Schwerpunkt
Heilkräfte aus dem Mikrobiom
Gesundheit und Ästhetik
von Dr. med Thomas Hardtmuth
Ein ganz wesentlicher Punkt zum Verständnis des Mikrobioms ist, dass es ein Teil der äußeren Natur und ein Teil unseres Organismus zugleich ist.
Redaktionell gekürzte Fassung des Vortrags von Thomas Hardtmuth i.R. der internationalen biodynamischen Konferenz in Dornach 2022: „Qualität biodynamisch!“
Das Studium der Mikroorganismen kann uns helfen, ein tieferes Verständnis für das Lebendige zu entwickeln. Bis in die Ästhetik hinein lässt sich zeigen, wie unsere Gesundheit mit der uns umgebenden Natur in Verbindung steht. Als eine Art Integral vereint der Mensch die im Zuge der Evolution entstandenen Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten der Natur in sich und steht dadurch als Mikrokosmos in einer koevolutiven Wechselbeziehung zum Makrokosmos. Unser Mikrobiom als verinnerlichte Ur-Biosphäre lässt sich als hoch sensibles Resonanzorgan unserer Lebensverhältnisse verstehen. Wie in der Makroökologie die hohe Biodiversität ein zuverlässiger Indikator für die Vitalität und Resilienz des Ökosystems ist, so ist auch ein vielfältiges Mikrobiom beim Menschen in aller Regel mit einer besseren Gesundheit verbunden.
Der Mensch als Integral der Natur
Ein Beispiel verdeutlicht diesen so wichtigen Punkt: In Analogie zu einer Erdkugel kann man das Bild der Fruchtblase betrachten, aus der sich der menschliche Embryo in einem Umstülpungsprozess herausformt. Erst umgeben die Stoffwechselkräfte den Embryo und ziehen dann im Laufe der Entwicklung in den Organismus ein und werden in den inneren Organen konserviert. Thomas Bosch beschreibt in seinem Buch „Der Mensch als Holobiont“ auf der rein biologischen Ebene, wie der Mensch letztlich ein Kompendium der ursprünglichen, mikrobiellen Ur-Biosphäre ist, in der es nur Bakterien und Viren gab. Die Plazenta ist die zum Organ gewordene Ur-Biosphäre dieses rein mikrobiellen Lebens. Alles, was der Mensch ist, bezieht er letztlich von der Erde, nicht nur in stofflicher Hinsicht. Aus spiritueller Perspektive können wir vom höheren, vom peripheren oder auch vom Erden-Ich sprechen. Die Weisheit der Erde zieht in den Menschen ein und wird dort veranlagt bzw. individualisiert.
Die Polarität zwischen Kopf und Gliedmaßen
Man kann diesen menschenkundlichen Elementarprozess an der polaren Gestaltung zwischen Kopf und Gliedmaßen verdeutlichen: Das Gehirn des Menschen ist das am meisten gegen die äußere Natur abgegrenzte Organ. Es ruht nicht nur in der festen Knochenschale des Schädels wie in einer Gruft, es hat auch drei Hirnhäute, wobei die äußerste, die Dura mater, fest wie Leder ist. Funktionell wird diese Isolation des Gehirns durch die Blut-Hirn-Schranke hergestellt. Sie sorgt durch die hermetische Abriegelung der Hirnnervenzellen gegen den Stoffwechsel dafür, dass wir völlig unabhängig von der äußeren Welt denken können. Wir haben also das Hirn als Konzentrat an Nervengewebe. Je weiter wir in die Peripherie gehen, also zu unseren Gliedmaßen, desto mehr fasern sich die Nervenstrukturen auf. Wir öffnen uns durch unsere Sinnesorgane, insbesondere durch die Haut, gegenüber der Welt.
