Schwerpunkt

Die Geburtsstunde der biodynamischen Landwirtschaft

Landwirtschaftlicher Kurs 1924

von Ueli Hurter

Wir gehen auf das 100-jährige Jubiläum des Landwirtschaftlichen Kurses zu. Im Juni 1924 hat dieser legendäre Kurs auf dem Gut Koberwitz, damals im Osten Deutschlands heute in Polen gelegen, stattgefunden. Er ist durch Fragen von Landwirten zustande gekommen, die sich aufgrund ihrer Beobachtungen und Erfahrungen Sorgen über die Nachhaltigkeit der Bewirtschaftung für die Böden und über die Qualität der Nahrungsmittel gemacht haben. Sie traten mit ihren Fragen an Rudolf Steiner heran, der nach längerem Zögern schließlich zusagte, auf die Fragen eingehen zu wollen. In acht Vorträgen entwickelte er dann seine Gesichtspunkte zur Landwirtschaft, die dann später den Namen biologisch-dynamische Landwirtschaft erhalten hat. Die Zuhörer waren begeistert von der tiefen und weiten Perspektive und von den praktischen Angaben, die sich für ihr Arbeitsgebiet eröffneten. Es war eine festliche Atmosphäre in diesen Tagen und es herrschte die Stimmung, dass mit diesem Kurs etwas Neues geboren wird.

Der Kurs fiel in eine Zeit, die unter manchen Aspekten dramatisch war für die Landwirtschaft. Es herrschte Inflation, öfters ein gesellschaftliches Chaos in den Nachkriegswirren und es brach eine neue agronomische Ära an: Der in der aufstrebenden Industrie künstlich synthetisierte Stickstoff kam auf die Höfe und die Felder. Weder die Böden noch die Pflanzen waren darauf vorbereitet und so kam es zu wucherndem Wachstum, öfters zu kranken Beständen und auch zu grassierenden Seuchen in den Ställen. Natürlich war die Qualität aus einer solchen Erzeugung schlecht. Es war also eine kritische Situation am Übergang von einer traditionellen Landbebauung zu den ersten Anfängen von industrieller Landwirtschaft, die auf betriebsfremden Inputs basiert. An diesem Punkt hakte Steiner ein und entwickelte eine agronomische Lehre vom geschlossenen Betriebsorganismus. Dieser generiert seine Produktionsleistung und sein Gesundheitspotenzial erstens aus einem geschlossenen Futter-Dünger-Kreislauf, zweitens aus einer innerbetrieblichen Vielfalt bis in die Landschaftsgestaltung und drittens regt Steiner an mit neu erfundenen Düngerpräparaten das Leben im Boden und allgemein im Betrieb zu stimulieren und zu dynamisieren, für quantitativ und qualitativ gute Lebensmittel.

Die Entwicklung zu einer weltweiten Bewegung

In den 100 Jahren seit dem Kurs von Rudolf Steiner in Koberwitz hat sich gezeigt, dass diese Prinzipien universell gültig sind unter der Voraussetzung, dass sie für jeden Ort, für jedes Klima, für jeden Hof angepasst und individualisiert werden. Aus der kleinen Gruppe von ca. 130 Menschen, die am Kurs teilgenommen haben, ist bis heute eine weltweite Gemeinschaft geworden. Es sind einige zehntausend Menschen, die mit Biodynamik und Demeter einen wesentlichen Teil ihres Lebens bestreiten, sei es als Forschende und Berater:innen, sei es als Landwirt:innen, Gärtner:innen und Winzer:innen, sei es als Verarbeiter:innen und Händler:innen, sei es als Netzwerker:innen und Kommunikator:innen.

Da ist zum Beispiel die Initiative von Benita Shah in Nordindien: Sie hat mit ihrem Unternehmen SUPA (‚Steiners universal Philosophie for Agriculture‘) die Kunst des Kompostierens und die Präparatearbeit in viele hundert Dörfer in den steilen Tälern des südlichen Himalaya-Abhanges gebracht. Bis heute sind durch ihre Beratungen über eine Million präparierte Komposte entstanden. In Mittelindien ist das Kollektiv Timbuktu von ‚Bablou‘ und Mitarbeiter:innen initiiert worden, wo eine kahle Landschaft wieder grün geworden ist und 5.000 Familien bessere Lebensbedingungen haben, basierend auf der biodynamischen Landwirtschaft. Aus dem Maikalprojekt in Mittelindien kommt die Biobaumwolle, die von der Schweizer Firma Remei unter anderem in die Naturaline-Kollektion von Coop Schweiz verarbeitet wird. Diese Arbeit unter der Regie von Patrick Hohmann war immer inspiriert von der Biodynamik und der assoziativen Wirtschaft.

