit Organen und Lebensprozessen, Austausch mit der Umgebung, Bedeutung, usw.

  • Betriebsindividualität = der landwirtschaftliche Betrieb als Organismus, aber mit dem Fokus auf die (potenziellen) Merkmale des lebendigen Menschen: Selbstbewusstsein, mit Selbstführung und verbunden mit einem spirituellen Wesen als ‘Betriebshüter’.

  • Bei Hoforganismus liegt der Fokus hier auf der Gemeinschaft von Menschen, die den Betrieb tragen (Betriebsgemeinschaft).

  • Genius loci = die einzigartige Sphäre des Ortes, geformt durch Kultur und Natur. Früher wurde der Begriff verwendet für das mit dem Ort verbundene Wesen (=Genius).

Literatur

  • Fuchs, N: Evolutive Agrarkultur. Verlag Lebendige Erde, 2014

  • Hüber, M, 2014, Institute for Positive Health

  • Isler, R: Beiträge zum Landwirtschaftlichen Kurs von Rudolf Steiner. Hg. Ulrike Remer, 2014

  • Steiner, R: Landwirtschaftlicher Kurs, 1924 (Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft)

  • Willer, C: Vom Betriebsorganismus zur Landwirtschaftlichen Individualität. LE 2018/5 p.20–23.

Joke Bloksma

ist Biologin und Dozentin in der biodynamischen Ausbildung Warmonderhof. Sie unterstützt Höfe bei ihrer Gestaltung und begleitet die biodynamischen Hofentwicklungsgespräche in den Niederlanden. > www.jokebloksma.nl

Das Buch ‘Gezond Landbouwbedrijf’ (= Gesunder Landbaubetrieb) ist ein Arbeitsheft für Landwirte, um ihren Betrieb zu einer zusammenhängenden, lebendigen Einheit mit eigener Identität zu gestalten, inspiriert von der Metapher des Betriebes als gesunder Mensch. Es betrifft Gestaltung, Zusammenarbeit, Abstimmung auf Innen- und Außenwelt, Arbeitszufriedenheit, Atmosphäre, Identität und verbindet die stoffliche, die soziale und die spirituelle Ebene des Betriebes. Mit Beispielen und Übungen auf Niederländisch als Download frei verfügbar oder gedruckt: www.jokebloksma.nl