Die Darmoberfläche nun mit ihren etwa 100 Quadratmeter Oberfläche kann man als einen verinnerlichten Erdboden mit seiner Flora betrachten. In deren Mikrobiom verschränken sich gewissermaßen die äußeren Naturprozesse mit der menschlichen Physiologie. Dieses Mikrobiom, das heute als Organ des Menschen verstanden wird, können wir als eine Erinnerung an die frühsten Phasen der Evolution verstehen, als eine Art Ur-Biosphäre, die sich in uns erhalten hat. In diesem Mikrobiom nehmen die vegetativen Nerven die ätherischen Kräfte auf einer weitgehend unbewussten Ebene wahr. Sie spüren nicht einzelne Bakterien oder Stoffwechselprozesse, sondern die Lebenskräfte, die wir in uns haben. Wir haben eine Art Kräftestrom zur Verfügung, der aus dem unteren Menschen wirkt, den wir aber meist nur bemerken, wenn er fehlt, zum Beispiel bei einer Depression.
Zusammenhang zwischen den mikrobiellen und den seelischen Vorgängen
Wir sprechen heutzutage von der Darm-Gehirn-Achse. Denken wir uns das Gehirn als umgestülpten Darm: Im Darm ist die Flüssigkeit innen, das Leben ist innen im Darm in Form des Mikrobioms. Nirgendwo in der Natur wimmelt es so von aktiven Mikroorganismen wie in unseren Därmen. Im Gehirn ist die Flüssigkeit außen, das Hirnwasser ist im Gegensatz zur Darmflüssigkeit das klarste Wasser in der ganzen Natur. In diesem Hirnwasser spiegelt sich sozusagen eine andere Form des Lebens: Gedanken, Vorstellungen und innere Bilder alles, was mit dem Er-Leben zu tun hat. Die beiden Begriffe Leben und Er-Leben sind sozusagen auch über einen Umstülpungsprozess miteinander verbunden. Und dieses rein ätherische Leben im oberen Menschen ist in gewisser Hinsicht ein umgestülptes mikrobielles Leben.
Das mikrobielle Leben im Darm hat eine innere Regsamkeit, die Tätigkeit der Gehirnzellen wird dagegen von außen, durch unser Wahrnehmen und unser Denken angestoßen. Das ungeformte, hoch bildsame und plastische, noch ganz junge Leben der Mikroorganismen steht uns durch das Gehirn als die „Substanz“ zur Verfügung, aus der wir unsere Gedanken formen. Aber als Menschen können wir nicht zulassen, dass die Mikroorganismen in unserem Darm sich weiterentwickeln. Denn wenn sich die Viren und Bakterien zu sehr nach der äußeren Naturgesetzlichkeit verhalten, dann entstehen sogenannte Biofilme, das sind die eitrigen, entzündlichen Beläge bei den verschiedensten Formen von Infekten wie Angina, Bronchitis u.v.m. In diesen Fällen beherrscht der Mensch das mikrobielle Leben nicht mehr richtig.
Wie wirkt dieses Mikrobiom nun in unser seelisch-geistiges Leben und unsere Denktätigkeit hinein bzw. was hat es mit dem Bauchhirn oder der Darm-Hirn-Achse auf sich? Das Mikrobiom ist ein Organ, das ganz nahe beim Ätherleib steht. Es ist quasi ein Kondensat des Lebens-Äthers. Dieser Ätherleib des Menschen ist voller heller, widerspruchsloser Gedanken, er ist der große Heiler in unserem Organismus, der immer wieder Gleichgewichtszustände herstellt. Wenn wir in ein fernes Land reisen, wo andere Ernährungsgewohnheiten herrschen, dann stellt sich unser Mikrobiom sofort um und passt sich den neuen Bedingungen an.
Auch das Denken ist im Grunde ein Heilungsprozess: Wir nehmen Dinge aus der Welt auf, die wir zunächst nicht verstehen, dann verarbeiten wir sie auf einer höheren Ebene und gelangen zu Erkenntnissen. Wenn wir Erlebnisse nicht richtig verdauen und integrieren, führen die Einflüsse der Außenwelt ein Eigenleben in uns. Ähnliches sind im weitesten Sinne auch die Krankheiten. Für ein gesundes Denken brauchen wir ein gesundes Mikrobiom. Eine der häufigsten Doppeldiagnosen in der Medizin ist das gleichzeitige Vorliegen von Verdauungsbeschwerden und psychischen Auffälligkeiten: Angstzuständen, Depressionen, ADHS. Wenn der Ätherleib ständig damit beschäftigt wird, all diese Dysbiosen – so nennt man die krankhafte, vor allem stress- und ernährungsbedingte Fehlzusammensetzung der Darm-Mikroben – auszugleichen, steht er uns beim Denken nicht gänzlich zur Verfügung. Ein gutes Bauchgefühl können wir nur mithilfe eines gesunden Mikrobioms erleben.