Sekem ist eine Initiative in Ägypten. Gestartet auf 80ha Wüstenboden außerhalb von Kairo, wurde mit Hilfe von Grundwasser das Leben in die Wüste gebracht, mit Heckenpflanzungen, Kleeanbau und einer Kuhwirtschaft, um den Boden für Kräuter und Gemüseanbau zu bereiten. Aus diesen Anfängen hat sich Sekem zu einer großen Gemeinschaft von etwa 2.000 Menschen entwickelt, mit Wirtschaftsunternehmen, einer Schule und Gesundheitsversorgung für die Mitarbeitenden und ihre Familien, mit einer Universität mit nachhaltiger Orientierung und als Treffpunkt und Hotspot für ein weltweites Netzwerk von Menschen, die sich für eine Transformation hin zu einer menschlicheren Gesellschaft engagieren.

In der Großstadt Rosario am Rio de la Plata in Argentinien leben viele arbeitslos gewordene Landarbeiter:innen in Slums. Sie werden in der Pampa nicht mehr gebraucht, weil die Viehwirtschaft vom gentechnologischen Sojaanbau, der industriell betrieben wird, verdrängt wurde. Durch Enrico Lattuca, in Zusammenarbeit mit den Stadtbehörden, ist für diese entwurzelten Menschen eine Initiative entstanden, Stadtgärten anzulegen, und mit einer sinnvollen und eigenständigen Arbeit einen Teil der Nahrung für die Familie selbst zu erzeugen. Die Inspirationskraft für diese Arbeit schöpft Enrico Lattuca aus dem Landwirtschaftlichen Kurs und der Biodynamik. Diese ‚Huertos urbanicos‘ existieren inzwischen auf einer Fläche von rund 100 Hektaren, haben verschiedene Preise gewonnen und wirken als inspirierende Beispiele für viele andere Städte.

Das Innovationspotenzial der Biodynamik

Von den ersten Tagen an wurde in der biodynamischen Bewegung geforscht. Zuerst waren es einfache Vergleichsversuche, die die Bauern und Bäuerinnen mit den Berater:innen zusammen direkt auf den Höfen und Gütern anlegten. Am Forschungsinstitut des Goetheanum wurde unter Ehrenfried Pfeiffer an Qualitäts- und Züchtungsfragen gearbeitet. Es kam zu Gründungen von Forschungsinstituten in Deutschland, Holland, Schweden und den USA. In der Schweiz wurde das FiBL, Forschungsinstitut für biologischen Landbau, gegründet, und zwar im Zusammenhang mit den Anfängen des DOK-Versuches. In diesem Feldversuch, der durch einen Antrag im Nationalrat auf den Weg gebracht worden ist, werden die drei Anbausysteme D = dynamisch, O = organisch, K = konventionell verglichen. Gerade wurden die zusammengefassten Ergebnisse nach 42 Jahren Versuchsdauer veröffentlicht. Sie zeigen deutliche Unterschiede der drei Systeme. Die biodynamische Variante zeigt eindrückliche Resultate in den Bereichen Lebendigkeit der Böden, Nachhaltigkeit und Klimabilanz.

Züchtungsforschung war von Anfang an ein Thema in der biodynamischen Bewegung und in den letzten Jahrzehnten ist eine leistungsfähige Zusammenarbeit mit eigenen Züchtungen, Vermehrungen und dem Saatguthandel entstanden. Ein Phänomen: In denselben Jahrzehnten als die mittelständische Züchtungsbranche erodierte und in die multinationalen Monopolisten für Saatgut aufgegangen ist, keimte und wuchs die biodynamische Saatgutarbeit. Heute kann in vielen Ländern Europas fast der ganze Saatgutbedarf für Höfe und Gärtnereien aus biodynamischer Zucht und Vermehrung abgedeckt werden. Das Pflanzenbild, das im Landwirtschaftlichen Kurs entwickelt wird, als ein offenes Wesen bis in die kosmischen Höhen und die tieferen Schichten der Erde, wirkt inspirierend und führt zu hochkarätigen Innovationen von Sorten. So ist zum Beispiel über 60% der Bioweizenfläche in der Schweiz mit der GZPK-Sorte Wiwa bestellt. Ein Zeugnis dafür, wie gut sich die Sorte in der Praxis bewährt.

Auf der ganzen Welt gibt es Einführungs- und Schulungskurse. Die grundlegenden und praktischen Elemente der Biodynamik werden als Opensource-Wissen weitergegeben. Die Bewegung versteht sich als lernende Gemeinschaft. Die jährliche Landwirtschaftliche Tagung am Goetheanum mit bis zu 1.000 Teilnehmenden aus über 40 Ländern ermöglicht den vielfältigen und vertiefenden Austausch. An vielen Orten sind freie Ausbildungen entstanden, jedes Jahr erhalten über hundert junge Menschen einen Lehrabschluss. Viele Ausbildungen sind heute staatlich anerkannt. Neu gibt es am Bodensee eine biodynamische Meisterausbildung. An einigen Unis gibt es biodynamische Module, z.B. an der Heliopolis Universität in Kairo, wo die Sektion für Landwirtschaft jedes Semester im Bachelor Lehrgang für ‚sustainable agriculture‘ zwei Wochen Biodynamik unterrichtet.

Besonders innovativ war die biodynamische Bewegung in dem Bereich Marke und Markt. Die Marke Demeter, die schon kurze Zeit nach dem Kurs ‚erfunden‘ wurde, hat heute eine starke Position im Bio-Handel. Sie ist der Botschafter vom Acker auf den Teller. Getragen und verwaltet wird die Marke nicht von einer Firma oder einer Stiftung, sondern von einer Markengemein­schaft, in der regional, national und international die Produzent:innen, Verar­bei­ter­:innen und Händler:innen die Richtlinien und den Auftritt erarbeiten und beschließen. Der Markt für Bioprodukte ist wesentlich aus biodynamischen Kreisen heraus aufgebaut worden, von Menschen, die inspiriert sind von dem ‚Nationalökonomischen Kurs‘ von Rudolf Steiner. Dieser wurde 1922 gehalten und aus ihm ist die ‚assoziative Wirtschaft‘ hervorgegangen.

Die innere Arbeit gehört genuin zur biodynamischen Bewegung dazu. Die Natur hat eine Innenseite, die sich der aufmerksamen Beobachtung erschließen kann. Die Kultivierung der Natur bedeutet eine große Verantwortung, die einer kontinuierlichen ethischen Fundierung bedarf. Und die existenzielle Herausforderung auf den Höfen ist oft so anspruchsvoll, dass nur innere Kraftquellen die weitere Arbeit ermöglichen. Der Landwirtschaftliche Kurs selbst kann Gegenstand einer vertiefenden Arbeit im Sinne einer eigendenkerischen Hervorbringung der Ausführungen Steiners sein. Das Miterleben des Jahreslaufes mit dem ‚Seelenkalender‘ von Steiner, der für jede Woche einen kurzen Spruch gibt, ist auf vielen Höfen am Anfang einer Arbeitsbesprechung ein Moment des Innehaltens. Eine persönliche meditative Arbeit wird von der Anthroposophie vielfältig angeregt, ist aber ganz freilassend in der persönlichen Pflege.

Impulsierung der Ökobewegung

Die Ökobewegung, die heute ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Sektor ist, war zur Zeit des Landwirtschaftlichen Kurses 1924 noch nicht existent. Sie hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. Es gehört zur Wirkensgeschichte des Landwirtschaftlichen Kurses, dass er bei einigen wichtigen Entwicklungsschritten der Ökobewegung Pate stand. Ein Beispiel ist das Buch „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson, das 1962 publiziert wurde und das als wichtiger Schrittmacher für das Ökobewusstsein in der breiten Gesellschaft gilt. Carson schildert darin die Wirkung von Agrarchemie, dabei ist der stumme Frühling keine Fiktion, sondern Realität in Regionen der USA, wo massiv Insektizide versprüht worden sind. Ein Fall war in Long Island, wo flächendeckend DDT aus den Flugzeugen gegen den Schwammspinner versprüht wurde. Dagegen haben Betroffene prozessiert, allen voran die beiden biodynamischen Gärtnerinnen Marjorie Spocks und Mary Richards. Der persönliche und fachliche Kontakt der zwei Biodynamikerinnen mit der Schriftstellerin ist eine wesentliche Quelle des Buches. Ein anderes Beispiel ist Philippe Matile, Professor für Pflanzenphysiologie an der ETH in Zürich, der am 22. Oktober 1966 den Artikel „Attackierte Lebensbasis: Grenzen der Kunstdüngerwirtschaft“ veröffentlichte. Er entfachte damit einen Sturm der Entrüstung und er musste sich sogar vor dem Bundesrat erklären. Wie konnte er als Wissenschaftler auf solche Behauptungen kommen? Er kam der Sache auf die Spur, als er eine Zeit lang auf dem biodynamischen Hof Breitlen in Hombrechtikon von Emil und Alice Meyer gewohnt hat und sah, wie es freudig wuchs und gedieh auf dem Hof, obwohl kein gekaufter Dünger auf die Felder kam. Auch hier war die Biodynamik Inspirator für ein neues Denken. Professor Matile war dann Mitbegründer des FiBL und gehörte zur Gruppe, die den DOK-Versuch auf den Weg brachte.