Mikrobiom und Immungedächtnis
Das Mikrobiom könnte man auch als lebendigen Teil des Gedächtnisses bezeichnen. So wie unser Ätherleib, auch Zeitleib genannt, Träger des Gedächtnisses ist, so nimmt das Mikrobiom hochsensibel alle Einflüsse aus dem Organismus und der Umwelt auf, verarbeitet sie und bewahrt sie auf. Alles, was wir tun und erleben, hat seinen Niederschlag im Mikrobiom. Unser Immunsystem moduliert und reguliert unser Mikrobiom über unzählige Faktoren. Wichtig dabei ist: Die Aktivität und Wachheit unseres Immunsystems ist unmittelbarer Ausdruck unserer Ich-Präsenz, unserer Aufmerksamkeit und Welt-Zugewandtheit. Mikrobiom und Immunsystem verhalten sich quasi komplementär: Je mehr verschiedene Keimkontakte Kinder in ihrer Umgebung haben, umso robuster entwickeln sich die Immunsysteme. Ein landwirtschaftlicher Hof ist der beste Ort, das kindliche Immunsystem auszubilden.
Erheblichen Einfluss hat psychosozialer Stress: Ausgrenzung, Demütigung, soziale Isolation und Einsamkeit wirken sich äußerst negativ auf das Mikrobiom aus.
Mikrobiom und Landwirtschaft
Ähnlich verhält es sich in der Landwirtschaft, in der jeder Hof wie unser Leib auch ein Organismus mit einem ganz individuellen Mikrobiom ist, dessen Zusammensetzung von unzähligen Faktoren abhängt. Wir wissen nun einiges darüber, wie sich eine biologisch-dynamische Landwirtschaft auf das Mikrobiom des Bodens auswirkt. Sie steigert die mikrobielle Diversität und verringert damit die Tendenz zu mehr uniformen, auch parasitären Monokulturen. Sie fördert die Entgiftung und reduziert die Dispersion (Ausbreitung, z. B. von Schadstoffen). Dasselbe trifft für gesunde Darm-Mikrobiome bei entsprechender Ernährung zu. Wir sprechen von Kolonisations-Resistenz, wenn durch die ganz eigene Signatur des Mikrobioms sich nichts Fremdes entfalten kann. Die Böden in der ökologischen Landwirtschaft sind nicht nur reicher an Mikroben-Arten; sie enthalten insgesamt auch (32 bis 84 %) mehr mikrobiellen Biomassekohlenstoff und mehr mikrobiellen Biomassestickstoff als herkömmliche Systeme. Einfach ausgedrückt, sind diese Böden lebendiger, gesünder und langfristig wirtschaftlicher.
Diese gesundende Wirkung überträgt sich in gewisser Hinsicht mit der Ernährung auf unser Darmmikrobiom. Für dessen Qualität spielen aber noch viele andere Faktoren eine Rolle. Mit dem Verlust an mikrobieller Diversität steigt z. B. das Risiko für Infektionserkrankungen und damit auch für die Ausbreitung von Seuchen. Nahezu sämtliche chronischen Krankheiten sind mit dem Verlust der Diversität und Individualität des Mikrobioms verbunden. Jüngste Studien zeigen, dass insbesondere die Individualisierung des Mikrobioms der beste Gesundheitsschutz ist (Wilmanski 2021). Und es sind besonders die modernen Zivilisationserkrankungen wie Krebs, Allergien, Autoimmunerkrankungen, psychische und neurodegenerative Erkrankungen, die eine Neigung zur Ent-Individualisierung des Mikrobioms bzw. zur Uniformität zeigen. Für die Gesundheit folgt daraus: Wir müssen die richtigen Dinge zu uns nehmen, geistig, seelisch und über die Ernährung, sowie sie richtig verdauen, sie uns auf individuelle Weise aneignen und einverleiben.