Zukunftsfragen

Für die nähere Zukunft sollen drei Themen genannt sein, die aktuell in der bio­dynamischen Bewegung bearbeitet werden. Das eine ist die Zusammenarbeit und gegenseitige Befruchtung von Forschung und Praxis. Die besten Lösungsansätze kommen öfters aus einer gewollten und geglückten Zusammenarbeit, Beispiele aus den letzten Jahren sind zum Beispiel die muttergebundene Kälberaufzucht oder die Verbesserung der Qualität der Präparate in der Herstellung und der Anwendung. Immer wichtiger wird die Fähigkeit, auf seinem Betrieb fein beobachten und aufgrund dieser Beobachtungen die richtigen Entscheidungen treffen zu können, gerade im Weinbau kann das existenziell wichtig sein. Damit kann man unabhängig von der App des Spritzmittelherstellers werden, die einem per Push-Meldung sagt, wann man Spritzen soll.

Ein nächstes ist, einen innovativen Umgang mit dem sich verändernden Klima zu finden. Landwirt:innen müssen auch zum Klimawirt:innen werden. Wie kann ich meinen Betrieb resilient machen? Wie verändern sich die Jahreszeiten? Was heißt das für die Böden, den Futterbau, die Bäume? Welche Sorten können mit Trockenperioden umgehen? Aber auch allgemein: Wie muss eine Landwirtschaft eingerichtet sein, damit sie nicht nur nicht klimaschädlich ist, sondern damit sie klimapositiv ist? Erfahrungen, Versuche und Berechnungen zeigen, dass die Biodynamik das Potenzial hat, positive Beiträge für ein gesundes Klima zu erbringen.

Ein weiteres Gebiet, was gerade in den Fokus kommt, ist der Ansatz einer umfassenden Gesundheitsleistung. Die Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und Böden sind interdependent voneinander abhängig. Weitere mögliche Pandemien, Antibiotikaresistenzen, immer weitere wachsende Gesund-heitskosten, verursacht auch durch Fehlernährung usw. zeigen den Bedarf an Food-­
Systemen, die eine positive Gesundheit für alle Lebewesen erzeugen. Ein integrales Gesundheitsmanagement für den ganzen landwirtschaftlichen Organismus gehört seit den Anfängen zur Biodynamik. Diese potenzielle Leistung soll besser erforscht werden, damit gezielter eine positive Gesundheitsleistung erzeugt werden kann.

Jubiläumsjahr

Für das kommende Jubiläumsjahr laufen die Vorbereitungen. Unter anderem wird noch vor dem Sommer ein Buch erscheinen: „Biodynamik!“ von Rudi Bind und Ueli Hurter, in dem leicht verständlich ein Bild und eine Geschichte der Biodynamik dargestellt werden. Dann wird die Landwirtschaftliche Tagung zum 100-jährigen Bestehen des Kurses vom 7. bis 10. Februar im Goetheanum stattfinden. Diese Veranstaltung ist öffentlich und für alle zugänglich. Außerdem wird es an Pfingsten auf vielen biodynamischen Höfen der Schweiz einen Tag der offenen Tür geben, an dem man regional einen Einblick in die Realität eines biodynamischen Betriebes erhält.

Autor: Ueli Hurter

Leiter Sektion für Landwirtschaft,
Goetheanum Dornach

www.sektion-landwirtschaft.org