Ästhetik und Mikrobiom
Auf der rein biologischen Seite lehrt uns das Mikrobiom, das alte bio-mechanistische Kausaldenken zu überwinden und in die Welt des rein Lebendigen vorzudringen, wo reine Dynamik herrscht. Auf der geisteswissenschaftlichen Seite ist es der Begriff des Ätherischen, der sich mit der Naturwissenschaft verbinden muss. Das Schöne lebt immer von der Angemessenheit, wie das Einzelne zum Ganzen steht. Das ist in der Natur, in der Kunst aber auch bei der Gesundheit und dem Mikrobiom der Fall: ein ausgewogenes individuelles Gleichgewicht mit eigenem Charakter oder, wie Rudolf Steiner es ausdrückte, etwas, was in sich abgeschlossen ist, was gewissermaßen schon eine ganze Welt in sich trägt. Das trifft auch für einen landwirtschaftlichen Betrieb zu.
Bei der Suche nach den Quellen des Schönen stoßen wir im Grunde auf das Licht, nicht im physikalischen Sinne, sondern als die Qualität, die alles zur Erscheinung bringt. Wo das Licht der Sonne hinwirkt, da finden sofort verschönende und gesundende Prozesse statt. Die blühenden und heilenden Pflanzen zeigen es uns ja unmittelbar. Von der Sonne gehen nicht nur Licht und Wärme aus, sondern eine schöpferische, erneuernde Kraft, die auf die Mikroorganismen unmittelbar wirkt. Die Viren in der Atmosphäre werden durch das Sonnenlicht regelrecht geformt, ihre Gene werden immer wieder aufgelöst und neu zusammengesetzt, sodass Viren zu Impulsgebern der biologischen Entwicklung, der Evolution werden und mit für den Artenreichtum sorgen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Mikrobiom kann man wie den Ätherleib als eine Art Bindeglied zwischen Leib und Seele verstehen. Es zeigt uns, wie wir durch unser Verhalten gegenüber Pflanze, Tier und Mitmensch die direkten Gestalter dieses plastischen Organs sind und dass wir damit an den Quellen der Gesundheit direkt mitarbeiten. Das Junge, Frische, Reine und Gesunde entstammt der ätherischen Welt, das Lichtätherische ist dabei die Quelle aller Schönheit. Die Mikroorganismen stehen vor allem unter dem Einfluss des Lebens-Äthers, sie treten nicht sichtbar in Erscheinung. Durch sie wirkt die fast unerschöpfliche Stoffwechsel-Weisheit des Lebendigen und so bilden sie die biologische, organhafte Grundlage für die Erneuerungskräfte der Natur.
Autor:
Dr. med. Thomas Hardtmuth
Facharzt für Thoraxchirurgie, war u. a. bis 2020 Dozent für Gesundheitswissenschaften, Epidemiologie
und Sozialmedizin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, ist Autor mehrerer Bücher und
im Arbeitskreis Mikrobiologie am Goetheanum
Literatur
• Wilmanski T. et al. 2021: Gut microbiome pattern reflects healthy ageing and predicts survival in humans Nature Metabolism 2021 Feb;3(2):274-286. doi: 10.1038/s42255-021-00348-
Wilmanski T Rappaport N al: From taxonomy to metabolic output: what factors define gut microbiome health? Gut Microbes.. 2021 Jan-Dec;13(1):1-20. doi: 10.1080/19490976.2021.1907270.
• PMID: 33890557 PMCID: PMC8078686 DOI: 10.1080/19490976.2021.1907270
Buchtipp: Die Bedeutung der Mikroorganismen und Viren in Medizin, Evolution und Ökologie. Wege zu einer systemischen Perspektive. Salumed Verlag Berlin 2021